Tanzstunde

Geschichten mit romantischen Inhalten - teilweise angedeuteter Erotik
Forumsregeln
Schön, dass du hergefunden hast.

Damit es zwischen uns keine Missverständnisse gibt, lies bitte die Bedingungen, wenn du dich auf dieser Seite umschauen willst.

Diese Seiten enthalten unter anderem erotische Geschichten.

Wenn du dich nicht mit diesem Thema identifizieren kannst, musst du diese Seite umgehend verlassen.

Wenn dein Glaube, deine Herkunft, deine persönlichen Einstellungen oder sonstige Gründe dir verbieten, erotische
Geschichten lesen zu dürfen, fordere ich dich auf, umgehend eine andere Seite im Netz aufzusuchen.

Bist du nach den Gesetzen deines Landes nicht Volljährig, musst du diese Seite verlassen.

Wenn du jedoch Interesse an guten erotischen und nichterotischen, teilweise auch sehr
romantischen Geschichten hast, freue ich mich über deinen Besuch.
Ich wünsche dir viel Freude beim Stöbern und Lesen.
Ydalir
Administrator
Beiträge: 410
Registriert: Fr 8. Jan 2016, 23:32

Tanzstunde

Beitragvon Ydalir » Sa 9. Jan 2016, 15:50

Zugegeben, ich war schon ein wenig aufgeregt, aber auch neugierig, als ich an diesem trüben Sonntagmittag im August zur ersten Tanzstunde für Singles ging. Mehr aus einer Laune heraus, aber auch irgendwie auf Drängen meiner Tochter hatte ich diesen Schritt gewagt; beziehungsweise er wurde mir quasi aufgezwungen.

„Du musst endlich mal wieder unter Leute“, hatte sie in den letzten Monaten immer häufiger gesagt.

Und dann lag vor einigen Wochen, als ich von der Arbeit nach Hause kam, eine ausgefüllte Anmeldung auf dem Küchentisch. Meine Tochter hatte also dafür gesorgt, dass ihre Ermahnungen Realität geworden waren.

Jetzt stand ich im Foyer der Tanzschule und sah mich um. Meine letzte Stunde war über drei Jahre her. Das alte Gebäude war diesem recht pompösen Neubau gewichen. Vom alten Charme war nichts erhalten geblieben – leider.

Die Räume waren mindestens doppelt so hoch und in der Größe um bestimmt mehr als das Vierfache gewachsen. Klare architektonische Strukturen verliehen dem Ganzen zwar eine moderne Eleganz, strahlten aber auch etwas Kühles aus. Irgendwie vermisste ich schon die Gemütlichkeit von früher, als ich hier noch mit meiner Frau zum Tanzkreis für Paare gegangen war.

Verstohlen beobachtete ich dabei auch die Menschen um mich herum. Nicht ein bekanntes Gesicht konnte ich ausmachen. Plötzlich sprach mich eine Stimme von hinten an.

„Jan? Jan, bist du es?“

Ich drehte mich erschrocken um und sah Tanja vor mir stehen. Eine Antwort von mir war nicht mehr nötig. Sie hatte mich sogar nach all den Jahren noch von hinten erkannt.

„Schön, dich zu sehen“, sagte sie leiser und streckte mir ihre Hände zur Begrüßung entgegen.

Nur zaghaft beantwortete ich ihren Gruß.

„Sag, wie geht es dir?“, wollte sie wissen und leitete mich immer noch mit gefassten Händen etwas abseits der Menge. „Wie geht es eurer … Verzeihung … deiner Tochter?“ Sie senkte über ihre Unüberlegtheit verlegen den Blick.

Nur sehr verzögert kamen mir die Worte über die Lippen. „Danke. Geht so. Svantje geht es soweit gut. Danke der Nachfrage.“

Ihrem Blick konnte ich entnehmen, dass sie zwar noch tausend weitere Fragen hatte, aber wohl jetzt erst einmal zu diesem Thema besser schwieg. „Komm. Wir können ja schon vorgehen. – Ach, was rede ich! Du kennst ja unsere neuen Räume noch gar nicht. Komm, ich zeig dir eben alles“, sprach es, ließ eine Hand von mir los und führte mich an der anderen haltend in einem Schnelldurchlauf durch den Neubau der Tanzschule. Das, was ich zu sehen bekam, machte schon Eindruck auf mich.

Wir kamen am Tresen vorbei. „Wenn du Durst hast, gilt immer noch die Regel von früher. Du nimmst dir das was du haben willst selbst, und legst das Geld in die Kasse. Klar? Wenn jemand was sagen sollte, dann verweise ihn an mich.“

Wie ich feststellen musste, hatte Tanja nichts von ihrer Spontanität eingebüßt. Im Gegenteil, sie kam mir sogar noch impulsiver vor.

Zum Schluss betraten wir dann den Tanzsaal, in dem ich nun gleich in Aktion treten würde. Ein kurzer Rundumblick bestätigte meine schlimmsten Befürchtungen; nein, sie wurden sogar noch übertroffen. Grob überschlagen saßen da zwanzig weibliche Wesen und genau acht Männer, mit mir neun. Na super.

Die Blicke aber, die mich trafen, sahen alles andere als neugierig und entspannt aus. Eher verwundert, fragend und hier und da auch abfällig.

„Was meinst du, kannst du denn noch?“, wollte Tanja wissen und zog mich immer noch an der Hand haltend hinter die Disco. Erst da ließ sie mich los und hantierte an einem hypermodernen Mischpult mit allerhand Reglern, Knöpfen und diversem anderen herum. Aus ihrer Handtasche kramte sie einen USB-Stick hervor und steckte ihn in die Anlage. Auf einem kleinen Monitor blätterte sich der Inhalt auf, sie fing an, durch die Auswahl an Musikstücken zu zappen. „Krieg ich noch ne Antwort?“, stupste sie mich an.

„Äh ... Ja ... Ach so. Ja“, stotterte ich sowohl unbeholfen als auch überwältigt von der Technik. „Walzer krieg ich wohl noch hin. Langsam und Wiener. Tango Grundschritt. Paso auf jeden Fall mehr, als vom Rest. Ansonsten muss ich halt ausprobieren“, ließ ich sie wissen und registrierte, wie sie zielsicher einen Paso doble aus dem Angebot fischte, einen Regler aufzog und mich wieder bei der Hand erfasste.

„Dann lass mal sehen“, feixte sie keck. „Du führst. – Ausnahmsweise.“

Grob sortierte ich mich schnell, wie damals die Folgen waren. „Mit Folge Null fangen wir an“, blitzte eine erste Erinnerung auf, die ich sie umgehend wissen ließ. „Dann die Eins und danach die Drei. Mit der Zwei hatte ich schon immer Probleme.“ Ich zählte kurz den Takt und flüsterte: „5 – 6 – 7 – 8“, und begann mit der Attacke.

Hatte ich tatsächlich über drei Jahre keinen Tanzschritt mehr gewagt? Mit Tanja im Arm kam es mir so vor, als läge meine letzte Stunde maximal einen Tag zurück. Wir flogen beinahe über das Parkett. Die Musik reichte für genau die von mir vorgegebenen Folgen, dann war es vorbei. Wir standen schnaufend auf der Tanzfläche, immer noch in Tanzhaltung.

Sekunden war es still, als plötzlich Applausregen einsetzte. Wir sahen uns um. In der Tür und an der Wand hatten sich anscheinend alle versammelt, die gerade da waren.

Während des gesamten Tanzes hatte ich nichts mitbekommen, hatte mich in die Musik und den recht aufwendigen Tanz mit seiner nicht unkomplizierten Schrittfolge ziehen und dann fallen lassen.

Jetzt war mir die Sache doch irgendwie unangenehm. Immerhin hatte mich Tanja auf diese Art geoutet, dass ich kein blutiger Anfänger mehr bin. Ob das für diese Stunde, ja sogar den gesamten Kurs von Vorteil sein würde, wagte ich nicht abzuschätzen.

Der Beifall verstummte, wieder erfasste Tanja meine Hand und zog mich mehr, als dass ich folgte, zurück zur Disco und griff zum Mikrofon.

„Guten Tag zusammen.“ Ihre kräftige Altstimme füllte den Raum. „Herzlich willkommen zur ersten Stunde des Singlekurses für Fortgeschrittene. Ich bin Tanja Siebers, Eigentümerin des Tanzcenters Siebers und für diesen Kurs Ihre Tanzlehrerin.“

Dann wandte sie sich mir zu, deutete auf mich und erklärte: „Dieser geschmeidige junge Mann ist Jan. Er hat bis vor drei Jahren hier getanzt. Unter anderem auch Lateinformation und Standardpaartanz. Deshalb eben meine recht eigenwillige Darbietung, zu der ich ihn gewissermaßen genötigt habe. Aber keine Sorge, er kann sich nahezu auf jede Tanzpartnerin einstellen. Und“, sie gab mir einen fast unmerklichen Knuff in die Seite, „er kann führen. Das musste ich eben am eigenen Leib erfahren. Keine Chance gegen ihn gehabt“, grinste sie in die Runde und ging hinter der Disco hervor, mit dem kabellosen Mikro in der Hand mitten auf die Tanzfläche.

Ich verweilte weiterhin an meinem Platz. Mir war es jetzt schon peinlich, angepriesen zu werden, wie ein Stück Ware. Zum Glück hatte sie nicht noch mehr ausgeplaudert. Ich glaube, dann wäre ich wieder gegangen.

„Wie Sie sicherlich schon selbst festgestellt haben, liegen leider zu wenige Anmeldungen von männlichen Tanzwütigen vor. Daher möchte ich mich hiermit an die Herren wenden. Wenn Sie bitte Ihre Tänze gleichmäßig den Damen widmen könnten, wäre das nur fair. Und ich möchte …“

Die Tür ging auf und zwei weitere meiner Gattung traten ein.

Tanjas Gesichtszüge entspannten sich nur etwas. Es stand immer noch 20 zu 11 – gegen die Männer.

Sie vervollständigte ihren Satz nicht, wandte sich dafür aber mir zu. „Da ich Jan schon sehr lange kenne und er sicherlich auch den Großteil der Schritte noch beherrscht, werde ich mit ihm das zu Übende vorführen.“ Sie fixierte mich. Ein stummes Flehen lag in ihren Augen. „Wärst du so nett?“

Was blieb mir übrig? Ich konnte sie ja schlecht hängen lassen. Also bestätigte ich mit Kopfnicken.

„Danke“, klang es erleichtert. „Vielleicht noch ein, zwei Ding, bevor wir uns an das Vergnügen machen. Wir werden 10 Stunden zu je 90 Minuten miteinander verbringen. Wer möchte, darf mich duzen, ansonsten bleibt es beim Sie. Wie Sie das untereinander ausmachen, entscheiden Sie bitte selbst.“

Doch das Schicksal oder der Zufall – oder was auch immer es war – schöpfte an diesem Tag offensichtlich aus einem sehr tiefen Brunnen. Ich hatte mit nahezu einem Viertel der Frauen je einen Tanzversuch unternommen.

Von drall bis knorrig, von großer bis kleiner Statur. Knapp 20 bis an die 50 Jahre. Nahezu alles hatte ich mehr oder weniger übers Parkett geschoben und bezwungen.

Die Nächste war an der Reihe. Ich hatte zwar versucht, mit ihr Augenkontakt zu bekommen, scheiterte aber an der Unfähigkeit meiner aktuellen Tanzpartnerin. Zwar war ich gut 190 Zentimeter groß und knapp 90 Kilo schwer. Doch dieser kurzbeinige Quader schaffte es tatsächlich, mich nicht nur aus dem Takt, sondern auch beinahe zu Fall zu bringen. Für Außenstehende muss es nach Nahkampf ausgesehen haben, was wir da auf der Fläche ablieferten.

Dennoch brachte ich meine Dame stilvoll zu ihrem Platz, bedankte mich brav und steuerte auf meinen heimlichen Favoriten zu.

Aus dem Augenwinkel hatte ich sie die letzten beiden Tänze beobachtet. Die war garantiert keine Anfängerin. Ihre Bewegungen, die Schrittfolgen, die Gewandtheit, wie sie den Partnern folgte; alles sprach dafür, dass sie ihr Handwerk verstand.

Wie ein Blitz schoss ich auf sie zu, bevor mir jemand zuvor kommen konnte.

Höflich, nach alter Schule, deutete ich einen Diener an und stellte mich vor. „Guten Tag. Ich bin Jan Thorsson. Darf ich Sie um den nächsten Tanz bitten?“

Aus den Lautsprechern erklang ein Quickstepp. Sie erfasste tatsächlich meine gereichte Hand und stand auf.

„Ilka Laisdalen“, hauchte sie zart. „Danke.“

Was für eine Stimme! Irgendwas zwischen Sopran und Mezzosopran.

Kurz musterten wir uns. Sie schätzte ich auf höchstens 23 Jahre jung. Figürlich hatte sie wahrscheinlich beschlossen, mit dem Ende der Jugend nicht mehr weiter zu wachsen; weder in die Höhe noch in die Breite.

Trotz unseres Größenunterschieds fühlte sie sich geschmeidig an.

Nicht die geringste Andeutung bedurfte es meinerseits. Sie startete einfach mit mir. Jeder mir noch bekannten Figur folgte sie einfügsam. Zudem, und das überraschte mich in diesem Fall sehr, hatte ich keinen Pudding in den Armen. Sie sorgte selbst dafür, spüren zu wollen und auch teilweise zu erahnen, was ich vorhatte. Mit unseren gefassten Händen kurz in die entsprechende Richtung andeutungsweise gedrückt oder nur eben gezogen, und sie wusste, was kommen würde. Es war ein Genuss, mit Ilka zu tanzen.

Doch jede noch so schöne Zeit, egal wie lang sie dauerte, ging irgendwann einmal zu Ende. Die Phase des Eintanzens, wie Tanja es jetzt verkündete, wäre vorbei.

„Vielen Dank“, sagte sie. „Ich habe beobachtet, was Sie noch so drauf haben. Auf die Grundschritte können wir verzichten. Doch ich möchte Sie nun bitten, mal einen großen Kreis zu bilden und einfach nur zuzusehen. Jan, darf ich dich zu mir bitten?“

Kurz nickte ich Ilka zu und folgte Tanjas Aufforderung.

„Vielleicht zeigen wir es einfach mal. Das sagt mehr als tausend Worte“, sprach sie in ihr Headset, welches sie mittlerweile gegen das Handmikro getauscht hatte. „So Jan. Nun versuche bitte, mich zu führen. Ich übertreibe absichtlich.“

Alle konnten es hören. Viel schlimmer aber war noch, dass es auch alle sehen konnten, dass ich eine völlig schlaffe Tanzpartnerin in die Arme bekam. Doch ich verstand, worauf sie hinauswollte, und stellte mich ebenfalls mehr als dusselig an. Nichts, aber auch gar nichts brachten wir zur Musik zustande. Nach ein paar Takten ließ sie mich los, regelte an einem am Gürtel befestigten Regler die Musik runter und zog das Mikro wieder auf.

„Das meine Damen, das waren Sie eben. Zumindest ein Großteil von Ihnen. Jan, ich möchte dich nun bitten, deine eben gewählte Tanzpartnerin zu dir zu holen. Ich werde einen Wiener Walzer auflegen. Einfach nur rechts und links herum tanzen. Mehr nicht.“

Sie entließ mich und ich holte eine Ilka zu mir, deren Kopf knallrot angelaufen war. „Keine Panik“, flüsterte ich, drückte aufmunternd ihre Hand, die sie mir gegeben hatte. „Oder ist Walzer nicht Ihr Tanz?“, wollte ich wissen.

„Geht fast nichts drüber“, raunte sie zittrig. „Nur Tango und Paso können den toppen.“

Irgendwie war ich erleichtert. Sie schien ähnliche Vorlieben bei Tänzen zu haben, wie ich. „Na dann“, flüsterte ich, als der Kaiserwalzer aus den Boxen drang. Wieder spürte sie meine Bewegungen und erneut starteten wir durch. Drei Drehungen rechts, einen angedeuteten Wechselschritt, vier Mal links und ohne Übergang sofort wieder rechts. Es war ein weiteres Vergnügen, das ich voll auskostete.

Doch nach weniger als einer gefühlten Minute war auch das wieder Geschichte. Trotzdem erhielten wir angemessenen Beifall und reihten uns wieder ein.

„Haben Sie hingesehen, meine Damen?“, erklang Tanjas Stimme aus den Lautsprechern. „Haben Sie gesehen, wie die junge Dame ihrem Tanzpartner ihre Muskeln angeboten hat? Sie hat sich selbst angespannt, um bei ihm zu spüren, was er vorhat. Nur so kann die Dame erahnen – und wenn der Herr gut ist, spürt sie es auch deutlich – was er als Nächstes vorhat. Wenn Sie aber als wabbelige Masse daherkommen, kann der Mann auch einen Eimer Götterspeise zum Tanz auffordern. Weder er – und noch weniger Sie – werden Spaß am Tanzen haben.“

Hier und da sah ich ein verlegenes Schmunzeln, ansonsten recht teilnahmslose Gesichter.

„Und noch etwas. Das betrifft sowohl die Damen als auch die Herren gleichermaßen. Jan, bitte komm noch einmal mit deiner Partnerin in die Mitte.“ Wir folgten. „Nehmt mal bitte eine normale Tanzhaltung ein. – Jetzt schauen Sie bitte alle einmal genau hin. Ohne, dass ich etwas gesagt habe, ruhen die Blicke des Paares nicht in den Augen des Tanzpartners. Sie schaut an seiner rechten Schulter vorbei, er über die gefassten Hände hinweg. Und ganz wichtig meine Damen, der Herr ist kein Ruhekissen für ihren linken Arm. – Danke euch.“

Ich hatte mich aus Tanjas Ausführungen ausgeklinkt. Die konnte ich fast auswendig runterleiern. Wie selbstverständlich hatte ich Ilkas Hand ergriffen und wir uns in die zweite Reihe der Mitstreiter verzogen.

Während der Litaneien beobachtete ich lieber die Leute im Saal. Ich war der älteste Herr, so schätzte ich. Der eine könnte vielleicht Mitte dreißig sein, der Rest aber irgendwo zwischen 20 und 30. Einige der Damen hatten sich mit zu dick aufgetragener Kriegsbemalung hinter einer Fassade versteckt, sodass ich deren Alter schwer abschätzen konnte.

Plötzlich wurde meine Hand gedrückt. Bis zu diesem Augenblick hatte ich nicht bemerkt, dass ich immer noch Ilkas Hand festhielt. Erschrocken sah ich zur Seite. Sie deutete an, dass sie etwas sagen wollte und ich beugte mich zu ihr runter.

„Wie lange tanzt du denn schon?“

Ich stockte und starrte vor ihr auf den Parkettboden. Doch die Schockstarre hielt zum Glück nur eine Sekunde an. „Ungefähr 30 Jahre“, beantwortete ich nahezu wahrheitsgemäß.

„Wie alt bist du denn?“, schoss es erschrocken und auch fast zu laut aus ihr heraus. Ein paar Leute drehten sich gestört und auch leicht verstört zu uns.

Kurz blickte ich mich um und sah in erreichbarer Entfernung die Tür hinter uns. Ohne Worte zupfte ich ihre immer noch gefasste Hand und wir schlichen aus dem Raum. Kaum waren wir draußen sagte ich in normaler Lautstärke: „Vierzig. Warum?“ Ich sah in zwei meerblaue Augen, die unsicher nach einem imaginären Punkt suchten, um sich dort festzukrallen. „Warum?“, wiederholte ich meine Frage. „Ist das denn wichtig?“

Der Kontrast des roten Gesichts zu ihren langen blonden Wirbellocken war faszinierend.

„Okay“, schmunzelte ich, „scheint entweder sehr oder überhaupt nicht wichtig zu sein. Dann meine Gegenfrage. Wie alt bist du denn? Und noch eine weitere. Wie lange tanzt du denn schon?“

Es war mehr als offensichtlich, dass sie sich sortieren musste. Mich erreichten nur „zweiundzwanzig“ und „zwölf“, als Antworten.

* * *

„NA?“, sah mich meine Tochter aus großen, erwartungsvollen Augen an. „War es richtig, dass ich dich überrumpelt habe? Hat es Spaß gemacht?“

Ich musste ihr eingestehen, dass ich schon viel eher hätte gehen sollen, dermaßen große Freude hatte es mir bereitet. „Ich darf dich auch noch von Tanja grüßen“, sagte ich und wurde etwas einsilbig, weil die kurze Sequenz unserer Unterhaltung ihr peinlich gewesen war. Dabei hatte ich mich mit dem Schicksal abgefunden. „Sie hat auch nach dir gefragt. Ich habe gesagt, dass du soweit okay bist. Oder hätte ich nichts sagen sollen?“

Sie machte eine Geste, mit der sie das Thema beiseiteschob. „Passt schon. Klara ist abgehauen. Nicht du. Ich kann nur von Glück reden, dass ich schon 14 war und Mitspracherecht hatte, bei wem von euch ich sein will“, schnaubte sie.

Und ich sah, dass ihr die Galle schon wieder anfing zu kochen. Doch sie hatte das Thema angeschnitten und ich musste darauf zu sprechen kommen.

„Deine Mutter hat geschrieben. Sie will dich sehen. Du hast den Brief hoffentlich gelesen“, sagte ich ernst. „Bitte tu ihr den Gefallen. Ansonsten tu wenigstens mir den Gefallen. Du hast hoffentlich auch mitbekommen, dass sie mich sonst wegen Kindesentzugs verklagen will. Und wenn du ihr nur die Tür aufmachst und sie wissen lässt, dass du keinen Bock auf sie hast. Aber noch bist du keine 18 Jahre und sie kann es von dir verlangen. In wenigen Wochen, an deinem Geburtstag, sieht das anders aus. Kriegst du das bitte hin?“, forderte ich sie eindringlich auf.

„OCH NEE!“, schnaubte sie widerwillig. „Hab ich echt keine Lust zu!“, bockte sie weiter.

„Sie kommt nächsten Samstag gegen 11 Uhr. Das weißt du. Also zick hier jetzt nicht rum“, wurde ich lauter. „Es wird wohl auch der letzte Besuch von ihr sein, bevor sie mit ihrem Mann nach Australien auswandert. Daher bitte ich dich: Hau nicht wieder ab. Das bereitet dann nämlich nur mir Scherereien. Und da hab ich keinen Bock drauf. Kriegen wir das hin?“, forderte ich von ihr eine klare Antwort.

„MRRR!“, knurrte sie durch geschlossene Zähne. „Wenn es denn sein muss!“

„Es muss!“, stellte ich klar. „Es sind nur noch knapp drei Monate. Dann wirst du 18. Und in etwas mehr als 8 Monaten machst du Abi. Und danach ziehen wir von Hamburg nach Stockholm. Ob Klara dann unsere neue Adresse bekommt, hängt von dir ab. Ich werde mich sehr bedeckt halten. Also. Ich frage dich noch einmal: Ja? Wirst du sie, wie auch immer geartet, empfangen? Kann ich mich auf dich verlassen?“, wollte ich mich versichern.

„JA!“, schnaubte sie und stand auf. „Aber ich geh nicht mit ihr irgendwohin. Wenn, dann soll sie mich hier sehen. Ich geh nicht aus dem Haus mit ihr!“, stellte sie ihrerseits unmissverständlich klar.

Mir war noch der letzte Besuch sehr deutlich vor Augen, als meine Ex unsere Tochter dazu nötigen wollte, zu ihr zu ziehen. Nur mein ganzer Körpereinsatz und die eilig herbeigerufene Polizei verhinderten, dass ihr jetziger Ehemann unsere Tochter gewaltsam aus dem Haus zerren konnte. Ich erwirkte daraufhin, dass er Hausverbot bekam und 300 Meter Abstand zum Haus halten musste. Bei Nichtbeachtung drohte ihm die umgehende Einfahrt in den Knast.

* * *

Unsere Woche bis zum Samstag lief bedeutungslos dahin. Svantje hatte sich ob des bevorstehenden Treffens nicht hochgeschaukelt und an die Abmachung mit mir gehalten. Sie hatte ihre Mutter empfangen.

Ich war derweil der ganzen Sache aus dem Weg gegangen und hatte mich in mein Arbeitszimmer zurückgezogen.

Doch nach nur einer halben Stunde hörte ich die Haustür zuknallen. Umgehend schaute ich aus dem Fenster. Rasend vor Wut verließ Klara eilig das Grundstück. Der Mülltonne an der Gartenpforte verpasste sie einen festen Tritt.

Ich trottete die Treppe runter und fand meine Tochter seelenruhig auf dem Sofa sitzen und lesend vor. „Was war das denn eben für eine Vorstellung?“, wollte ich natürlich wissen.

Sie schaute kurz auf, zuckte mit den Schultern und vertiefte sich wieder in ihr Buch.

„Aha.“,stellte ich fest. „Du hast sie empfangen und dich dann ihr gegenüber auch so verhalten. Hab ich recht?“

Svantje legte das Lesezeichen zwischen die aufgeschlagenen Seiten, klappte das Buch zu und legte es bedächtig neben sich ab.

„Sie wollte mich gütlich dazu überreden, mit ihr Kaffee trinken zu gehen“, sagte sie erstaunlich ruhig. „Als ich ihr daraufhin einen Kaffee angeboten habe, wurde sie das erste Mal pampig. Ein zweiter Versuch brachte sie dann richtig in Rage. Danach hab ich dann auch keine Rücksicht mehr genommen. Ich hab sie unmissverständlich wissen lassen, dass ich das Haus mit ihr zusammen nicht verlassen werde, weil sie garantiert irgendwo ihren Stecher stehen hat, der mich dann ins Auto zerrt und die mich gemeinsam entführen werden.

Daraufhin ist sie aufgesprungen und wollte mir eine knallen. Tja, sie weiß nun mal nicht, dass ich mich wehren kann. Und so hat sie sich eine gefangen. Das Auge wird blau. Dann …“

„Du hast was?“, unterbrach ich sie in ihrem Redeschwall. „Du hast Klara eine gezimmert? Hast du sie noch alle? Das fällt doch alles auf mich zurück! Svantje! Um Himmels Willen! Scheiße. Das gibt wieder Ärger.“

„Nun bleib mal auf dem Teppich“, wirkte sie immer noch sehr entspannt. „Also weiter. Dann hat sie ihre Sachen genommen, mich eine Hexe genannt und ist in Richtung Tür. Noch während sie weitere unflätige Dinge über dich und mich abgelassen hat, hab ich mir schon das Buch genommen und angefangen, zu lesen. Damit war das Fass endgültig voll. Die Haustür hat es aber überlebt. Hab ich schon nachgesehen“, grinste sie und entknotete ihre Beine aus dem Schneidersitz, um aufzustehen. „Willst du einen Kaffee?“

Ich konnte nur still hoffen, dass dieses Zusammentreffen das Letzte war und kein Nachspiel haben würde. Es wäre schließlich nicht das erste Mal, dass mir meine Exfrau Beeinflussung unserer Tochter vorwarf und mich mit gerichtlichen Eingaben überschüttete.

„Danke. Ja. Kaffee wäre nicht schlecht“, antwortete ich nachdenklich und setzte mich.

* * *

Bereits zur vierten Stunde hatten sich die Reihen unseres Kurses merklich gelichtet. Lediglich sieben Paare waren übrig geblieben, die in fester Konstellation miteinander – oder auch weniger miteinander – tanzten.

Dass Ilka meine feste Tanzpartnerin war, musste ich nicht regeln. Sie sorgte bereits ab der zweiten Stunde für klare Verhältnisse. Kaum hatte ich den Raum betreten, war sie an meiner Seite; woher auch immer sie gekommen war. Ich hatte sie jedenfalls nicht kommen sehen. Nur ihr fröhliches „Hallo“ erreichte mich, eine Hand ergriff die meine und allen anderen wurde nur durch diese kleine Geste klargemacht, wer hier ab sofort mit wem tanzen würde.

Ich hatte keinerlei Einwände. Im Gegenteil. Selbst nicht beim sonst mir so verhassten Boogie.

Einige Figuren mussten wir allerdings abwandeln. Speziell dann, wenn der Mann durch die eigentlich gefassten Hände drehen sollte. Meine Größe und die ihre waren dafür einfach nicht kompatibel. Selbst wenn sie sich reckte und streckte, es reichte nicht aus, um es annähernd elegant aussehen zu lassen. Also beschlossen wir ohne große Absprachen, eine Eigenkreation in solchen Fällen darzubieten; sehr zur Freude von Tanja, die uns immer häufiger in die Mitte holte, um von uns Figuren vorführen zu lassen. Manchmal aber auch Fehler, die sie vorher mit uns besprach und die wir dann demonstrieren sollten.

Bereits nach der sechsten Stunde waren Ilka und ich zu einer Art Einheit zusammengeschweißt. Egal was Tanja auch auflegte, es bedurfte meist nur eines Blickes. Wir tanzten, schwebten oder rockten drauf los. Sehr zum steigenden Unmut der Mitstreiter.

Es kam, wie es kommen musste. Vor der achten Stunde wurden wir von Tanja abgefangen.

„Macht es euch was aus, wenn ihr nicht allzu perfekt seid?“, fragte sie uns mehr als nur offen.

Noch sortierte ich mich, doch Ilka konterte spontan: „Was können wir denn dafür? Nur weil die anderen sich zu dämlich anstellen? Oder was willst du?“

Für einen Moment wirkte Tanja wie vor den Kopf gestoßen. Aber sie rappelte sich nach diesem recht offensiven Anschiss erstaunlich schnell wieder auf und antwortete: „So war das nicht gemeint. Ehrlich. Ich möchte euch nur bitten, die verbleibenden Stunden nicht allzu sehr aufzufallen. In drei Wochen geht der Goldkurs los. Für Paare. Wenn ihr euch für die restliche Zeit zusammenreißt, könnt ihr kostenlos teilnehmen. Aber ich möchte, dass ihr das zu Lernende vorführt. Dafür müsst ihr aber eine Stunde vorher hier sein. Geht das?“

„Bei mir schon“, ließ Ilka verlauten und sah erwartungsvoll zu mir auf.

Ich zögerte. „Eigentlich nicht so gut. Von 10 bis 11 Uhr ist Gottesdienst. Ich bin im Kirchenvorstand und habe wechselweise Dienst für die Lesungen. Da komm ich nicht raus. Wenn du eine halbe Stunde nach hinten verlegen kannst …“

„Vergiss es“, unterbrach mich Tanja. „Nach euch sind die Jugendlichen Bronze dran. Und dann verschiebt sich alles über den Tag um eine Stunde nach hinten. Das kann ich dem Tanzkreis für Paare nicht zumuten. Dann sind die erst um 23 Uhr raus. Das machen die nicht mit.“ Enttäuschung legte sich auf ihr Gesicht.

„Okay“, versuchte ich, einen weiteren Vorschlag einzubringen. „Wie ist es denn samstags? Ist da was frei? Bist du da? Kannst du auch, Ilka?“

„Ich könnte“, nickte sie zustimmend. „Aber erst nach 19 Uhr. Wenn der Laden geschlossen hat.“

„Nee!“, blockte Tanja ab. „Samstags ist hier immer irgendeine Veranstaltung. Die Räume sind auf Monate im Voraus gebucht. Dann geht nur noch irgendwann unter der Woche. Am besten freitags. Da sind die meisten Kurse um 20 Uhr zu Ende. Ihr könntet dann so gegen halb neun im kleinen Saal üben. Ich bin aber nicht da. Ihr bekommt von Stefan einen Zettel, was zu tun ist. Wenn ihr nicht klarkommt, dann fragt ihn. Geht das?“ Ihre Miene erhellte sich dennoch nur leicht.

„Warum sollen wir eigentlich vortanzen?“, wollte ich dann aber doch noch wissen und schaute Tanja fordernd an.

Sie wog unentschlossen den Kopf hin und her und sagte: „Na ja. Vielleicht kann ich die letzten beiden Stunden überhaupt nicht da sein. Felix ist sehr krank. Ich bin auch unter der Woche nur noch sporadisch hier. Mein Mann braucht mich im Moment mehr, als die Tanzschule. Bitte haltet das auch noch bei euch. Und um ehrlich zu sein, es sieht nicht gut aus. Aber ich will, wenn er tatsächlich stirbt, dass er zu Hause ist und nicht in der Klinik.“

Spontan nahmen Ilka und ich Tanja in die Arme und hielten sie fest. Dieser Schlag hatte mich sehr getroffen. Ich kannte Felix noch von früher. Ein sehr liebenswerter und immer um alle besorgter Mensch, der es auch obendrein allen recht machen wollte – und es sogar auch schaffte.

Nach einer kleinen Weile hatten wir uns beruhigt und ließen sie wieder los. Sie nickte dankend, wusste, was wir ihr mit dieser Geste wortlos sagen wollten.

Ohne es im ersten Augenblick zu merken, hielt ich auch Ilka immer noch im Arm. Erst als sie ganz zaghaft ihren Kopf an meine Schulter lehnte, wurde es mir bewusst. Mir wurde heiß und kalt. War sie nur bestürzt über diese erschütternde Nachricht? Oder suchte sie bei mir etwas, das ich ihr definitiv nicht würde geben können? Behutsam ließ ich meinen Arm sinken und erfasste nur ihre Hand, um sie in den kleinen Tanzsaal zu geleiten. Ich ließ sie los, schloss die Tür und machte mich an der Musikanlage zu schaffen.

Doch kaum dass ich versuchte, einen Übungstanz für uns herauszusuchen, spürte ich zwei weiche zitternde Hände, die sich an meinen Seiten über meinen Bauch schoben. Kurz darauf suchte ein kaum wahrnehmbar bebender Körper Halt an meinem Rücken. Vorsichtig drehte ich mich um und legte ihr meine Hände an die Schultern. „Mich hat es auch umgehauen“, sagte ich leise, weil ich sah, dass ihr kleine Rinnsale die Wangen herunterliefen. „Sollen wir es lassen für heute?“, fragte ich vorsichtshalber. „Soll ich dich noch nach Hause bringen?“

Sie aber schüttelte den Kopf und lehnte sich gegen meine Brust.

„Was denn dann?“, fragte ich unsicher zurück.

Sie sah zu mir auf. Aber wie. „Halt mich bitte fest, Jan“, flüsterte sie. „Es tut mir gerade sehr gut.“

Auch mir saß der Schock noch in den Gliedern. Aber ich war älter, hatte schon mehrere Todesfälle in der Verwandtschaft und im Bekanntenkreis mitbekommen, auch schon drei Tote gesehen, und sogar meinem muslimischen Freund geholfen, seinen toten Vater, der Tradition nach gebräuchlich, zu waschen.

Das Mädchen aber, was sich gerade Schutz und Hilfe suchend an mich klammerte, kannte davon wahrscheinlich nichts; oder nur entfernt etwas.

„Ich mag dich“, unterbrachen kaum wahrnehmbar geflüsterte Worte meine Gedanken über ihren Zustand und ihre Gefühlswelt.

Mehr aus einem Reflex heraus zuckte ich zusammen und brachte sie etwas zu rüde auf Abstand. „Bitte?“, sah ich sie mit weit aufgerissenen Augen an. „Bitte was?“, forderte ich sie auf, ihre Worte noch einmal zu wiederholen.

Sie versuchte, sich aus meinem Griff zu winden, musste es aber aufgeben, weil ich sie immer noch fordernd ansah und festhielt.

„Ich mag dich, Jan“, sagte sie hilflos und schaute mich mit flehenden Augen an.

Also hatte ich mich tatsächlich nicht verhört. In der Ecke des Raumes standen zwei Stühle, zu denen ich sie mehr oder minder drängte und sie dann auf einen davon herunterdrückte. Den anderen rückte ich so zurecht, dass wir uns fast gegenübersaßen.

„Okay“, sagte ich erst einmal, um auch etwas Zeit zu gewinnen. „Mögen tu ich dich auch. Ohne Frage. Aber von dir hört sich das gerade irgendwie ganz anders an.“ Ich sah ihr direkt in die Augen. „Aber gut, Ilka. Kann sein, dass ich mich jetzt gleich fürchterlich blamiere, aber das Risiko gehe ich ein. Bevor du mir nämlich mehr von dir erzählst, möchte ich dir erst von mir erzählen. Es könnte für dich sehr wichtig sein.

Du musst nämlich wissen, ich war bereits einmal verheiratet. Meine Exfrau ist fremdgegangen und vor drei Jahren sind wir geschieden worden.
Die weitere Geschichte dazu ist momentan nicht weiter wichtig.

Aus unserer Ehe ist eine Tochter hervorgegangen. Sie wohnt bei mir. Svantje ist fast volljährig und macht im nächsten Jahr Abitur.

Die eigentlich wichtigen Dinge aber kommen jetzt. Nächstes Jahr im Juli ziehen wir von hier nach Stockholm. Für immer. Aus zwei Gründen – nein drei.

Erstens: Ich habe dort einen neuen Job.

Zweitens: Meine Tochter studiert ab September in Uppsala.

Drittens: Ich bin gebürtiger Schwede und will wieder in meine Heimat. Meine Tochter will übrigens auch aus freien Stücken dorthin. Ich erzähle dir das deshalb, damit du deine Gedanken sortieren kannst, bevor du mir antwortest. Soweit alles klar?“

Ihre Augen weiteten sich zusehends. „Du bist … Schwede?“, fragte sie nach. „Och var du kommer ifrån exakt?“, wollte sie in meiner Muttersprache wissen.

„Jag från Sandviken, Gävleborgs län. Stäng Gävle”, antwortete ich und spürte erste Unsicherheit in mir aufsteigen.

„Mina föräldrar kommer från Stocka. Också från provinsen Gävleborgs län.” Ihre schon weit aufgerissenen Augen wurden noch größer.

„Deine Eltern kommen aus Stocka?“, wiederholte ich betont langsam, um mir ihrer Worte bewusst zu werden. „Mein Bruder wohnt dort. Rönnskär. Kennst du?“, wollte ich jetzt genauer wissen.

Sie nickte hektisch. „Auf der kleinen Insel? Ja klar. Nummer 27 wohnt meine Schwester. Mamma och pappa in i husnummer 42.“

Mir brach der Schweiß aus. Bitte was? Ihre Schwester wohnte in der 27? Dieses steile Gerät? Diese verbotene Blondine? Die, auf die mein Bruder seit Jahren heiß ist? Ich konnte doch unmöglich sagen … „Tjorve wohnt in Nummer 25“, hörte ich mich durch wabernde Nebel antworten. „Mein Bruder.“

* * *

„Wie siehst du denn aus?“, begrüßte mich meine Tochter, als ich offensichtlich in völlig desolatem Zustand nach Hause gekommen war.

Ungeachtet ihrer recht eigenwilligen Begrüßung ging ich direkt ins Wohnzimmer, nahm ein Whiskyglas und goss einen guten Schluck hinein, den ich auch sogleich in einem herunterstürzte. „DAS wirst du mir nicht glauben“, versuchte ich, einigermaßen gefasst zu antworten, und blätterte für sie peu à peu die vergangenen Stunden durch.

Svantje holte tief Luft und blies sie mit aufgeblähten Wangen wieder aus. „Boh! Krass!“, waren ihre ersten Worte; und für viele Sekunden auch die letzten. – „ Und du hast WAS?“, endlich hatte sie sich berappelt. „Du hast ein Mädchen geküsst? Geschlagene 18 Jahre jünger als du? Tickst du noch richtig?“

Wahrscheinlich nicht.

„HEJ! Wir ziehen in knapp 9 Monaten um! Du kannst doch jetzt kein Mädchen anmachen und sie dann stehen lassen! Die ist doch viel zu schade für so was … und … äh … sowieso viel zu jung! Mensch Papa! Du kannst doch keine Kindfrau verführen!“

Salve um Salve schoss mich meine Tochter mit Argumenten ab, die ich schon im Auto auf dem Weg hierher über mich selbst abgefeuert hatte.

„Sie ist Schwedin“, startete ich einen ersten Rettungsversuch, ging aber trotzdem aufgrund der heftigen Reaktion meiner Tochter irgendwie in Deckung.

„UND?“, schrie mich meine Tochter an und tobte aufgebracht durchs Wohnzimmer. „Das ist doch egal. Diese Ilka ist 22 Jahre. Die ist gerade mal mit der Pubertät fertig, wenn ich dich dran erinnern darf. Die ist im Dauer-Eisprung-Modus. Die denkt nur an Sex und ist schon schwanger. Oder hast du … ?“ Sie brach erschrocken über sich selbst den Satz ab und stockte in der Bewegung.

„Hallo!“, rappelte ich mich auf. „In der Tanzschule? Mach ich sie da nackig, oder was? Jetzt ist gut, Svantje. Überspann den Bogen nicht!“, polterte ich zurück. Ich schnaufte ein paar Male tief durch, wollte mich selbst wieder runterbringen. „Sorry“, sagte ich gefasster, „aber ich weiß auch nicht, was das ist. Ich weiß, dass sie 22 ist. Und mein Alter kenne ich auch. Hast du aber auch den Rest mitbekommen?“, versuchte ich ihrer Erinnerung auf die Sprünge zu helfen; weil sie für mich der eigentliche Auslöser waren.

Sie nickte und senkte den Blick. Ihr „Ja“ war sehr leise.

„Gut“, suchte ich ebenfalls den Weg in das ruhigere Fahrwasser zurück. „Ilka hat das aus der Bahn geworfen. So vermute ich zumindest. Ich gehe auch davon aus, dass sie einfach nur jemanden brauchte, um sich anzulehnen und eine Art Geborgenheit zu finden. Dass wir uns geküsst haben, war aus meiner Sicht nur eine Art Freundschaftskuss. Sie suchte eine Stütze und ich war zufällig da.“

Meiner Tochter schien das aufgrund der eigentlichen Ereignisse ebenfalls einzuleuchten, weil sie sehr einsilbig antwortete: „Ich hätte damals auch einen solchen Freund gebraucht, der mich hält.“

Tränen schossen ihr aus den Augen und sie flüchtete sich in meine Arme, die ich ihr anbot, sich bei mir anzulehnen.

Endlich hatte sie es zugegeben!

Wie sehr hatte ich in all den Jahren gehofft, sie würde das so toughe Mädchen in sich endlich mal vom Hof jagen und das sagen, was sie wirklich fühlte. Meine Svantje. Die immer so aufgeräumte, sortierte, sich selbst beherrschende Tochter.

Endlich heulte sie mal. Und endlich gab sie zu, wie sehr sie die Trennung tatsächlich belastete. Zwar gab sie es selbst jetzt nicht direkt zu, dafür hatte sie sich noch zu sehr unter Kontrolle. Aber immerhin heulte sie mal.

„Ich hab dich sehr lieb, Svantje“, flüsterte ich und ließ ebenfalls meine Tränen ungeniert laufen.

Spät wurde es an diesem Abend nicht mehr.

„Darf ich bei dir schlafen?“, flüsterte es ins dunkle Schlafzimmer.

Die Matratze neben mir war nur mit einem Laken bezogen.

Ich knipste meine Nachttischleuchte an. Mit Bett, Kopfkissen und ihrem kleinen Kuschelbären bepackt stand Svantje in der Tür. „Komm“, sagte ich und drehte mich zu ihr. „Dann komm zu mir.“

Es war schon eine Zeit lang still, als sie mich leise flüsternd fragte: „Papa? Bist du noch wach?“

Natürlich war ich noch wach. Der Tag hatte einiges an Unordnung in mir hinterlassen. „Ja.“

„Magst du Ilka?“

Was für eine Frage! Wer in meinem Alter hat das Glück, dass sich eine so junge Frau an einen wirft? Dazu bezaubernd hübsch, intelligent, anmutig, anschmiegsam und obendrein … sehr devot. Trotzdem antwortete ich ehrlich: „Weiß ich nicht, Svantje. Sie ist doch noch … ein … ein Kind. Sie weiß von dir, meiner geschiedenen Ehe. Aber ob sie es verstanden hat, das weiß ich nicht.“

„Würdest du sie … mit … weil …schlafen?“

WOW! Ich atmete einmal tief ein und wieder aus. „Meinst du nicht, dass dich das gar nichts angeht?“, fragte ich zurück. „Aber gut. Spielen wir es doch mal ganz abstrakt durch.“ Ich legte mich auf den Rücken und schnaufte noch einmal tief. „Okay. Ich verliebe mich also in Ilka. Wir werden ein Paar und wollen heiraten. Was ist dann mit dir? Du bist nur vier Jahre jünger! Was machst du? Ihr die Hölle heiß? Sie lieben? Lesbisch werden? Sie verführen? Oder versuchen, sie zu vergraulen? Sie denunzieren, weil sie sich einen alten Knacker gesucht hat? Mich vielleicht sogar hänseln? Sag. Was würdest du machen?“ Mir war klar, dass diese Nacht so gut wie vorüber war.

Ich hörte Svantje ins Dunkle schmunzeln. „Och Papa. Wie gut kennst du mich eigentlich? Hab ich was gegen Steffi gehabt? Oder gegen Maren? Beide etwa 10 Jahre jünger. Hab ich mich schäbig verhalten? Ich meine: nein. Ich hab dich in Ruhe gelassen. Wenn nun aber diese Ilka dein Glück sein sollte. Glaubst du wirklich, ich flippe deswegen aus? Ist mir doch egal, wie jung sie ist. Du bist Schwede. Sie ist Schwedin. Ich kann Schwedisch. Wo ist dein Problem? Oder hast du vielleicht selbst vor dir Skrupel?“

Ihre letzte Frage traf mich wie eine schallende Ohrfeige.

* * *

Es war Freitag. 20.30 Uhr. Wie vereinbart, wartete ich in der Tanzschule.

20.35 Uhr.

20.45 Uhr.

21.00 Uhr.

Stefan kam in den kleinen Saal. „Nanu? Du allein?“

„Sieht so aus“, und ich konnte meine Enttäuschung nur schwerlich unterdrücken. „Vielleicht noch Probleme beim Kassenabschluss“, versuchte ich, die Situation zu retten. „Kann ja vorkommen. Immerhin mach ich auch solche Software. Fehler kommen dann hoch, wenn Ostern, Weihnachten oder Geburtstage sind. Das programmieren wir so. Mit Zufallsgenerator“, grinste ich.

Stefan entgleisten alle Gesichtszüge auf einmal. „Scheiße“, hörte ich ihn leise fluchen. „Geburtstag“, kam es nur unwesentlich lauter hinterher. „Ilka hat ausgerechnet heute Geburtstag.“

Ich war völlig ahnungslos. Woher auch sollte ich das wissen?

„LOS!“, ergriff er mich am Oberarm. „LOS! SCHNELL!“, zerrte er mich hinter sich her. „Fahr zur Tanke und hol Blumen. Schmeiß aber das Plastikzeugs drumherum noch weg und fahr zu ihr. Die wartet garantiert auf dich!“

Umgehend hatte ich Stefans Plan in die Tat umgesetzt und mich auf den Weg gemacht. Als ich aber bei ihr vor der Tür stand, waren die Fenster dunkel. Auf mein Klingelzeichen hin rührte sich auch nichts. Ein weiterer Versuch nach ein, zwei Minuten blieb ebenfalls erfolglos.

Dafür aber kam eine Nachbarin heraus und musterte mich im Schein der Straßenlaterne eindringlich. „Was wollen Sie denn von der jungen Dame?“, sprach sie mich mehr als abfällig an.

„Gratulieren. Zum Geburtstag. Ich bin ihr Tanzpartner“, gab ich wahrheitsgetreu zurück. „Sind Sie hier der Blockwart?“

Damit hatte ich ihr eindeutig den Wind aus den Segeln genommen. Denn sie drehte sich um und verschwand murrend im Haus.

Ich verharrte noch eine kleine Weile, machte mich dann aber doch wieder auf den Rückweg in die Tanzschule. Fast halb zehn war es, als ich dort eintraf. Und zu meinem großen Erstaunen wartete Ilka im kleinen Tanzsaal auf mich. Noch bevor ich was sagen konnte, sprudelte sie los.

„Ich hasse den Laden! Ausgerechnet heute kam Ware, die bereits morgen im Verkauf sein muss. Neue Kollektion mitten in der Saison. Die haben doch den Schuss nicht gehört. An einem Freitag über 20 Kartons anliefern lassen. Wir waren nur zu zweit. Auspacken und dann noch mal so eben nebenher freundlich sein, ausführlich beraten und verkaufen. Tschuldige. Ich hab vergessen, anzurufen. Ich hoffe, du …“

Spontan hatte ich sie in die Arme genommen und ihr einfach einen Kuss auf den Mund gegeben. Es schien mir in diesem Moment das einzig wirksame Mittel zu sein, sie zum Schweigen zu bringen. Dann reichte ich ihr die Blumen und sagte: „Herzlichen Glückwunsch zu deinem 23. Geburtstag, Ilka.“

Stefan ließ nicht lange auf sich warten und gratulierte ihr ebenfalls. „Wollt ihr noch für Sonntag üben? Der große Saal ist in wenigen Minuten frei. Dann habt ihr mehr Platz“, bot er an. „Hier sind schon mal eure Hausaufgaben.“

* * *

Tanja hatte sich komplett ausgeklinkt. In einem sehr kurzen Telefonat ließ sie mich wissen, dass es mit ihrem Mann definitiv zu Ende ginge. Ilka und ich möchten bitte die verbleibenden zwei Stunden eingenmächtig übernehmen und nach unseren Vorstellungen gestalten. Ihre Abwesenheit sollten wir erst einmal mit Krankheit begründen. Wenn es an der Zeit sei, würde sie selbst für Klarheit sorgen.

Noch in der selben Woche schloss ihr Mann die Augen. Ilka und ich nahmen an der Trauerfeier teil und versuchten, so viele Kurse, wie unsere Zeit es erlaubte, zu unterrichten.

Die Stimmung war für einige Tage sehr bedrückend.

* * *

Unsere vorerst letzte gemeinsame Tanzstunde war vorüber. Der Gold-Kurs wurde aufgrund der Ereignisse verschoben; ansonsten hätte er nahtlos am kommenden Sonntag angeschlossen.

Ich hatte Ilka zu einem Glas Sekt eingeladen und wir saßen in einer der umherstehenden Sitzgruppen.

„Wie geht’s denn jetzt weiter?“, wollte sie wissen.

Ich betrachtete sie aus dem Augenwinkel. Das war mal wieder eine dieser typischen Frauen-Fangfragen. Denn sie ließ alle Optionen offen.

Aber nicht mit mir. „Tja“, sagte ich daher erst mal und blickte sie an. „Mit dem Kurs wohl erst einmal nicht. Oder war das nicht deine eigentliche Frage?“, lockte ich sie.

Ihr Gesicht verfärbte sich von fast verblasster Sommerbräune zu zartrosa. Katzengleich war sie aufgestanden und hatte sich auf meinen Schoß gesetzt. Zärtlich schlang sie ihre Arme um mich und hauchte mir einen weichen Kuss auf die Lippen.

Das Glas in meiner Hand zitterte. Irgendwie schaffte ich es trotzdem, es neben mir auf den Boden zu stellen.

Mein Herz tat einen Sprung. Und doch versuchte ich, nicht die Kontrolle zu verlieren. „Alles ist gut, Ilka. Ich glaube, verstanden zu haben“, antwortete ich. „Doch wie es weitergeht, das hängt ganz von dir ab. Meine Pläne kennst du, und sie sind weder revidierbar noch verschiebbar. Wenn du also herausfinden möchtest, ob es zwischen uns mehr gibt, als nur das Tanzen, musst du noch eine sehr wichtige Information bekommen. Svantje und ich sind leidenschaftliche Segler. Ich habe auch ein eigenes Boot. Hochseetauglich. Wenn ich nicht im Büro oder krank bin, bin ich eigentlich auf dem Wasser.“

Ihre Augen weiteten sich. „Was für ein Boot?“, wollte sie wissen, stand auf und setzte sich wieder auf ihren Platz. „Was genau für ein Boot hast du?“

Ups! Was bitte, sollte ich denn aus diesen Fragen interpretieren? „Eine Malö. Eine 46 Classic. Warum?“, und ich griff zum Glas, einen Schluck trinken.

Sie setzte sich betont aufrecht hin. „Und dann bist du am Wochenende hier? Zum Tanzen? Warum nicht in der Woche?“

„Meine Tochter hat mich hinter meinem Rücken hier angemeldet“, erklärte ich. „Sie war der Meinung, ich müsste mal wieder unter die Leute. Darum am Wochenende. Und weil sonntags auch nur der einzige Kurs für Singles angeboten wurde, die wieder einsteigen wollen.“

„Ist es noch gewassert?“, fragte sie mich sehr direkt. „Würdest du mich am kommenden Wochenende mitnehmen? Vorausgesetzt, du willst raus? Ich hab Binnen, See und SKS.“

Mir fehlten in der Vergangenheit ja selten die Worte. Aber heute war es mal wieder soweit. Wie sie dann noch anfügte: „Ich habe Freitag und Samstag frei. Überstundenabbau“, wusste ich gar nicht mehr, was ich noch sagen sollte.

In meinem Kopf herrschte ein totales Chaos. Und das breitete sich obendrein noch in Lichtgeschwindigkeit weiter aus. „Freitag kann ich auch frei machen“, hörte ich mich aus einiger Entfernung sagen.

* * *

„WAS!?“, rief meine Tochter erschrocken, als ich ihr nach einem erneuten Whisky meine gedanklichen Pläne erzählt hatte. „Du willst mit Ilka am Wochenende raus? Ende Oktober? Hast du mal den Forecast abgefragt? Wind um 7 Beaufort. Ich hatte nämlich auch die Idee“, polterte sie lautstark. „Du willst doch nicht ernsthaft mit einer, die du nur flüchtig kennst, und deren Segelkenntnisse du überhaupt nicht kennst, bei dem Wetter raus? Bist du fremdgesteuert?“

Was sollte ich nur darauf antworten? War ich tatsächlich fremdgesteuert? War ich vorzeitig im zweiten Frühling angekommen?

„Dann kommst du eben auch mit“, bot ich an, weil ich nur sehr zeitverzögert die Situation begriff. „Du kennst ja unser Schiff. Wir sind auch schon bei 9 draußen gewesen, als es uns erwischt hat. Und Ilka hat den SKS. Den bekommt man ja schließlich auch nicht geschenkt!“, antwortete ich, weil ich immer noch glaubte, rausfahren zu können.

„Du tickst nicht sauber!“ Svantje stand auf und holte ihr Tablet. „So! Damit du weißt, was dich erwartet.“

Sie plumpste neben mich aufs Sofa und startete die Sportschifffahrt-App.

„Deutsche Bucht Mittelwind um 7“, begann sie, vorzulesen. „In Böen 9 bis 10 aus Nordwest. Auf Nord drehend. Wellenhöhe bis zweieinhalb Meter, Wellenlänge 20 Meter. Periode unter 10 Sekunden. Freitag Niederschlag bis 30 Millimeter in 12 Stunden. Freitagmittag auflaufende Flut, mit Sturmflutvorwarnung. Samstag 80 Millimeter. Wind gleichbleibend. Und jetzt sag mir noch mal, dass du raus willst.“ Sie klappte das Tablet wieder zu und sah mich erwartungsvoll an.

„Oh Kleines!“, stöhnte ich. „Du hast ja recht. Ich hatte mir noch keine Gedanken gemacht. Danke.“

„Wie gut, dass du mich hast!“, triumphierte sie gerechtfertigt. „Pass mal auf“, und sie schaltete nahtlos in ihren Organisationsmodus um. „Dann lad‘ sie hierher ein und ich verziehe mich zu Karsten. Ich brauch sowieso mal wieder ein Frauengespräch. Schwule sind da besser drin, als meine Mädels. Die gackern nur. Die Sache mit Klara ist auch noch nicht mit mir selbst ausgestanden. Karsten kennt sie ja. Das könnte helfen.“

Bei den letzten Worten wirkte sie allerdings sehr in sich gekehrt. „Svantje“, sprach ich sie leise an, „Wenn es da etwas gibt, das dich belastet, dann möchte ich gern der Mensch an deiner Seite sein, der für dich da ist. Und ich bitte dich jetzt, dass du mir sagst, was mit dir los ist. Denn du bist nicht erst seit ein paar Tagen, sondern seit einigen Wochen sehr unaufgeräumt. Gibt es etwas, dass dich noch mehr belastet, als die Sache mit Klara?“

Sie starrte auf den Tisch und zuckte nur mit den Schultern. „Weiß nicht, Papa“, flüsterte sie. „Weiß nicht, ob … wie … Gunnar dazu … ich nicht weiß, ob ich das schaffe“, und sie warf sich heulend an mich.

War mir etwas entgangen? Hatte ich als Vater eine ihrer Schwingungen nicht mitbekommen? Lag da was in der Luft? Noch bevor ich es wirklich bis zu Ende gedacht hatte, flog der Satz aus meinem Mund. „Bist du schwanger?“

Die Antwort war mehr als deutlich. Svantje schmiss ihren Kopf auf meinen Schoß und heulte, wie ein Schlosshund bei Vollmond.

„Och Kleines“, flüsterte ich und strich ihr über die Haare. „Das ist doch aber kein Weltuntergang. Das ist doch toll“, versuchte ich, ihr die erste Angst zu nehmen.

Natürlich war das keine Nachricht, die mich in Jubelschreie ausbrechen ließ. Zumindest nicht in dieser Konstellation. Ich hatte den Kindsvater ein paar Male gesehen und mich auch mit ihm unterhalten. Im Grunde sollte man ja auch nie vorschnell über Menschen urteilen, aber er war nun wirklich nicht der Traum eines Schwiegersohns, den man sich vorstellte. Wieso Svantje mit ihm überhaupt so weit gegangen war, darüber wollte ich gar nicht weiter nachdenken.

„Komm, mein Kind“, und ich streichelte sie unablässig weiter. „Dann wirst du eben erst einmal Mutter. Und dann, in einem oder zwei Jahren Studentin. Du bist nicht das erste Mädchen und wirst auch nicht das letzte Mädchen sein, das einen anderen Weg zum Ziel nimmt.“

Svantje wurde ruhiger.

„Mein Liebling. Ich bin da. Ich bin für dich und für dein Kind da“, beruhigte ich sie weiter. „Und denk doch mal so“, kam mir eine spontane Idee. „Wenn du mit dem Studium fertig bist, geht dein Kind schon in die Schule. Und du kannst ganz entspannt deinem Job nachgehen. Denn wir beide werden für dein Kind, für mein Enkelkind da sein.“ Wieder und wieder kraulte ich kleine Kreise auf ihrem Rücken. „Und ich“, sagte ich überzeugt und stolz, „ich werde jetzt Opa. Etwas früh zwar, aber ich werde Opa. Eigentlich kannst du dich sogar glücklich schätzen, dass ich noch so jung bin. So fit und vital“, musste ich plötzlich lachen.

Nur sehr zögerlich setzte sich Svantje wieder aufrecht hin. „Du … du bist … nicht … nicht sauer? Nicht … fassungslos?“

Ich musste immer noch lachen. „Na hör mal. Du bekommst ein Kind. Und das Kind kann gar schon mal gar nichts dafür. Also wird es von uns den bestmöglichen Start ins Leben bekommen, den wir ihm bieten können. Gunnar hin und Gunnar her.“

Ihr Blick spiegelte pure Entgeisterung wieder. Hatte sie womöglich befürchtet, ich machte ihr eine Szene?

„Was diesen Gunnar anbelangt“, wurde ich wieder ernster, „weiß er, was er angestellt hat?“

Sie zögerte, sagte dann aber „Ja.“

„Und? Was sagt er?“

Wieder suchte sie nach Worten und senkte den Blick. „Wir haben ja gar nicht … mit … einander … geschlafen“, und sie verstummte.

Ich dachte einen Moment nach. „Okay. Svantje, ich war auch mal jung. Pollenflug fällt aus. Es ist also beim Petting passiert. Oder irgendwie so ähnlich. Ich will auch nicht weiter in dich dringen. Das ist ganz allein deine Sache. Aber die Antwort auf meine Frage war das noch nicht. Ich frage dich also noch einmal: Steht er dazu, dass er dich geschwängert hat?“

Sie lehnte sich wieder bei mir an, was mir eigentlich schon Antwort genug war. Ihr kurz darauf geflüstertes „Nein“ bestätigte meine Befürchtung.

Schützend legte ich ihr meinen Arm um die Taille und tupfte einen Kuss in ihre Haare. Sie kuschelte sich noch enger an mich heran, nahm zaghaft meine andere Hand und legte sie flach auf ihren Bauch; deutete an, ich solle wieder meine kleinen Kreise ziehen.

„Das wird schon, mein Schatz“, kam ich ihrem Wunsch nach, sie zu streicheln. „Ich bin für euch da. Und was diesen Gunnar anbelangt, da reden wir noch mal drüber. Und zwar zu dritt. Aber jetzt sag mir mal: Wann ist denn eigentlich der errechnete Stichtag?“

Sie sah mich an. „Am 19. Mai. Ein Sonntag“, sagte sie verlegen, und doch zuckte ein ganz zaghaftes Lächeln in ihren Mundwinkeln.

„Was willst du denn noch?“, posaunte ich heraus. „Ein Sonntagskind! Besser kann man das Leben doch gar nicht beginnen. Komm Svantje. Es ist so, wie es jetzt ist. Die Natur hat sich dafür entschieden, dass du Mutter werden sollst. So wie damals deine Mutter auch schwanger werden sollte. Für sie, in ihren Augen, auch viel zu früh. Ich hab mich damals gefreut, wie Bolle. Und du bist mein größtes Glück und Geschenk, das ich jemals bekommen habe. Das kannst du mir glauben.“

* * *

Der Forecast hatte mehr als recht behalten. Donnerstag um die Mittagszeit zogen dunkle Wolken auf, der Wind nahm zu und die himmlischen Fluttore öffneten sich.

Ich musste am Freitag noch bis mittags arbeiten. Als ich aber nach Hause gekommen war, glänzte unser Haus von oben bis unten. In der Diele stand meine Tochter und strahlte von einem Ohr zum anderen.

„Ich wünsche dir ein all umfassendes Wochenende, Papa. Mehr konnte ich in der kurzen Zeit nicht für euch tun.“ Sie strotzte vor Stolz. „Der Kühlschrank ist voll, das Weinregal aufgefüllt. Das Gästezimmer ist hergerichtet und auch das zweite Bett neben dem deinen bezogen.“

Sie umarmte mich fest und flüsterte: „Wenn es so sein soll, dass sie tatsächlich deine zweite große Liebe ist, dann lass es zu, Papa. Du liebst mich als deine Tochter. Du fängst mich gerade mit beiden Armen auf. Jetzt lässt du dich einmal fallen. Wenn sie dich auch auffängt, dann ist sie es.“

Kurz darauf stand Karsten in der Diele, um Svantje abzuholen.

„Sag mal, hast du eigentlich Nutella, Gurken, Leberwurst, Schwarzbrot, Schokolade und Chips zu Hause?“, fragte ich ihn sehr ernst.

Svantje grinste wieder über das ganze Gesicht.

„Tickst du noch sauber? Hast du was genommen?“, blubberte er mich an. „Wenn ja, nimm zukünftig einfach weniger. Svantje mag überhaupt gar kein Schwartbrot. Und Leberwurst auch nicht“, entrüstete er sich weiter.

„Nee. Ich hab nichts genommen. Ich meine das schon ernst“, blubberte ich ebenso zurück, stellte mich hinter meine Tochter und legte ihr mit langsamer, sehr bedeutungsvoller Geste eine Hand auf ihren Bauch.

Sein Blick verfolgte meine Hand sehr genau.

„M … M … MOMENT!“, und ihm drohten, die Augen gleich aus dem Kopf zu fallen. „Du“, zeigte er auf Svantje und stotterte weiter, „du bist … Kind … äh … Vater … äh Quatsch … äh … schwanger?“, fragte er völlig entgeistert.

Wir nickten beide und Svantje schmiegte sich bei mir an.

Nur ein paar Sekunden später hatte er sich wieder unter Kontrolle. „HAMMER!“, rief er, nahm Svantje vorsichtig in die Arme und sagte ergriffen: „Wenn du einen Patenonkel brauchst, bin ich gerne bereit, dich zu unterstützen.“ Dann sah er mich an. „Jan. Glückwunsch zum werdenden Opa! Aber jetzt lass uns mal los. Die Lütte sieht nämlich so aus, als wäre sie in den Regen gekommen. Mach dir keine Sorgen. Mein Mann ist bei seinen Eltern. Wir haben sturmfreie Bude.“

Svantje kramte noch irgendwas in ihrer Tasche und ich sah Karsten an. Er musterte mich und ich verdrehte nur die Augen, ließ die Schultern sacken.

„Okay. Kein Regen. Sintflut. – Komm Mädchen. Mädelswochenende. Abmarsch.“

Ich war allein. Neugierig, dennoch bedächtig, schlich ich durch das Haus. Im Wohnzimmer standen Kerzen in Leuchtern auf Kaminsims und Tisch. Holz hatte Svantje ebenfalls ausreichend bereitgelegt. Kissen und Decken lagen wie zufällig hingeworfen vor dem Kamin. Die Küche war einer wahren Putzorgie zum Opfer gefallen. Ich warf einen flüchtigen Blick ins Gästezimmer. „Hergerichtet“, schmunzelte ich halblaut. „Liebevoll vorbereitet, Svantje. Da hast du dir wirklich viel Mühe gegeben.“

Auch oben, ihr Zimmer, alles picobello. Entgegen ihrer Angewohnheit hatte sie die Tür nicht zugemacht. Seltsam.

Das Bad blitzte und glänzte. In meinem Schlafzimmer war sie nicht minder akribisch gewesen. Beide Betten waren frisch bezogen, ein frischer Schlafanzug lag dezent neben meinem Kopfkissen.

Offensichtlich hatte ich meine Tochter bis heute immer unterschätzt. Wenn es also drauf ankam, wusste sie sehrwohl, was zu tun war. Eines wurde mir jetzt auch klar. Sie war bereit, die Mutterrolle auszufüllen. Obwohl sie sich das bestimmt anders vorgestellt hatte.

Noch war genug Zeit, bis Ilka eintreffen würde. Wir waren zu 18 Uhr verabredet. Mehr als drei Stunden, in denen ich schnell duschen und dann meine Spuren beseitigen konnte.

Gerade war ich dabei, mich abzutrocknen, da hörte ich die Türklingel.

Panik befiel mich. Unmöglich konnte ich doch in diesem Aufzug … es klingelte erneut. Hastig schlang ich mir das Badehandtuch um die Hüften und sauste runter.

Die Tür stand noch nicht ganz offen, und schon flüchtete Ilka vor dem vom Sturm gepeitschten Regen mitsamt einer kleinen Reisetasche herein. Eilig verbannte ich das Unwetter nach draußen.

„Bin ich zu früh?“, blieb sie erschrocken stehen, als sie ihre Kapuze abgestreift und mich erblickt hatte.

Was sollte ich sagen? Unmöglich konnte ich ja wohl Na klar, siehst du doch antworten. „Komm rein“, ich machte einen Schritt beiseite. „Komm eben mit durch“, wies ich mit einer Geste aus dem Windfang in die Diele, doch sie verharrte.

Irgendwie peinlich berührt stellte sie die Tasche ab, zog umständlich ihren tropfnassen Regenmantel aus, griff sich einen Bügel von der Garderobe und hängte das triefende Teil abseits an einen freien Haken. Dann zog sie auch noch ihre Schuhe aus und erst danach folgte sie mir. Ihre Tasche hatte sie wieder an sich genommen.

„Hier entlang“, ging ich barfuß patschend vor ihr her und brachte sie ins Wohnzimmer. „Gib mir nur fünf Minuten“, bat ich sie, wandte mich um und rauschte nach oben.

Zurück im Bad verharrte ich erst mal kurz, zwang mich zur Ruhe und sortierte meine Gedanken. Dann trocknete ich meine Haare und auch noch den Rest von mir ab. Das Handtuch warf ich nur eben über den Wannenrand. Mein sorgsam zurechtgelegter Zeitplan war komplett durcheinandergeraten; eigentlich nutzlos.

Ich trat ins Schlafzimmer und blieb stocksteif stehen.

„Ich will keine fünf Minuten mehr auf dich warten“, wisperte Ilka.

Sie stand mitten im Raum. Blassblaue Unterwäsche verhüllte ihre letzten Geheimnisse. Eine Augenweide. Ihre restliche Bekleidung lag achtlos zu ihren Füßen. „Schenke mir mehr, als nur fünf Minuten“, bat sie erneut und stand irgendwie unbeholfen da.

Dass ich gänzlich nackt war, hatte ich total ausgeblendet.

Schleichend kam sie auf mich zu und suchte unbefangen meine Nähe. „Lass mich nie wieder fort, Jan“, bibberte sie.

* * *

Nur in Bademäntel gehüllt saßen wir auf Kissen und Decken vor dem lodernden Kaminfeuer. Jeder hatte ein kleines Holzbrett mit einer belegten Scheibe Brot vor sich. In unseren Weingläsern spiegelten sich züngelnde Flammen des Feuers.

Ich hatte tausend Fragen, aber keine traute ich mich auszusprechen. War ich zu ängstlich, mich einfach auf die Situation einzulassen? War sie vielleicht in ihrer hoffnungslos romantischen Art auch ein Stückweit einfach nur naiv? Warum hatte sie mich auserkoren, der Erste zu sein? Wieso strahlte sie eine so unerschütterliche Selbstsicherheit aus, dass ich der Auserwählte bin? Sah sie durch magische Glaskugeln in die Zukunft?

„Was grübelst du?“, fragte sie leise und betrachtete mich neugierig. „Nur weil ich bis vorhin noch Jungfrau war? Oder was beschäftigt dich?“

Was sollte ich antworten? Mein Kopf gab derzeit keinen vernünftigen Satz her. „Ich habe kurz vor deinem Eintreffen erfahren, dass ich Opa werde“, sagte ich in die Flammen. „Jetzt bist du hier, bei mir, ich erlebe dich, habe selbst eine Premiere erlebt und … stehe eigentlich gerade ziemlich neben mir“, versuchte ich, meine derzeitige Gefühlswelt in Worte zu fassen. „Ich weiß einfach nicht, was … wie ich in … in die Zukunft denken soll.“

„Lassen wir uns doch einfach überraschen, wohin es uns führt“, flüsterte sie. „Keine Sorge, ich nehme die Pille. Ich bin …“

„Svantje auch“, unterbrach ich sie. „Und trotzdem wird sie Mutter. Das ist es aber nicht, Ilka, falls du das meinst.“ Meine Gedanken begannen urplötzlich, sich sehr abstrakt zu sortieren. „Es ist mehr so: Was wird in weniger als neun Monaten sein? Dann ist meine Tochter Mutter, so Gott will, und wir ziehen nach Stockholm. Wo sind wir beide in dieser Zeit angekommen? Stellen wir fest, dass es ein Strohfeuer war? Schmieden wir Heiratspläne? Sind wir vielleicht sogar schon verheiratet? Wirst du eine Herausforderung in Schweden finden? Oder haben sich unsere Wege nach wenigen Wochen wieder getrennt, weil ich doch zu alt bin; oder du zu jung? Leben wir beide Fantasien aus und das war es? Bitte verzeih mir, wenn ich so rede. Aber ich mache mir ernsthafte Gedanken.“ Erstmals betrachtete ich Ilka auch mit anderen Augen. Nicht deshalb, weil ich sie entjungfert hatte. Sie sah einfach zu entspannt aus, obwohl ich ihr ziemlich direkte Fragen um die Ohren gehauen hatte und sie nicht einmal zusammengezuckt war.

„Gute Fragen“, entgegnete sie und richtete sich auf. „Sehr gute Fragen, Jan. Ich kann dir versichern, dass ich mir ähnliche Fragen gestellt habe, bevor ich zu dir gekommen bin. Und wie du siehst, bin ich trotzdem hier. Trotz einiger Zweifel – die ich hatte und auch immer noch habe. Aber ich weiß doch auch noch nicht, was werden wird. Und genau deswegen bin ich hier, um das herauszufinden. Jan, erst wenn ich den Weg gegangen bin, weiß ich, wohin er mich geführt hat. Und das ist doch das Spannende daran. Ich kann natürlich auch auf halbem Wege umdrehen, weil mich der Mut verlassen hat.

Doch ich habe heute auch einen weiteren Schritt, für mich sogar einen großen Schritt gewagt. Ich hab das erste Mal mit einem Mann geschlafen. Ich habe mit dem Mann geschlafen, der sehr einfühlsam und grundehrlich ist – und in den ich mich verliebt habe.“

Die ganze Zeit über hatte ich sie nur angesehen und sehr aufmerksam zugehört. Jede Bewegung ihrer Hände und Finger wahrgenommen, ihrem Mienenspiel zugesehen. Sie war definitiv nicht aus einer Laune heraus bei mir. Das hatte sie mir gerade sehr ehrlich gestanden, obwohl sie es gar nicht mehr hätte tun müssen. Irgendwie war mir das sogar schon klar, als wir im Schlafzimmer noch voreinander standen, es noch den Meter Abstand zwischen uns gab, den sie gegangen war. Ihr kleines Stück des Weges.

„Du hast vorhin von deiner Tochter erzählt“, holte sie mich aus meinen Gedanken. „Wie geht es Svantje? Wie geht es dir damit?“

Ich zuckte unschlüssig mit den Schultern. „Wie soll es ihr gehen? Sie steht ziemlich neben sich. Sie ist jetzt gerade im Mädelswochenende. Ein Freund von uns hat sie abgeholt. Er …“

„Wie? Mädelswochenende beim Freund?“, unterbrach sie mich und schaute mich fragend an.

„Klar. Entschuldige. Karsten ist verheiratet. Mit einem Mann. Und der ist übers Wochenende zu seinen Eltern. Sie haben also viel Zeit. Denn Svantje und Karsten können sehr gut miteinander. Schwule eben.“

„Und du? Was ist mit dir?“, wollte sie wissen.

„Was soll da großartig sein?“, antwortete ich fragend. „Ich bin ja eher auf der passiven Seite, bin nicht Hauptakteur“, versuchte ich mir meine Situation nicht nur ihr, sondern auch mir endlich einmal zu erklären. „Ich muss jetzt nur noch lernen, dass ich schon Opa werde. Einfacher wird es sein, ich denke mich in die Rolle des Vaters. Dann komme ich damit vielleicht etwas besser zurecht. Ansonsten werde ich flankierend für Svantje da sein, und ihr die Hilfe geben, die sie jetzt braucht. Natürlich ist das keine kleine Baustelle, aber was kann das Kind dafür – also mein Enkel, meine ich.“

Ilka sah mich an, als wenn sie auf irgendwas sehr Ekeliges gebissen hätte. „Bin ich auch so eine Baustelle?“

„Bitte keine Goldwaage“, sagte ich entschuldigend. „Es ist nur einfach im Moment ein bisschen viel. Opa werden, Jobwechsel, Umzug, Bürokratie, und, und, und.“

Ich beugte mich zu ihr und nahm sie in die Arme. „Du bist keine Baustelle“, flüsterte ich beschämt. „Ganz bestimmt nicht. Eher ist das Gegenteil der Fall. Ich bin die Baustelle. Du kommst hieher, holst mich da ab, wo ich bin, gestehst mir offen, dass du in mich verliebt bist. Und was mache ich? Anstatt einfach den Mund zu halten, jammere dir die Ohren voll.“

Sie schmuste mit ihrer Wange den klaffenden Stoff auseinander und schmiegte sich gegen meine Brust. „Weißt du Jan“, antwortete sie mit zarter Stimme, „Liebe lehrt auch, auf jemanden zu warten. Und in deinem Leben ist momentan so viel durcheinander, dass ich von dir gar nichts erwarte. Wenn du mir was von deiner Last abgeben willst, das ich für dich ein Stück tragen soll, dann gib es mir. Es wird schon nicht zu schwer sein. Darauf gibst du schon acht.“

Ich stützte mein Kinn auf ihren Kopf und schloss die Augen. Einfach so fing ich an, zu heulen.

Und ich hörte auch Svantjes Sätze ganz nah bei mir. Jetzt lässt du dich einmal fallen. Wenn sie dich auch auffängt, dann ist sie es.

Sollte sie recht gehabt haben? War ich gerade im freien Fall? Wurde ich gerade aufgefangen?

„Ist gut, mein Liebling“, hörte ich Ilka flüstern und wurde von ihr noch fester umschlungen. „Ich bin da.“

* * *

„Lass uns herausfinden, was es ist“, wisperte ich in die Dunkelheit des Schlafzimmers, zog Ilka an mich und tupfte weiche Küsse über ihr Gesicht. „Lass es uns beide bitte herausfinden.“ In mir rumorte es trotzdem. Über mir schwebte nur eine Zahl. 18! Sie war geschlagene 18 Jahre jünger. Und trotz dieses immensen Altersunterschieds hatte sie keinerlei Bedenken.

„Lass das Grübeln“, flüsterte sie. „Nimm es hin. Du kannst es nicht ändern“, suchte im Dunkeln meinen Mund und liebkoste mich mit weichen Küssen.

Ihre Nacktheit. Meine Nacktheit. Wir waren nicht gierig aufeinander. Keine Unersättlichkeit. Ich erlebte eine Harmonie, die alle Sinne berührte.

Liebend vereinigten sich unsere Körper, nahmen aufeinander Rücksicht, nahmen den andern mit, horchten aufeinander, gaben sich dem andern hin.

Sie bäumte sich unter mir auf, ich durfte in ihr aufgehen. Unsere gemeinsame Erfüllung des letzten Geheimnisses war unbeschreiblich.

In inniger Umarmung mit ihr drehte ich mich auf den Rücken, brachte sie auf mir zu liegen. „Ich liebe dich, Ilka“, raunte ich und umschlang sie noch fester.

Sie hob den Kopf, stützte ihr Kinn auf mein Brustbein und wisperte: „Ich weiß, Jan. Ich weiß es schon lange.“

* * *

Wir saßen am Sonntag gerade beim Kaffee, als Laute aus dem Windfang zu uns drangen. Kurz darauf standen Karsten und Svantje im Raum. Wie ich erwartet hatte, musterten sich die Mädchen kurz, aber dafür sehr genau.

„Hallo“, sagte ich, die Situation nicht allzu steif werden zu lassen, stand auf und umarmte meine Tochter, schüttelte Karsten die Hand. „Das ist schön, dass ihr schon da seid. Dann darf ich euch Ilka vorstellen. Ilka, meine Tochter Svantje – und Karsten, der Freund, von dem ich dir erzählt habe.“

Meine Tochter hatte sich wieder gefangen. Zwar hatte ich versucht, ihr Ilka möglichst genau zu beschreiben, aber ich hatte wohl nicht deutlich genug darauf hingewiesen, dass sie wirklich sehr bezaubernd aussieht. „Willkommen“, sagte Svantje, ging auf sie zu und reichte ihr die Hand.

Ilka stand auf und beantwortete die Geste.

Ich konnte sehen, dass die beiden sich intensiv in die Augen sahen. Was passierte da gerade? Mich befiel eine gewisse Unsicherheit. Und dann geschah etwas, mit dem ich überhaupt nicht gerechnet hatte. Auf ein unsichtbares Zeichen hin umarmten sich die beiden.

Wie ein Spanner gaffte ich die beiden jungen Frauen an, die ihre Wangen aneinander schmusten, sich herzend in den Armen lagen.

„Ist die süß“, flötete Karsten, und schon hatte er sich mit in die Umarmung nehmen lassen. „Hach nee“, säuselte er, „was bist du denn für ein Schnuckelchen. Dich muss man doch einfach lieb haben.“

Die Aufregung hatte sich gelegt und wir saßen nach einigen Minuten zusammen um den Kaffeetisch.

„Keine Angst, Ilka. Ich steh nicht auf dich. Ich habe meinen Mann. Aber süß bist du trotzdem“, stupste er sie an und warf ihr ein Küsschen zu.

„Jetzt tu nicht so übermäßig schwul“, haute Svantje ihn an. „Dass du vom anderen Sendemast funkst, musst du nicht unterstreichen.“ Dann sah sie zu uns. „Und? Wie war euer Wochenende?“

Ich betrachtete Ilka. War sie jetzt schon meine Freundin? Oder doch erst noch im Stadium einer guten Bekannten? Und was sollte ich Svantje jetzt antworten?

„Zu kurz“, ließ Ilka spontan verlauten. „Viel zu kurz. Doch die Zeit war schön. Und sie hat uns beiden gutgetan. Wir haben viel reden können. Das war wirklich gut. Und mehr, so denke ich, müssen wir nicht erzählen. Wie war es denn bei euch?“

Jeppa! Das hatte gesessen. Einer der wenigen Momente, in denen ich meine Tochter völlig sprachlos erlebte.

„HA! Bravo, Mädchen!“, tönte Karsten und haute sich vor Begeisterung auf die Schenkel. „Wer, wenn nicht du, bringt dieser Göre endlich mal Manieren bei!“, und er brach in schallendes Gelächter aus.

Svantje lief knallrot an und wusste immer noch nicht, was sie sagen sollte.

Dass dieser kleine Vorfall allerdings der Auftakt zu einem sehr gemütlichen Restnachmittag werden sollte, ahnte ich zu dem Zeitpunkt noch nicht.

* * *

„Entschuldige“, sagte eine leise Stimme hinter mir, als ich gerade das Geschirr in die Spülmaschine einräumte.

Ich drehte mich um und sah in das verlegene Gesicht meiner Tochter. Sie lehnte unentschlossen am Türrahmen.

„Wofür?“, wollte ich wissen. „Du hast gefragt, Ilka hat geantwortet. Sicherlich nicht die von dir erhofften Antworten, doch sie hat dir aufgezeigt, wo deine Grenzen sind. Dass du damit nicht gerechnet hast, war ja sehr offensichtlich. Aber Schluss damit. Jetzt sag mir endlich: Wie findest du sie? Was hältst du von ihr?“, war ich nun neugierig genug, die Meinung meiner Tochter zu erfragen.

Sie kam in die Küche und setzte sich auf einen der Stühle am Esstisch. „Süß“, sagte sie in ihrer unnachahmlichen Art, Karsten nachzuäffen. „Nein. Im ernst. Ilka ist wirklich sehr nett. Wenn sie heute nicht geschauspielert hat, was ich übrigens bemerkt hätte, dann ist sie wirklich sehr nett. Und … wirklich süß. Aber“, und sie zögerte einen Moment, „sie wirkt auch irgendwie zerbrechlich. Irgendwie filigran. Ganz anders als Steffi und Maren.“

Ich sah ihr an, dass das noch längst nicht alles war.

„Lach mich jetzt auch nicht gleich aus, Papa“, begann sie unsicher. „Aber wenn das mit Ilka und dir was werden sollte, dann freue ich mich schon heute auf meine neue Stiefmutter.“ Ihre Augen bekamen einen feinen seidigen Glanz.

Ich musste mich gegen die Arbeitsplatte lehnen, dermaßen überrascht war ich. Meine Tochter hatte wohl irgend ein Orakel befragt, das ich nicht kannte. Seit Jahren freute sie sich erstmals darüber, dass ich eine Freundin habe? „Meinst du das wirklich so?“, versicherte ich mich dennoch.

„Du fragst. Ich gebe die Antwort. Ja, Papa. Sie ist nett und ich mag sie wirklich. Ilka ist natürlich fröhlich. Nicht so aufgesetzt, wie diese Steffi. Ich meine das richtig ernst. Wenn du den Mut hast, dann lass dich darauf – und vor allen Dingen – lass dich auf sie ein. Du packst das. Sie liebt dich. Das sieht man nicht nur. Das spürt man.“

Vor meinem geistigen Auge sah ich die beiden wieder in ihrer engen und sehr intimen Umarmung. Musste ich mir Gedanken machen?

„Denk nicht so viel nach, Papa“, holte mich meine Tochter zurück. „Sie ist zauberhaft. Man kann sie nur mögen. Ich hab sie gesehen, ihre Hand gehalten und wir waren – wie soll ich sagen – gekoppelt. Wir wussten in wenigen Sekunden voneinander, was wir füreinander empfinden. Halte mich jetzt nicht für übergeschnappt, aber Ilka würde ich alles anvertrauen, weil ich weiß, dass sie es für sich behält. Verstehst du, was ich damit sagen will?“

Ich nickte. Ja ich hatte verstanden, was mir meine Tochter gesagt hatte. „Hast du dich verliebt in sie?“, fiel es aus meinem Mund, ohne dass ich es irgendwie verhindern konnte.

„In gewisser Weise ja. Auf eine Art, die ich nicht beschreiben kann“, suchte sie nach Worten. „Papa, sie strahlt. Sie hat so ein geheimnisvolles inneres Leuchten. Die Ruhe, die sie verbreitet, hat schon bald was von Spiritualität. Verstehst du?“

Ich konnte sehen, dass Svantje beinahe ein wenig verklärt wirkte. „Ja, mein Kind. Jetzt habe ich dich wirklich verstanden. Danke. Du bist sehr weise für dein Alter.“

* * *

Mit drei Wochen Verspätung begann unser Goldkurs. Tanja hatte sich einigermaßen vom Verlust ihres Mannes erholt, wirkte aber manchmal immer noch leicht abwesend.

Bis zum Beginn der Tanzstunden waren Ilka und ich des Öfteren miteinander ausgegangen. Manchmal übernachtete ich bei ihr, wobei sie häufiger bei uns schlief; obwohl Svantje auch zuhause war. Sie hatte sich auch recht schnell in unsere Gebräuche bezüglich des Umgangs mit dem Nacktsein eingefunden.

Svantje liebte es nämlich, nur mit einem Slip bekleidet, oder auch ganz nackt, zu frühstücken. Schon als keines Kind hatte sie diese Angewohnheit, die meine Ex ihr immer wieder abgewöhnen wollte.

Ich war dafür der Adonis der späten Stunde, wie mich Svantje irgendwann einmal tituliert hatte, und es dann auch salonfähig machte. Wenn ich von der Arbeit kam, lief ich gerne nur im Unterhemd durchs Haus.

Ganz so freizügig gab sich Ilka zwar nicht, aber auch sie taperte ab und an wie Gott sie geschaffen hatte herum. Eine Badezimmertür brauchten wir eigentlich auch nur noch, wenn Besuch im Haus war.

Einen Abend, als wir im Bett lagen, sprach sie mich darauf an. „Was ist das eigentlich für eine Marotte deiner Tochter beim Frühstück? Ist das schon immer so gewesen?“

„Ja“, bestätigte ich. „Manchmal auch leider. Aber sie hat von Natur aus eine etwas höhere Körpertemperatur. Das haben wir lange nicht gewusst, bis der Kinderarzt es feststellte. Und wenn sie morgens aus dem Bett kommt, muss sie sich abkühlen. Entweder kalt duschen, oder eben für eine halbe Stunde nackt herumlaufen. Du darfst ihr aber sagen, wenn es dich stört.“

„Um Himmels Willen! Nein. Es stört mich nicht. Ich finde es nur – ja, ungewöhnlich passt vielleicht am besten. Hat dich das nie gestört?“

„Wie ich schon sagte, manchmal leider ja. Aber das war bei mir oft tagesformabhängig. Hatte also weniger mit der Situation an sich zu tun.“

„Aber“, und sie wurde leicht verlegen, „wir haben doch auch unsere Tage. Und … irgendwann war sie ja kein kleines Mädchen mehr. Sie wurde zur Frau.“

„Natürlich. Glaub mir, ich fand das auch nicht immer sehr originell, wenn das Bändchen zwischen ihren Beinen baumelte. Dann hab ich schon was gesagt. Wir haben uns schließlich darauf geeinigt, wenn sie ihre Tage hat, zieht sie sich was an.

Aber der Rest?

Klara hat Brüste, du hast welche. Und als sie bei meiner Tochter gewachsen sind, fand ich das total spannend, dabei zusehen zu dürfen. Wir haben uns auch darüber unterhalten, wie unterschiedlich ihre Seiten wuchsen. Das hatte manchmal sogar einen lustigen Touch von Anatomieunterricht beim Frühstück.

Oder auch, als ihre Schamhaare wuchsen. Auf dem Kopf ist sie mittelbraun, der restliche Körper aber hellblond.

Klara konnte darüber nie lachen und fand es eher befremdlich, wie Svantje und ich damit umgingen. Sie warf mir sogar indirekt vor, ich würde mich an meiner eigenen Tochter aufgeilen.

Zum Glück sahen und sehen wir beide das anders. Und es war und ist auch nicht so. Sie ist damit aufgewachsen, dass ich sie angucke; auch ihre Brüste oder ihre Scham. Wenn sie es stören würde, würde sie es ändern. Reicht dir das als Erklärung erst einmal aus?“

„Mehr als das“, sagte sie leise, nahm meine Hand und legte sie auf ihre nackte Brust. „Nichts anzuhaben ist toll“, wisperte sie und schob meine Hand energisch tiefer. „Und von dir angefasst und verführt zu werden, ist ein Traum“, ließ sie mich wissen und meine Hand wieder los.

* * *

Ich war sehr erstaunt, wie schnell sich ein gemeinsames Zusammenleben entwickelte. Zuerst hatte ich noch befürchtet, es würden Zwistigkeiten zwischen den Frauen aufkommen, doch das Gegenteil war der Fall. Die Ergänzungen ihrer Fähigkeiten waren enorm. Svantje ließ sich sogar von Ilka was sagen, selbst auch dann noch, wenn es schon in Richtung Erziehung ging.

Bemerkungen wie: „Den Becher kannst du auch selbst in die Maschine räumen“, wurden von Svantje nicht schnippisch beantwortet, sondern still ausgeführt.

War meine Tochter erwachsen geworden? Taten die Hormone vielleicht auch was dazu bei? Mir gegenüber war sie auch irgendwie milder geworden; nicht mehr so aufsässig und auf Konfrontationskurs.

* * *

Ich war eines Montagmorgens gerade in der Firma angekommen, als mein Mobiltelefon die Melodie wiedergab, die ich meiner Tochter zugeordnet hatte. „Ja. Was gibt es?“

„Ich bin hier im Rektorat. Man will dich sprechen, weil ich schwanger und noch nicht volljährig bin. Kommst du bitte her. Es gibt sonst Schwierigkeiten.“ Ihre Stimme war niedergeschlagen und der Verzweiflung nahe.

„Ist der Rektor in deiner Nähe?“, erkundigte ich mich und wurde nach ihrer Bestätigung weitergereicht.

„Moin, Herr Richards“, begrüßte ich ihn mit gewollter Kühle in der Stimme, nachdem er sich gemeldet hatte. „Ja, es ist Tatsache. Meine Tochter ist schwanger, der Kindsvater ist bekannt, hält sich aber sehr bedeckt, was das Produkt seiner kurzfristigen Leidenschaft zu meiner Tochter anbelangt. Übermorgen wird Svantje 18. Müssen wir jetzt tatsächlich noch ein Fass aufmachen? Oder übersteigt es ihre Kräfte – oder auch Kompetenzen – einem schwangeren jungen Mädchen eher die Steine aus dem Weg zu räumen, als zusätzlich welche dorthin zu schaffen?“

Auf der Gegenseite war es für ein paar Sekunden sehr still. „Wir haben aber unsere Vorschriften und Regeln, Herr Thorsson. Wir können hier nicht …“

„Gäbe es die Ausnahme nicht, bräuchte es die Regel erst gar nicht“, schnitt ich ihm das Wort ab. „Aber wenn Sie drauf bestehen, werde ich meine Tochter selbstverständlich jetzt gleich abholen und übermorgen kommt sie dann wieder, weil sie dann ja volljährig ist. Wollen Sie, dass ich das so mache?“, forderte ich ihn heraus. Die Dispute mit ihm aus der Vergangenheit wurde gerade in Bildern wieder lebendig.

„Nein. Natürlich nicht“, knickte er ein. „Nur müssen wir besondere Vorkehrungen treffen. Sie kennen ja die Bürokratie, wenn eine schwangere Schülerin in der Schule ist“, versuchte er, sein Regelwerk zu verteidigen.

„Nö. Kenne ich nicht. Woher auch? Ist die erste Schwangerschaft meiner Tochter. Ich hab da zum Glück noch keine Erfahrungen“, bellte ich ihn an, weil er mir als Paragrafenreiter schon immer auf die Nerven gegangen war. „Also kann sie bleiben?“

Es folgten noch ein paar Belehrungen, die ich über mich ergehen ließ, und dann war dieses, meiner Meinung nach völlig überflüssige, Telefonat zu Ende.

Ich ging den bekannten Zeitplan der Abschlussklausuren in Gedanken durch. Ende April würden die letzten Arbeiten geschrieben werden. Sollte sich die Frauenärztin nicht verrechnet haben, passte das mit der Geburt so gerade eben. Still hoffte ich, dass dieser Rektor intern kein Fass aufmachte; denn das traute ich ihm zu.

Wie ich Tage später erfahren hatte, beließ er es tatsächlich bei diesem einen Gespräch.

* * *

Still und leise hatten wir alles vorbereitet. Oben war es noch ganz ruhig. Also schlichen wir hinauf und in Svantjes Zimmer.

Wir knieten uns vor das Bett und ich küsste meine Kleine Große wach. „Guten Morgen, mein Schatz“, flüsterte ich, als sie die Augen aufgeschlagen hatte. „Wir möchten gern die Ersten sein, die dir zu deinem 18. Geburtstag gratulieren.“

Als auch Ilka sie fast schon mütterlich an sich drückte und liebkoste, gab es für mich keine Zweifel mehr. Ich wusste es jetzt sehr genau. Ich würde jetzt nicht mehr lange warten können. Nur wollte ich auch den passenden Moment abwarten, sie endlich zu fragen.

Entgegen ihrer Angewohnheit hatte sich Svantje einen Bademantel übergezogen und wir geleiteten sie zum festlich gedeckten Frühstückstisch. Überall hatten wir kleine verpackte Geschenke verteilt, die sie sehr sorgfältig und mit viel Genuss auspackte.

Wir hatten ein ausgewogenes Verhältnis gewählt, ein paar Sachen für das Kind und Herzenswünsche für Svantje.

„Der tollste Geburtstag überhaupt“, strahlte sie und betrachtete jedes einzelne Geschenk noch einmal.

„Deine Post“, wies ich auf einen kleinen Stapel auf dem Teewagen.

Bevor sie aufstand, sah sie mich recht besorgt an und fragte vorsichtig: „Hat SIE auch … ?“

Ich nickte. „Ein Brief.“

Unschlüssig stand sie auf, sichtete die Post und gab mir den Brief ihrer Mutter. „Mach du bitte auf“, bat sie mich ängstlich. „Ich trau mich nicht.“

Sorgsam öffnete ich das Couvert und schaute in den Umschlag. Ein Geldschein und ein Zettel, wohl von einem Notizblock abgerissen.

Alles Gute zum Geburtstag. Anbei Geld für einen Wunsch. Mich hast du ja aus deinem Leben geschmissen. Alles Gute. Klara

Bevor ich meiner Tochter den Zettel gab, hatte auch Ilka einen schnellen Blick darauf geworfen. „Das muss man nicht gelesen haben, Svantje“, nahm sie mir den Zettel ab. „Wenn du möchtest, dann werfe ich ihn einfach weg.“

Betrübt kroch meine Tochter zu mir auf den Schoß und kuschelte sich an. Tastend suchte sie Ilkas Hand hinter sich, hatte sie gefunden und sie ganz fest umklammert. „So gemein?“, fragte sie traurig.

„Nein, nicht gemein, Svantje“, sagte Ilka weich. „Kalt. Verletzt.“

„Hast du es ihr erzählt, Papa“, fragte sie mich.

Ich wusste sofort, was meine Tochter meinte. „Nein. Noch nicht. Nicht ohne dein Wissen. Möchtest du denn, dass ich es erzähle? Jetzt? An deinem Geburtstag?“

„Ja“, kam es ganz leise und sie rollte sich noch mehr zusammen.

„Nun gut“, schnaufte ich und ließ die alten Bilder zu. „Ilka, es gibt noch einige unschöne Begebenheiten, die wir bisher nur Karsten anvertraut haben. Nicht einmal meine Eltern wissen davon.

Es fing vor fünf Jahren an. Irgendwie habe ich durch einen dummen Zufall erfahren, dass Klara mich mit einem viel jüngeren Mann betrügt. Ich stellte sie natürlich zur Rede. Sie aber wich mir aus. Also habe ich die Notbremse gezogen und sie aufgefordert, mein Haus zu verlassen. Wir hatten aus verschiedenen Gründen Gütertrennung vereinbart.

Sie wollte aber nicht ohne ihr Kind gehen.

Um Svantje dennoch möglichst schnell aus dem beginnenden Krieg so weit wie möglich herauszuhalten, beschlossen wir gemeinsam, sie vorübergehend bei einer Schulfreundin unterzubringen.

Doch Klara hielt sich nicht an die Abmachung. Sie fing Svantje auf dem Weg von der Schule dorthin ab und log ihr vor, wir wollten noch einmal alle gemeinsam reden. Also stieg sie in den Wagen.

Ich wähnte sie bei ihrem vorübergehenden Zuhause, bis mich die Eltern anriefen und mir sagten, dass Svantje nicht da sei. Das war abends nach 20 Uhr. Ich alarmierte sofort die Polizei und gab auch die Umstände dort soweit bekannt, dass die 24-Regelung nicht greifen konnte. Denn ich wusste, dass Klara sie entführen würde, nur um sich an mir zu rächen.

Stunden später griff man sie zu dritt an der französischen Grenze auf. Svantje lag gefesselt und geknebelt im Kofferraum. Klaras Freund war in diesem Fall der Täter gewesen.

Aus Angst um ihr Leben, und weil man sich die ganze Fahrt über auch nicht um sie gekümmert hatte, hatte sie sich die Hosen vollgemacht. Sie war vorn herum nass, hinten teilweise schon verkrustet, unterkühlt und völlig verstört.

Ich verlangte noch am Telefon, dass man sie nicht irgendwo, sondern nach Hamburg in ein von mir benanntes Krankenhaus brachte. Aufgrund der vorgerückten Stunde fand dies erst am Folgetag statt. Ich war noch in der Nacht mit dem Wagen zu ihr gerast.

Klara und ihr Freund waren vorerst in polizeilichem Gewahrsam.

Am nächsten Tag erwirkte ich per Eilantrag das vorerst alleinige Sorgerecht für meine Tochter. Die Verlegung ins Krankenhaus verlief zum Glück problemlos. Bei jeder Untersuchung war ich dabei. Auch, als man sie intim untersuchte. Aber so weit war er dann doch nicht gegangen.

Trotzdem kam er für über ein Jahr ins Gefängnis. Klara wurde zu neun Monaten auf Bewährung verurteilt.

Die Scheidung prügelte ich noch vor Ende des Trennungsjahres durch. Zwischenzeitlich war Svantje 14 Jahre geworden und durfte mitentscheiden, bei wem sie wohnen wollte.

Dass Klara nicht geeignet war, sich um ein Kind angemessen zu kümmern, sah auch die Richterin ein, und entsprach dem Wunsch meiner Tochter, bei mir wohnen zu wollen.

Klara überhäufte mich daraufhin mit Klagen und Eingaben, ihr die Tochter für das Besuchsrecht herauszugeben. Doch Svantje wehrte sich mit Händen und Füßen, das Haus zu verlassen.

Ich wurde verklagt, weil ich angeblich meine Tochter dahingehend beeinflussen würde, die Mutter abzuweisen. Der Prozess ging zu meinen Gunsten aus.

Klara fand einen anderen Mann und heiratete ihn. Ein weiterer Versuch ihrerseits, die Tochter zu besuchen, endete in einer Schlägerei und dem Einschreiten der Polizei.

Ihr Mann wurde handgreiflich, wollte Svantje gegen ihren Willen aus dem Haus zerren, begrabbelte sie dabei auch noch im Schritt und an den Brüsten.

Daraufhin habe ich ihn kurz und knapp mit ein paar gezielten Faustschlägen und Hieben bearbeitet. Ich hab ihm die Nase gebrochen. Und zwei Rippen. Svantje hatte sich geistesgegenwärtig in ihrem Zimmer verbarrikadiert und über ihr Mobiltelefon die Polizei gerufen.

Danach tauchte Klara nur noch nach vorheriger schriftlicher Anmeldung auf. Doch meine Tochter verweigerte jedweden Kontakt. Sie schloss sich ein, haute ab, versteckte sich irgendwo bei Nachbarn.

Natürlich gab das wieder Ärger wegen Kindesentzugs. Doch auch den Prozess gewannen wir. Svantjes Aussagen fielen voll ins Gewicht, was in der Mutter weiteren Hass gegen mich schürte.

Irgendwann entschied sie, mit ihrem Mann nach Australien auszuwandern. Der letzte Besuch von Klara liegt jetzt über zwei Monate zurück. Der Briefmarke aber nach zu urteilen, sind sie noch in Deutschland. Svantje hat immer noch Angst. Und das nicht zu Unrecht. Aber sie ist auf den Schulwegen keinen Meter allein. Alle, die sie kennen, beschützen sie außerhalb dieser Mauern, holen sie ab und bringen sie wieder nach Hause.

Das ist in einer sehr gekürzten und äußerst oberflächlichen Fassung das, was Svantje und ich durchleben mussten. Doch diese Erlebnisse haben uns nur noch mehr zusammengeschweißt, als dass sie uns trennen konnten“, schloss ich meinen Bericht fürs Erste ab.

Ich schaute zu Ilka, die fassungslos vor sich hin starrte. Nur sehr langsam kam sie wieder zurück in die Gegenwart. Nach einigen Momenten der absoluten Regungslosigkeit stand sie auf, ging um mich herum und vor Svantje auf die Knie, um sie zart zu umfassen. Liebevoll küsste sie ihr die Stirn und suchte ihren Blick.

„Ich hab dich lieb, Ilka“, wisperte Svantje von sehr weit her, vergrub ihr Gesicht noch tiefer und heulte ihre Angst und Verzweiflung heraus.

Nach dieser Offenbarung der Vergangenheit dauerte es ein paar Tage, bis der normale Alltag wieder bei uns eingezogen war.

Nicht selten sah ich nun Svantje in enger Umarmung mit Ilka irgendwo stehen, sitzen oder auf dem Sofa liegen. Meine Tochter hatte sich dann immer ganz fest an sie geschmiegt und genoss einfach nur die Nähe. Es war nicht zu übersehen, dass die beiden sich auf freundschaftliche Weise innig liebten.

Ich ging in Gedanken sogar noch einen Schritt weiter. Ilka war nicht nur ein Mutterersatz. Sie füllte die Rolle einer Mutter mit sehr viel Liebe und Zuneigung in Gänze aus.

Trotz ihrer jungen Jahre besaß sie eine Größe, die einige deutlich ältere Mütter nie würden erreichen können. Meine Tochter, die irgendwie auch schon Ilkas Tochter war, vertraute sich ihr bedingungslos an.

* * *

Es war die dritte oder vierte Stunde, als Tanja uns mal wieder vorher abfing. „Sagt mal, darf ich offen reden?“

Was kam denn jetzt schon wieder? Ilka und ich sahen uns wissend an. Wir nickten.

„Ihr wisst schon, dass ihr mit eurem Verhalten ein wenig die Blicke auf euch zieht?“, wollte sie dann doch sehr direkt wissen.

Bevor Ilka eine ihrer spontanen Antworten geben konnte, drehte ich sie zu mir und sah ihr fest in die Augen. Ja, wir wussten, dass wir auf der Tanzfläche rumknutschten, Händchen hielten, miteinander alberten. Aber durfte man das nicht, wenn man sich liebt?

War ausgerechnet jetzt der passende Zeitpunkt gekommen? Ohne Romantik? Ich sah wieder Svantje sich bei ihr Schutz suchend anschmiegen.

Es war der perfekte Moment!

Ich erfasste Ilkas Hände, gab ihr einen Kuss auf die Stirn und beugte meine Knie vor ihr. „Liebe Ilka. Ich möchte dich hier und jetzt fragen: Kannst du dir vorstellen, meine Frau zu werden? Willst du dein Leben mit mir verbringen? Möchtest du eine erwachsene Tochter bekommen und die wahrscheinlich jüngste Oma der Welt werden?“

Mit ihrer Antwort hatten nicht nur unsere Mittänzer was zu glotzen. Wir waren für die Minuten unseres vollkommenen Glücks Mittelpunkt der ganzen Tanzschule – und unserer kleinen Welt.

„Einen Wiener Walzer“, rief ich Tanja zu und sauste mit meiner Verlobten auf die Tanzfläche.

Ich glaube, dass Tanja noch nie so schnell irgend eine Musik parat hatte. Das Intro zum Walzer An der schönen blauen Donau von Johann Strauß Sohn erklang.

Wir wogen eng umschlungen sanft im Takt mit, sahen uns nur in die Augen, tauschten zart liebende Küsse aus, vergaßen die Welt um uns. Ilka strahlte über das ganze Gesicht, ihre Augen glänzten seidig im Schein der bunten Strahler.

Irgendwann nahmen wir den Walzertakt wahr, tanzten verhalten erste Schritte; und dann plötzlich – schwebten wir.

Niemand wagte auch nur im Ansatz, ebenfalls mit auf die Tanzfläche zu kommen. Hatte es sich schon rumgesprochen?

Noch nie hatte ich einen Wiener Walzer über fast 10 Minuten am Stück getanzt.

Als aber der gewaltige Schlussakkord verklungen war, tobte die Menge vor Begeisterung.

Tanja kam zu uns auf die Tanzfläche. Ilka und ich hielten uns in den Armen, rangen noch ein wenig nach Luft und waren skeptisch, was nun noch kommen würde. Doch entgegen allen Befürchtungen, sagte sie in ihr Headsetmikro: „Liebe Ilka, lieber Jan. Herzlichen Glückwunsch zur Verlobung.“

Erneut brandete Applaus auf.

Ich bat derweil um ein Mikrofon. Als die Menge sich beruhigt hatte, startete ich zum Gegenangriff auf Tanjas Worte. „Tja, so kann es gehen“, begann ich. „Ich habe nämlich vor gut fünf Monaten auch noch nicht gewusst, dass ich hier meine Liebe finden würde. Denn nach einer herben Enttäuschung mit erbittertem Rosenkrieg wird man sehr vorsichtig. Doch meine Ilka hat mich auf ihre zauberhafte Art und Weise wissen lassen, dass es keine Altersgrenze für die Liebe gibt; und schon gar keine Obergrenze beim Altersunterschied.

Wenn es euch also stört, dass wir uns manchmal wie Pubertierende benehmen, dann seht doch einfach weg. Oder habt ihr aufgehört, zu lieben? Ein Kuss, eine liebende Umarmung, das kann doch kein Grund sein, sich über jemanden aufzuregen.

Aber genug davon. Tanja, wie viel Sekt hast du kaltstehen? Meine Verlobte und ich möchten nämlich jetzt mit euch anstoßen. Auch aus dem Grund, dass es erst 17 Minuten her ist, als sie meine Frage, ob sie meine Frau werden möchte, stürmisch und für alle sichtbar auf ihre einzigartige Weise mit JA beantwortet hat.“

Wir hatten viele Hände zu schütteln, wurden umarmt und geherzt.

An dem Tag fand die Tanzstunde nur noch sporadisch statt.

Wie wir später im Verlauf der weiteren Stunden feststellen durften, waren wir nicht mehr Zielscheibe für Tuscheleien. Im Gegenteil. Verhalten tauschte man hier und da plötzlich verschämte Küsschen aus oder tanzte eng zu einem langsamen Walzer zusammen, anstatt ihn auszuleben.

* * *

Als wir am Abend nach Hause kamen, saß Svantje im Wohnzimmer und las. „Was strahlt ihr denn so?“, schaute sie uns an. „Ihr bekommt das Lachen ja gar nicht mehr aus dem Gesicht!“

Wir setzen uns an je eine ihrer Seiten.

Ich überlegte noch einmal kurz, wie ich anfangen wollte.

Doch Ilka hielt es einfach nicht mehr aus. „Svantje“, sprach sie geheimnisvoll und legte ihr eine Hand auf die Wange, „dein Papa hat mich heute gefragt, ob ich seine Frau und für dich …“

„WAS?!“, rief sie überrascht dazwischen „Ihr heiratet? Echt? Mit Standesamt und Kirche und so? So richtig? So richtig echt?“ Sie war ganz aus dem Häuschen vor lauter Aufregung.

„Ja, Svantje“, sagte Ilka gefasst. „Ich habe Ja gesagt. Aber nicht nur zu deinem Papa, sondern auch für dich. – Wegen dir.“

Unsere Tochter fiel ihr stürmisch um den Hals und küsste sie mitten auf den Mund. „Ich hab dich so lieb“, weinte sie vor Freude. Und fast nicht mehr wahrnehmbar hauchte sie: „Mama“, vergrub ihr Gesicht an Ilkas Hals und es gab für sie kein Halten mehr.

Ein Weinkrampf von bisher nie da gewesener Heftigkeit schüttelte sie am ganzen Körper.

Ilka und ich tauschten nur Blicke aus. Wir wussten beide nicht, was momentan in unserer Kleinen vor sich ging, welche Welten in ihr gnadenlos aufeinanderprallten. War es die reine Freude? War es, weil sie jetzt eine Mutter bekam, von der sie wirklich geliebt wurde?

Verhalten kraulte ich Svantje in kleinen Kreisen über den Rücken.

Nur sehr langsam kam sie wieder zur Ruhe, löste sich von Ilka und nahm auch mich in die Arme. „Das ist schön, Papa. Ich wünsche euch von Herzen alles Glück der Welt“, und auch ich bekam einen Kuss auf den Mund.

Nachdem sich die Gemüter wieder beruhigt hatten, wurden wir nacheinander angesehen. „Und wann?“, forderte Svantje eine Antwort von uns. „Wann werdet ihr heiraten?“

„Langsam, Kleines“, bremste ich sie. „Heute haben wir uns verlobt. In zwei Wochen ist Weihnachten. Wenn wir feiern wollen, müssen wir bis nach Neujahr warten. Es wird kein Festsaal frei sein. Und ich glaube, dass vornehmlich Ilka und ich uns Gedanken machen müssen. Wir brauchen Urlaub für die Hochzeitsreise, müssen die Gästeliste erstellen und Einladungen verschicken. Unterbringung der Gäste ist auch wichtig. Du siehst also, dass sehr viel und noch mehr zu bedenken ist. Momentan sind für mich eigentlich nur ein paar Dinge wichtig. Ilka muss entscheiden, ob sie zu uns ziehen möchte, oder in ihrer Wohnung bleibt, bis wir nach Schweden ziehen. Denn sie ist sich durchaus bewusst, dass sie uns natürlich in die alte Heimat begleitet. Sie hat mir auch schon gesagt, dass sie im neuen Jahr ihre Kündigung zu Ende Juni einreichen wird. Ich meine auch, dass …“

„Natürlich ziehe ich jetzt hierher!“, unterbrach mich meine Verlobte und sah uns abwechselnd aus großen Augen an. „Das ist doch gar keine Frage! Meine kleine Wohnung werde ich mit Handkuss los. Dafür habe ich ganz schnell einen Nachmieter. So nahe am Grindel und damit der Uni ist eine begehrte Wohnlage. Und ob ich nun von dort zu Fuß oder von hier mit der Bahn in die Stadt zur Arbeit fahre, spielt zeitlich keine Rolle. Und außerdem möchte ich jetzt nicht mehr ohne meine Familie sein“, zwinkerte sie uns zu und musste lachen.

* * *

Am Nachmittag des vierten Advents kam Gunnar auf meine sehr nachdrückliche Einladung zu Besuch.

„Setz dich bitte“, deutete ich auf einen Sessel im Wohnzimmer.

Ilka und Svantje saßen bereits auf dem Sofa. Ich beobachtete ihn. Er sah kurz hin, nahm beide zur Kenntnis und setzte sich. Wortlos. Ich nahm auf dem ihm gegenüberstehenden Sessel platz. Aus dem Augenwinkel erhaschte ich Ilkas Blick.

„Am Telefon habe ich dir ja schon gesagt, warum wir dich sprechen wollen“, kam ich somit direkt zur Sache. „Svantjes Version kennen wir bereits. Nicht in Details. Das geht uns auch nichts an. Nur so viel wissen wir, dass sie gesagt hat, du bist in der Verantwortung. Wir möchten jetzt gerne deine Version hören.“

Er nickte in Ilkas Richtung, ohne sie anzusehen, und fragte recht gelangweilt: „Wer ist das?“

„Kein guter Einstieg, Gunnar“, sagte ich herablassend. Kurz fixierte ich meine Damenriege, bevor ich mit ernster Miene erklärte: „Meine Frau. Ist das ein Problem?“

Erste Unsicherheit konnte ich bei ihm erkennen. Er schüttelte betreten den Kopf.

„Also. Bitte. Wir sind ganz Ohr“, forderte ich ihn nochmals freundlich auf.

„Ja. Wir haben eben so rumgemacht“, begann er und starrte in Richtung seiner Knie. „Kein Sex oder so. Sie wollte nicht. Und irgendwie“, er zuckte gleichgültig mit den Schultern, „bin ich gekommen. Hab auf sie abgespritzt. Sie hat ja gesagt, sie nimmt die Pille. Konnte ja nix passieren. Wenn sie die Dinger nicht nimmt, kann ich ja …“

„Danke, junger Mann“, unterbrach ich ihn harsch. „Jetzt mal so ganz profan. Schon mal …“

„Pro was?“, fiel er mir ins Wort. Sein dümmlicher Gesichtsausdruck sagte alles.

„Simpel. Einfach“, stufte ich mich herab. „Für dich. Zur Erklärung. Die Pille ist im Normalfall ein sehr sicheres Verhütungsmittel. Ich betone noch einmal: im Normalfall. Aber bestimmte Einflüsse können die Wirkung der Pille aufheben; oder zumindest einschränken. Zum Beispiel Stress, eine Erkältung oder eine richtige Krankheit, wie die Grippe. Soweit ich informiert bin, macht Svantje im kommenden Frühjahr Abitur. Sie ist also im Dauerstress. Und wenn du aufmerksam zugehört hast, kann Stress die Wirkung der Pille schlecht beeinflussen. Kannst du mir soweit folgen?“

Ich sah in ein teilnahmsloses Gesicht.

„Wollen Sie später einmal ernsthaft Kinder mit einer Frau haben?“, fragte Ilka sehr zurückhaltend.

Erschrocken wandte er sich ihr zu. „Ja. Denke schon“, antwortete er wenig begeistert.

Ich erkannte augenblicklich in Ilka etwas aufsteigen, das ich noch nie gesehen hatte. Und es machte mir Angst. Richtige Angst. Es sah aus, als wenn sie innerlich vor Wut kochte.

Sie rückte nach vorn auf die Sitzkante und fixierte ihn mit einem eisigen Blick. „Dann hoffe ich und wünsche ich mir für alle Frauen auf der Welt“, zischte sie bis aufs Äußerste gereizt, „dass Sie nie wieder einen Orgasmus in der Nähe einer Femina haben. Gratiam Iuvenis. Ich möchte Sie in diesem Haus NIE wieder sehen. Überhaupt möchte ich Sie NIE WIEDER sehen. Wenn das Kind da ist, werden wir einen Vaterschaftstest einklagen. Und ich garantiere Ihnen bereits jetzt, Sie werden bis zum Ende von Studium oder Ausbildung des Kindes zahlen. Sie werden auch Unterhalt für Svantje zahlen. Jeden einzelnen Cent werden Sie zahlen! Alles Weitere werden Sie von unserem Causidicus hören – oder lesen. Wenn Sie überhaupt lesen können! Guten Tag. Und dort ist die Tür. Ich verlange, dass Sie sofort dieses Haus verlassen!“

Wie eine Löwin hatte sie sich auf ihn gestürzt, sich vor Svantje geworfen und sie bis aufs Blut verteidigt, sie beschützt.

Er sprang völlig verängstigt auf und flüchtete aus dem Haus. Die Tür krachte ins Schloss. Im Wohnzimmerschrank klirrten leise die Gläser.

„Was war das denn eben?“, herrschte ich Ilka aus Versehen an. „Was hast du dem denn alles um die Ohren gehauen?“

Sie war wie ausgewechselt. „Latein. Und?“, antwortete sie in ihrer ruhigen Art.

„Ja. So viel kann ich auch noch“, holte ich mich ebenfalls langsam wieder runter. „Aber warum?“

„Schnösel“, war ihre erste Reaktion.

Svantje hockte völlig verstört auf dem Sofa. Fassungslosigkeit war die mildeste Beschreibung dessen, wie sie aussah.

Ilka drehte sich um und schloss sie fest in ihre Arme. „Es ist vorbei, Svantje“, flüsterte sie. „Entschuldige, dass ich eben so ausgerastet bin. Aber dir so etwas anzutun und dann so zu reagieren, da sind bei mir alle Sicherungen durchgebrannt.“ Liebevoll streichelte sie ihr über den Kopf. „Dein Papa und ich“, sprach sie leise weiter, „wir werden dich beschützen. Er und ich, wir werden in ein paar Wochen heiraten. Ich komme zu euch in die Familie. Und damit übernehme auch einen Teil Verantwortung dir gegenüber. Und diese Verantwortung nehme ich sehr ernst. Auch jetzt schon. Es ist mir an dieser Stelle auch egal, ob du schon volljährig bist oder nicht. Svantje, ich will dir die Gewissheit geben, dass du immer zu mir kommen darfst. Egal mit was.“

* * *

„Schläft sie?“, wollte ich wissen, als Ilka zu mir unter die Decke gekrabbelt kam. Ich konnte meine eigene Unsicherheit hören.

„Nur vor lauter Erschöpfung“, antwortete sie matt. „Und das so kurz vor Weihnachten“, entließ sie bedrückt in die Dunkelheit.

„Ich bewundere dich!“

„Warum“, klang sie überrascht.

„Erinnere dich an letzte Woche, Ilka.“ Die Bilder vor meinem geistigen Auge liefen mittlerweile als Film ab. „Als wir ihr … du ihr … sie hast wissen lassen, dass wir heiraten wollen. Lass deine Erinnerung zu. Als sie sich an dich geklammert hat. Heulend. Vor Glück heulend. Und sie … Mama …“ Weiter kam ich nicht.

„Ich weiß.“ Nur aus diesen beiden kleinen Worten strömte ihre unermessliche Herzenswärme. „Ich weiß, was du meinst, Jan. – Gib mir ein wenig Zeit. Sie wird … nein, ich glaube .. weiß … sie ist mein Kind. – Unser Kind. – Jan, ich wünsche mir, dass sie unser Kind ist.“

* * *

In einem Weihnachtsbrief hatten Ilka und ich gleichzeitig auch unsere Verlobung bekannt gegeben. Die Einladungen zur Hochzeit kündigten wir zu einem späteren Zeitpunkt mit gesonderter Post an.

Svantje hatte darum gebeten, nichts von ihrer Schwangerschaft zu verraten. Das wollte sie selbst zu einem von ihr bestimmten Termin machen.

Im Januar waren wir zu dritt nach Schweden gereist, um sowohl Ilkas als auch meine Eltern nicht nur mit einem profanen Brief abzuspeisen. Zwar hatten wir bereits telefonisch die Veränderungen in unser dreier Leben verraten, doch bevor wir heirateten, sollten sich die werdenden Schwiegereltern ein Bild vom zu ehelichenden Partner machen.

Da ich meine Eltern sehr gut kannte, hatte ich sie auch sehr behutsam auf Ilka vorbereitet. Doch wie schon zuvor bei meiner Tochter, eroberte sie die Herzen von Mama und Papa im Sturm. All meine Sorgen und zurechtgelegten Erklärungen durfte ich getrost vergessen.

Ihre Eltern waren da wesentlich unkomplizierter, zumal Ilkas Vater auch über 10 Jahre älter als seine Frau war. Nur Hilla, ihre Schwester, und ihr Bruder Juho brauchten ein, zwei Tage, bis sie mich als den zukünftigen Mann ihrer geliebten Schwester akzeptierten. Wirklich verwundern tat es mich nicht.

* * *

„Kannst du dir das mal bitte durchlesen“, trat meine Tochter Anfang Februar eines Abends unvermittelt in mein Arbeitszimmer und legte mir eine Seite handbeschriebenes Briefpapier hin.

Ich schaute zu ihr auf, wie sie da neben mir stand, unschlüssig, verunsichert.

Entschlossen rollte ich vom Schreibtisch zurück und holte Svantje auf meinen Schoß, griff zum Papier und las still.

Liebe Familie, Verwandte, Freunde und Bekannte.

In ein paar Wochen wird mein Papa heiraten. Ich kann ehrlichen Herzens sagen, dass ich mich auf Ilka freue.

Doch es ist nicht die einzige neue Nachricht aus unserer kleinen Familie. Ich werde nämlich nicht allein zur Hochzeit kommen, sondern fast zu zweit. Wenn wir uns im März sehen, werdet ihr mich mit einem Kugelbauch antreffen. Ich bin dann im 7. Monat.

Bitte fragt mich nicht, was es wird. Ich weiß es nicht und ich will es auch nicht wissen. Über den Kindsvater wird es auch keine näheren Informationen geben.

Und noch eine sehr ernst gemeinte Bitte: Ich mag es nicht, wenn all und jeder ankommt und meint, er oder sie müsse meinen Bauch streicheln, oder mich sonst irgendwie anfassen. Nur Papa und Ilka und ein paar sehr handverlesene Menschen dürfen das ungefragt. Bitte akzeptiert es so. Danke.

Bis zum Wiedersehen wünsche ich euch noch eine schöne Zeit.

Liebe Grüße

Svantje

Ich küsste sie auf die Wange und sagte: „Sehr gut, mein Kind! Denn es ist dein Kind und es ist dein Bauch. Dass ich aber ungefragt darüberstreichen darf, das wusste ich nicht. Ich dachte immer, du magst es gar nicht.“

Vorsichtig tastete sie nach meiner Hand und schob sie unter den weiten Pullover auf ihren kleinen Hügel. „Wenn du es machst, Papa, ist das was ganz anderes.“ Eine heimliche Sehnsucht schwang in ihren Worten. „Von dir mag ich das sogar besonders gern, weil du sehr zart dabei bist. Ich wünsche mir manchmal sogar, dass du es einfach nur so machst. Vielleicht merkt ja das kleine Zwerglein auf diese Weise schon, was es für einen tollen Opa bekommt.“

Sanft kraulte ich über ihre kleine Wölbung. „Das Zwerglein weiß aber auf jeden Fall schon mal, dass es eine tolle Mama bekommt“, sagte ich überzeugt.

„Ja“, flüsterte sie. „Ich freue mich auch. Ich bekomme ein Kind. Einen Zwerg. Mein Kind.“

Wieder strich ich kleine Kreise über ihren Bauch. „Und das ist das Wichtigste, Svantje. Dass du dich auf das Kind freust. Du wirst eine großartige Mutter werden. Das weiß ich heute schon. Und du weißt, dass Ilka und ich immer im Hintergrund für dich bereit stehen.“

„Kommt Ilka denn heute noch nach Hause?“, fragte sie mich noch, als sie aufstand und den Brief wieder an sich nahm.

„Ich weiß nicht. Sie wollte noch zu sich und ein paar Sachen packen. Übermorgen kommt ja die Spedition. Vielleicht ist sie noch nicht ganz fertig? Warum?“, wollte ich wissen.

Sie schmunzelte, als sie trotzdem ernst genug sagte: „Meine neue Mama soll es erst lesen, dann erst werde ich ihn per Mail wegschicken. Sie soll vorher wissen, was drin steht. Nicht hinterher.“

Ich zog meine Tochter an den Hüften noch einmal nah heran, hob den Pullover ein Stück an und küsste ihren nackten Bauch. „Du magst Ilka sehr, stimmt’s?“

„Sehr, Papa“, und sie wurde wieder nachdenklich, wirkte wieder unschlüssig und legte den Bogen auf den Schreibtisch.

„Und was noch?“, hakte ich nach.

„Nee“, schüttelte sie den Kopf. „Dann lachst du mich aus.“ Ihre Hände ruhten auf meinen Schultern.

„Nein. Werde ich nicht. Denn dich beschäftigt etwas. Und darüber mache ich keine Witze. Das weißt du“, ließ ich sie mit Bestimmtheit wissen.

Sie zögerte dennoch kurz. Als wäre es ihr peinlich, flüsterte sie: „Ich würde zu Ilka aber trotzdem gern Mama sagen. Ich mag sie. Sehr. Und sie ist wirklich wie eine – meine Mama.“

„Dann sag es ihr genau so“, bestärkte ich sie. „Vielleicht muss sie sich auch erst noch daran gewöhnen, dass sie eine Mama für dich wird. Svantje, lass dich nicht entmutigen. Du magst sie und du hängst an ihr. Du liebst sie. Und wenn sie das verstanden hat, dann wird sie auch das Wort Mama aus deinem Mund nicht mehr komisch finden, sondern sich geehrt fühlen, dass du sie als solche akzeptierst. Versuche es doch einfach.“

„Gar nichts musst du versuchen, mein Kind“, sagte eine weiche liebevolle Stimme in den Raum. „Keine Angst, ich wollte euch nicht belauschen. Ich bin den Stimmen nachgegangen und hab die letzten Sätze mitbekommen.“

Ilka breitete ihre Arme aus. „Svantje, komm zu mir“, und empfing ein immer noch leicht verunsichertes großes Kind.

„Wenn du Mama sagen willst, dann scheu dich nicht. Ich danke dir für diesen großen Vertrauensvorschuss, den du mir schenkst. Bitte gib mir aber ein paar Tage Zeit, denn ich habe noch nie eine so große Tochter gehabt.“

Liebevoll küsste sie ihr die Tränen von den Wangen und gab ihr einen zarten Kuss auf Mund und Stirn. „Ich hab dich auch sehr gern, Svantje. Sehr. Danke für deine Liebe zu mir.“

Meine Tochter streckte mir ihre Hand entgegen und bat um den Brief. „Ich möchte, dass du das hier erst liest, bevor ich es wegschicke. Du sollst wissen, was drin steht, weil / wenn es auch um dich geht.“

Still las sie sehr aufmerksam die Zeilen und ließ das Blatt sinken. „Ich darf was?“, schaute sie Svantje mit großen Augen an. „Ich darf dir einfach so über deinen Bauch streicheln, wenn mir danach ist?“

„Genau so hab ich auch reagiert, Ilka. So ist es.“

„Papa hat mir sogar eben einen Kuss darauf gegeben“, sagte sie mutiger. „Und … und ihr seid doch … meine … mein Papa … und … meine …“, wieder verunsicherte sich ihr Blick, und dann sprach sie es doch aus: „Mama“, drückte sich an Ilka und weinte vor Freude. „Ihr seid doch meine Eltern und werdet Großeltern“, schluchzte sie befreit.

Ich stand auf und nahm meine beiden Frauen in die Arme. „Ja, mein Schatz. Wir sind deine Eltern. Mama und Papa. Wir sind jetzt eine Familie.“

* * *

Unser großer Tag näherte sich mit ebensolchen großen Schritten. Parallel dazu stieg auch unsere Aufregung exponentiell an; obwohl es für mich ja schon der zweite Versuch war, mich zu binden. Trotzdem konnte ich meine Nervosität nicht immer unter Kontrolle halten.

Zwei Wochen noch, dann wollten wir uns auf der Rickmer Rickmers vor dem Standesbeamten das Ja-Wort geben, danach in feierlichem Gottesdienst in meiner Kirche, dem Michel.

Die Zeit raste nur so dahin. Vorbereitungen hier, dort die Blumen für das Auto bestellen, den Hochzeitsstrauß nicht vergessen, Anprobe beim Schneider, und weitere tausend Sachen, für die wir eigentlich keine Zeit hatten und sie dennoch erledigt bekamen.

Wir lagen in den Betten. Vom letzten Tag der Woche geschafft, vor uns ein Wochenende. In der kommenden Woche hatten wir bereits Urlaub, um den Endspurt unseres Marathons abgearbeitet zu bekommen.

Ilka lag in meinen Armen, kuschelte ihren Kopf auf meine Brust.

„Sag mal“, begann sie plötzlich leise, „Übermorgen ist meine Regel vorbei. Soll ich dann eigentlich die Pille noch weiter nehmen?“

WOW! Das war jetzt um diese Uhrzeit aber eine sehr weitreichende Frage. Zwar hatten wir auch schon mal drüber gesprochen, Kinder in die Welt zu setzen. Aber jetzt? So plötzlich wollte sie eine Antwort?

„Vor dem Umzug nach Schweden?“, erinnerte ich vorsichtig. „Meinst du nicht, das könnte etwas anstrengend für dich werden?“

„Schwanger sein ist nicht krank sein“, antwortete sie leicht enttäuscht.

„Natürlich nicht“, bestätigte ich. „Aber Mutter werden ist auch mit gewissen Pflichten dem Kind gegenüber verbunden. Und ich weiß nicht, ob du dich nicht übernimmst.“ Meine Sorgen waren nicht unberechtigt. Betrachtete ich rückwärtig die vergangenen Wochen, so hatte sie eine Überraschung nach der anderen aus dem Hut gezaubert, war abends ins Bett gegangen, und wenn ich aus dem Bad kam, schlief sie bereits tief und fest.

„Ich hab schon als Mädchen davon geträumt“, flüsterte sie und hielt kurz inne. „In der Hochzeitsnacht wollte ich erst meine Unschuld verlieren. Und ich wollte mit meinem ersten Kind schwanger werden. Von meinem Mann.“ Ihre Stimme zitterte erregt.

Meine Ilka. Sie war hoffnungslos romantisch. „Ein Wunsch kann aber nicht mehr in Erfüllung gehen, mein Schatz“, raunte ich und kraulte ihre Brüste.

„Ich weiß“, brummelte sie wohlig. „Macht aber nichts. Ich wollte ja nicht mehr warten.“

Ich stellte sie mir als Schwangere vor. Meine zierliche Ilka mit einem dicken Bauch. „Mein Liebling“, raunte ich und holte sie in meine Arme, umschlang sie zart. „Wenn du dich bereit fühlst, dass wir die Familie erweitern wollen, du selbst Mutter werden willst, lass sie weg. Die Natur und Gott werden entscheiden, ob sie unseren Wunsch unterstützen.“

Es wurde nass auf meiner Brust. Zitternde Finger krabbelten über meinen Bauch, tiefer und tiefer. „Liebe mich“, wisperte es kaum vernehmbar. „Schlaf jetzt mit mir.“

Sie schaffte es immer wieder, mich zu überraschen.

Nur eben wandte sie sich ab, raschelte etwas aus ihrer Nachttischschublade hervor und kurz darauf legte sie mir ein verpacktes Kondom in die Hand. Wenig später hatte ich auch noch ein Papiertaschentuch.

Sie machte Licht, schlug die Decke zurück und legte sich auf den Rücken. „Trau dich“, flüsterte sie fahrig und weitete ihre Schenkel.

Vorsichtig zog ich am Bändchen und wickelte den rosa Tampon ein.

* * *

Das Wetter meinte es gut mit uns. Gestern noch schüttete es aus Kübeln. Doch als wir heute Morgen erwachten, blinzelte die Sonne bereits durch die Vorhänge.

Als ich aus dem Schlafzimmer kam, um nebenan ins Bad zu gehen, war eine massive Kette gespannt, die das Heruntersteigen der Treppe verbot. Neugierig lauschte ich, doch von unten drang kein Laut nach oben.

Somit machten wir uns fertig und harrten der Dinge, die nun von den lieben Menschen in die Hände genommen worden waren, denen wir uns anvertraut hatten.

Svantje hatte uns gestern Abend noch mit auf den Weg gegeben, dass ab Mitternacht für ungefähr 36 Stunden unser Leben in Teilbereichen von anderen gestaltet werden würde.

Dies schien nun ein erster Teil davon zu werden.

Eine Viertelstunde später erklomm meine Tochter die Stufen, öffnete das Schloss und hängte die Kette beiseite. Wortlos wies sie uns an, ihr zu folgen.

Was dann auf uns wartete, hatten weder Ilka noch ich erwartet.

Im Wohnzimmer stand ein großer Tisch, reich mit Blumenschmuck verziert, große Messingleuchter, in denen Kerzen brannten. Zwölf Gedecke hatte ich gezählt. Karsten kam im strahlend weißen Smoking herein, nickte uns freundlich zu und bot meiner Verlobten seinen Arm an, um sie zu ihrem Platz zu geleiten. Ähnlich stilvoll nahm sich Svantje meiner an.

Erst als wir unsere Plätze eingenommen hatten, kamen Geräusche aus der Diele.

Ilkas Eltern traten ein, ihre beiden Geschwister, meine Eltern und mein Bruder. Es folgte ein großes Hallo und wir setzten uns wieder; auch Svantje und Karsten sowie sein Mann.

Auf Karstens zweimaliges Händeklatschen betraten vier junge und bildhübsche Serviererinnen den Raum und schenkten Kaffee und Tee aus.

Wenig später kamen sie mit Servierplatten zurück, auf denen alle erdenkbaren Köstlichkeiten arrangiert waren. Eine von Ihnen trug ein Korb mit Brötchen und einer erlesenen Auswahl Brot vor sich her.

„Ja sagt mal!“ Endlich hatte ich meine Sprache wiedergefunden.

„Ihr habt uns gebeten, euren Hochzeitstag zu arrangieren“, sprach Karsten würdevoll. „Und wir erweisen dir und Ilka gerne diesen Dienst. Genießt und erfreut euch. Mehr braucht ihr heute nicht tun.“

Die Umsichtigkeit der Serviererinnen war überragend. Nichts entging diesen wachen Augen.

Nach dem Frühstück nahm sich Karsten Ilkas an. „So, meine Liebe. Nun werden wir dich für den ersten Teil deiner Trauung in eine wahre Prinzessin verwandeln“, sprach es, bot ihr wieder seinen Arm an und verschwand in Svantjes Zimmer, wie ich am Zufallen der Tür deutlich vernehmen konnte.

„Und dich nehme ich mit“, ließ meine Tochter nicht lange auf sich warten, um mich hier unten ins Gästezimmer zu bugsieren.

Ein Frack, Zylinder, weißes Stehkragenhemd mit verdeckter Knopfleiste, weiße Fliege, graue Weste, Stresemannhose, Lackschuhe. Mir quollen die Augen über.

„Woher … äh, du kennst doch meine Größe …“, stotterte ich.

„Warst du beim Schneider?“, unterbrach sie mich.

Den Rest konnte ich mir denken. Meine Tochter. Was um alles in der Welt musste sie hinter unseren Rücken, neben ihrer Schule und dem ganzen Stress dort, noch geregelt haben.

„Genieße und erfreue dich“, wiederholte sie Karstens Worte, und bat mich, mich bis auf die Unterwäsche auszuziehen; auch die Socken, betonte sie extra.

Stück um Stück wurde ich anschließend von ihr eingekleidet. Selbst das Binden der Fliege gelang ihr auf Anhieb.

„Hab ich beim Herrenschneider gelernt“, ließ sie nebenbei fallen und zog die Enden in Perfektion zurecht. „Bitte sehr“, reichte sie mir den Zylinder.

Zum Schluss noch zwei Manschettenknöpfe. Auf der linken Seite war das Hamburger Stadtwappen zu erkennen, rechts zierte die Schwedische Flagge das kleine Plateau.

„Du gehst aus Hamburg weg und zurück nach Schweden, Papa. Das ist mein ganz persönliches Geschenk“, flüsterte sie und hauchte mir einen Kuss auf den Mund. „Warte hier“, sagte sie geheimnisvoll und sie entschwand aus dem Raum.

Kurz darauf trat meine Mutter ein. „Mein Junge“, sagte sie noch auf Deutsch und wechselte ins Schwedische. „Heute wirst du deine Ilka vor den Altar führen. Du hast eine schwere Zeit hinter dir. Doch aus dieser Verbindung ist eine zauberhafte Tochter hervorgegangen, die dich zum Großvater und mich zur Uroma macht. Das vergiss bitte nie, auch wenn der Schmerz sehr groß war. Du hast dich anständig verhalten. Nicht du bist fortgelaufen. Nicht du hast deine erste Frau betrogen. Heute nun wird sich Ilka dir anvertrauen. Ich wünsche dir, dass du mit ihr glücklich wirst. So glücklich, wie Papa und ich es seit fast 45 Jahren sind. Halte nicht nur an der Liebe fest, sondern auch am Glauben. Deine Ilka ist ein ganz besonderes Geschenk des Herrn, welches er nur für dich geschaffen hat. Behandle sie gut.“

Sanft küsste sie meine Wangen und verließ wieder das Zimmer.

Keine Minute später trat Karsten ein. „Mein Freund“, sagte er sehr bedächtig, „du bekommst heute eine Frau an deine Seite, die alles für dich aufgeben und auch hergeben würde. Selbst ihr Leben. Ich beneide dich darum. Wäre ich nicht hoffnungslos schwul, ich würde sie dir noch vor dem Standesbeamten ausspannen und selbst heiraten. Das sollst du wissen. Jan, du sollst auch wissen, dass ich dich und deine Ilka als meine Freunde, als Teil meiner Familie liebe. Und nur deswegen habe ich als Trauzeuge zugesagt. Noch nie habe ich einer Hete dieses Versprechen gegeben. Du bist und bleibst die einmalige Ausnahme. Denn du hast mir damals geholfen, mich endlich zu dem zu bekennen, wozu ich alleine niemals den Mut gehabt hätte. Und wenn es euch geschenkt ist, Kinder zu bekommen, so lasst es mich wissen. Ich stehe nicht nur Svantje zur Verfügung, die mich übrigens als Patenonkel haben möchte. Für euch würde ich sogar mein Leben komplett umkrempeln, sollte ich die Patenschaft ausfüllen müssen. Das verspreche ich dir als Freund und als Mensch, der dich als Freund und Familienmitglied liebt. Jan, deine Ilka ist ein Geschenk des Himmels. Sie ist, entschuldige den kitschigen Vergleich, ein leibhaftiger Engel. Geht mit Gott in eure Ehe. Bis gleich, mein Freund.“

Ich war wieder allein. Hatte ich eben Tränen bei Karsten gesehen? War er vielleicht auch in mich verliebt, obwohl ich definitiv nicht schwul bin? So ganz konnte ich es nicht ausschließen.

In meine Gedanken trat mein Vater ein. „So, mein Junge“, sagte er und bedeutete mir, aus dem Raum zu treten, um uns in der Diele zu postieren.

Die Tür zum Wohnzimmer ging auf, und eine in die Zwanziger Jahre zurückversetzte Ilka trat heraus.

Mir hatte es die Sprache mal wieder komplett verschlagen. Ein kleines Federhütchen auf dem Kopf, ihre Haare zu einer niedlichen Frisur hochgesteckt. Das schlichte weiße Kleid reichte knapp bis über ihre Knie. Damenhafte, aus Spitze geklöppelte Handschuhe an ihren zarten Fingern. In der rechten Hand eine kleine Handtasche. Dezent funkelte im Ausschnitt eine Kette. Passende Schuhe zierten ihre Füße.

Galant führte ihr Vater sie zu mir.

Karsten ging vor und öffnete für uns alle Türen. Dann erblickten wir unser Gefährt, welches uns zur ersten Station bringen sollte.

Ein weißes Rolls Royce Cabrio, eine weitere Überraschung, auf die wir nicht vorbereitet waren.

Auf der Motorhaube prangte unsere Kreation aus gelben Rosen, blauen Lupinen, roten und weißen Rosen. Wir wollen auch auf diese Weise unseren Schritt von Hamburg nach Schweden dezent andeuten.

Als wir im Wagen saßen, zeigte ich Ilka die Manschettenknöpfe.

„Deine … nein … UNSERE Tochter!“, flüsterte sie und schmunzelte verlegen.

Kaum waren wir aus der Seitenstraße herausgebogen, folgte uns ein Autokorso bis an die Landungsbrücken. Erst als man uns aus dem Wagen geholfen hatte, erkannten wir, wer uns gefolgt war. Alle aus unseren Familien, meine gesamte Firma, alle aus Ilkas Laden, und auch viele Gesichter, die wir aus der Tanzschule kannten.

Voran schritt Karsten, stilvoll hatte er Svantje seinen Arm gereicht und sie sich schicklich im Stil der uns gekleideten Zeit bei ihm eingehakt. Gemächlichen Schrittes führten sie uns unserem ersten Ziel entgegen.

Mittschiffs war ein dezent geschmückter Tisch aufgebaut, hinter dem bereits unser Standesbeamte wartete.

Die Gesellschaft stand hinter uns, wir durften uns auf bereitstehende Stühle setzen.

„Liebes Brautpaar“, begann er. „Sie haben sich heute nicht zufällig auf einem Segelschiff eingefunden, um sich einander die Treue zu versprechen. Wie ich aus unserem Gespräch mitgenommen habe, Herr Thorsson, haben Sie ein eigens Boot, ein Segelboot. Somit kennen Sie die Gefahren. Aber auch die schönen Stunden des stillen Dahingleitens. Sie, Frau Laisdalen, sind bisher erst nur einmal in den Genuss gekommen, mit dem Schiff die Gewalt des Windes zu spüren. Auch wenn der Vergleich der Ehe immer gern mit einem Hafen und zu umschiffenden Klippen herangezogen wird, so ist es doch nicht von der Hand zu weisen. Die Ehe ist nun mal wie ein Schiff. Einen Tag gleitet es ruhig dahin, einen anderen Tag muss es Stürme überstehen. Und Sie beide stehen in der Plicht und müssen zusehen, wie sie es meistern. Gemeinsam meistern. Einer allein ist verloren, wenn der andere nicht mithilft, die Gefahrensituation zu meistern. Sie, Herr Thorsson, Sie haben Erfahrung, was das Segeln anbelangt. Und Sie, Frau Laisdalen, Sie haben die feine Gabe, Gefahren weit vor ihrer Entstehung zu erkennen. Woher ich das weiß? Schauen Sie bitte einmal kurz links über ihre Schulter. Dort steht er, der unsichtbare Steuermann. Ihr Freund. Karsten. Er hat mir in nur insgesamt fünf Sätzen gesagt, was er in Ihnen beiden erkannt hat.

Sie, Jan, Sie sind unerschütterlich und ungnädig ehrlich. So ehrlich, dass es dem Gegenüber peinlich werden kann, geboren worden zu sein. Sie, Ilka, Sie sind der von Gott gesandte und Mensch gewordene Engel, den er als Friedensangebot für die gesamte Menschheit auf die Erde geschickt hat. Gemeinsam sind Sie ein unschlagbares Team, welches alle Hindernisse und Klippen bezwingen wird. Und sollte ich nicht recht behalten, so werde ich mich scheiden lassen und Svantje heiraten.

Bitte schauen Sie mich jetzt nicht zweifelnd an. Es sind nicht meine Worte. Es sind die Worte Ihres gemeinsamen Freundes. Von Ihrem Familienmitglied, wie er selbst sagt. Es sind Karstens Worte. Und erlauben Sie mir eine persönliche Bemerkung: Ich glaube ihm. Und zwar jedes einzelne Wort, das er mir über Sie gesagt hat.“

Er machte eine kleine Pause, um uns der gesagten Worte gewahr zu werden.

„Verehrtes Brautpaar, ich möchte Sie nun bitten, sich zu erheben.“

Ich stand auf und reichte meiner Braut die Hand, um auch aufzustehen. Uns weiter festhaltend, standen wir erwartungsvoll da und ersehnten den magischen Moment herbei.

Noch einmal lächelte er uns zu und sprach die entscheidenden Worte.

„Wollen Sie, Jan Thorsson, die hier anwesende Ilka Laisdalen zur Frau nehmen, so antworten Sie: Ja. Ich will.“

Ich sah zu ihr, nahm ihren Blick wahr, sah ihre glänzenden Augen. „Ja. Ich will“, sagte ich und im selben Moment dröhnte das Horn eines Frachters am gegenüberliegenden Kai.

Der Standesbeamte schmunzelte. Durch unsere Gesellschaft huschte leises Gelächter.

Dann wandte er sich Ilka zu.

„Wollen Sie, Ilka Laisdalen, den hier anwesenden Jan Thorsson zum Mann nehmen, so antworten Sie: Ja. Ich will.“

Sie schaute mich an. Und wie! „JA!“, entrann es ihrer Kehle gerade so laut, dass es der Standesbeamte noch eben mitbekam. „Ich will.“

Und wieder dröhnte das Horn.

Im letzten Augenblick sah ich Karstens Arm niedersinken. Dieser hinterhältige liebenswürdige Freund. Nichts, aber auch gar nichts überließ er an unserem Tag dem Zufall.

Mittlerweile hatten es fast alle mitbekommen. Gemeinsam rissen wir die Arme hoch und noch einmal schmetterte der satte Ton über das Wasser.

„Herzlichen Glückwunsch, Frau Thorsson und Herr Thorsson. Ich wünsche Ihnen für Ihre Verbindung nicht nur das allgemeine Gute. Ich wünsche Ihnen von Herzen, dass Ihre Ehe das wird, was Sie sich erträumen und wünschen. Dass Ihre Ehe auch von Gott gesegnet wird. Sie wollen den Ringtausch erst in der Kirche vollziehen. Dort, wo Sie vor dem stehen, von dem Sie sich den Segen für Ihre Ehe erbitten. Als Christ darf ich Ihnen meinen Segen geben. Und ich tue es gerne. Es segne Sie der Vater, der Sohn und der heilige Geist. Glauben Sie mir, es gab bisher nicht sehr viele Menschen, denen ich das gesagt habe.“

Wir sahen uns an und mussten weinen. Schlicht und ergreifend. Was sich Ilka ausgemalt hatte, blieb mir verborgen.

Ich hatte zwar eine persönliche, aber nicht so emotionale Rede erwartet.

„Vielen Dank. Auch für Ihren persönlichen Segen“, sagte ich und nahm seine gereichte Hand.

Ilka fiel es schwerer, sich zu fangen. Doch auch sie fand noch sehr persönliche Worte für ihn. „Sie sind gesegnet“, sagte sie mit zittriger Stimme. „Sie kennen die Menschen besser, als Sie selbst wissen. Gehen Sie bitte diesen Weg weiter. Sie werden nicht enttäuscht werden. Gott segne Sie.“

Dass sie einen Menschen mit nur diesen wenigen Worten erreicht hatte, erfuhren wir erst viele Jahre später.

Als er seine Frau in Frieden gehen lassen musste, suchte er uns; und er fand uns. Und das nicht nur für ein flüchtiges Gespräch.

* * *

Nach dem Sektempfang wurden wir ins Hotel gefahren.

„Lassen wir uns fallen“, sagte meine Frau. Und erstmals realisierte ich dieses Wort. Sie war jetzt meine Frau. Und ich ihr Mann. Wir waren zu einer Einheit geworden. Warum kam mir ausgerechnet jetzt die Hochzeitsnacht in den Sinn?

Natürlich.

Wir sind eins geworden. Wir sind füreinander da und stehen gegenseitig füreinander ein. Wir werden auch für unsere Kinder einstehen.

Das war es. Aus ich und du ist wir geworden. Doch nicht nur wir beide. Wir werden wir werden. Mit Kindern. Mit Enkeln. Wir sind nicht alleine. Wir sind erst dann wir, wenn unsere Kinder da sind.

„Willst du immer noch in dieser Nacht schwanger werden?“, flüsterte ich meiner Frau ins Ohr.

Ihr glasiger Blick bedurfte keiner Antwort.

„Ich habe dich verstanden, Ilka. Ich habe verstanden, warum du in der Hochzeitsnacht schwanger werden möchtest. Du und ich sind wir. Und doch sind wir erst dann wir, wenn unsere Kinder unser gemeinsames Leben bereichern. Ist das so?“

Es war so. Ihre Tränen der Freude kullerten als salzige Diamanten über ihre rosa Wangen.

* * *

Nach einem kleinen Imbiss wurden wir wieder getrennt.

„Bis nachher“, sagte ich im Gehen und wurde von Karsten mit sanfter Gewalt aus dem Zimmer gezogen.

„So, mein Lieber. Jetzt wirst du richtig schick gemacht. Ich habe meinen besten Stylisten auf dich angesetzt. Wenn das jetzt kein Knaller ist, springe ich sofort aus dem Fenster!“

Mit diesen Worten schloss er eine andere Zimmertür auf und schubste mich hinein.

„Dein Anzug“, wies er auf die Garderobe auf dem Bett. Dort lag der Anzug, den ich beim Herrenschneider hatte anfertigen lassen.

„Die Krawatte aus Hamburg“. Gönnerhaft ließ er das edle Teil über seinen Handrücken gleiten. Seide, schlicht Weiß, das Stadtwappen in Goldfäden gesteppt.

„Dein Einstecktuch“, und er hielt mir ein perfekt gefaltetes Tuch unter die Nase, welches stilisiert die schwedische Fahne in Originalfarben abbildete.

Kaum dass ich danach greifen wollte, zog er es ruckartig weg.

„Nicht anfassen, du Schlingel“, blökte er mich an. „Das hat Stunden gedauert, das zu falten.“

Dann wies er hinter mir auf den Boden. „Deine Schuhe!“

Spätestens jetzt wusste ich, ich war bei der Versteckten Kamera ein willkommenes Opfer. Das, was da vor mir auf dem Boden stand, konnte selbst vom Schwulsten aller Schwulen nicht zur Hochzeit einer Hete angezogen werden.

Den Zehenbereich des linken Schuhs zierte das Schwedische Königswappen in Form des Männlichkeitssymbols, Hamburgs Wappen wurde auf der rechten Seite in die Weiblichkeit vergewaltigt.

„NIEMALS!“, fauchte ich. „NIEMALS werde ich diese Schuhe zu MEINER Hochzeit anziehen. Und NIEMALS werde ich den Michel mit diesen exorbitant hässlichen Latschen entweihen. Eher gehe ich barfuß!“

Mehr als entrüstet sprühte pures Gift aus Karstens Augen. „Weißt du, was mich das gekostet hat?“, schrie er mich an. „Ich mache mir Gedanken, wie ich mir deinen Übergang von Hamburg nach Schweden vorstelle, und DU ARSCHLOCH machst mich nieder?“

Er meinte es also tatsächlich ernst? „Nee, Karsten“, und ich hatte Mühe, mich wieder zu beruhigen. „Du weißt, ich verzeihe dir viel und mach auch viel Blödsinn mit. Aber bitte nicht das und nicht an meinem Hochzeitstag. Zum Fünfzigsten, okay, das lasse ich durchgehen. Aber bitte nicht heute.“

Sehr lange konnte er den Beleidigten nicht aufrechterhalten.

„Greif unters Bett“, säuselte er. „Mein Freund, greif einfach unters Bett.“

Perfekt auf Hochglanz polierte Schuhe hielt ich in den Händen.

„Du Sausack“, konnte ich mich nicht beherrschen. „Du elendiges schwules Arschloch!“

„Och! Glaubst du, du findest eine Beleidigung, mit der du mich ernsthaft treffen könntest, Jan?“

Ich musste lachen. „Dich? Treffen? Mit Beleidigungen? Ich? – Niemals!“

Wir lagen uns lachend in den Armen. „OH MAN! Karsten. Was wäre ich ohne dich in meinem Leben. Wärst du doch bloß nicht schwul und ich kein Mann. Wir wären das ideale Paar!“

„Wärst du bloß schwul!“, nasalte er übertrieben. „Du kleiner Schnuckiputz. Dann wäre die Welt vollkommen.“

Wir lagen uns in den Armen. Als Freunde. Als echte Freunde und als seine Familie.

„Ich danke dir“, sagte ich ehrlich. „Karsten, die Worte vorhin, die uns gesagt wurden, vom Standesbeamten, sie haben mich berührt. Tief. Und er hat deine Worte sehr ehrlich gesagt. Dafür möchte ich dir meinen Dank aussprechen.“

Von ihm erhielt ich eine weitere Umarmung und dann die Aufforderung, endlich die Schuhe anzuziehen.

„So, mein Lieber“, sagte er wieder als der ernste Hochzeitsplaner, „Wir fahren jetzt zur Kirche voraus. Deine Braut wird zu dir geführt. Übe dich also bitte in Geduld.“

Ich hatte ja mit Vielem gerechnet, aber nicht mit der klassischen Form, meine Braut vor dem Altar zu empfangen. Wozu hatten wir den Weg durch den Mittelgang des Michels zig mal geübt, um das richtige Timing von Orgelspiel und Strecke hinzubekommen?

Ein schwarzer Rolls Royce mit verdunkelten Scheiben wartete auf uns.

Mir blieb nichts anderes übrig, als endlich mit Gedanken an Autos, Orte und Zeiten aufzuhören. Wer auch immer in akribischer Kleinstarbeit unsere Vorbereitungen torpediert haben mochte; es wäre sinnlos, dass ich mir darüber auch noch den Kopf zerbrechen sollte.

Nimm es einfach hin, forderte ich mich still auf und bestieg das Luxusauto mit angemessenem Respekt. Etwas mulmig wurde mir allerdings, als ich Karsten hinter dem Lenkrad des Rechtslenkers platznehmen sah. Ich konnte nur hoffen, dass er wusste, was er da tat.

Er schlug nicht den direkten Weg ein, sondern gönnte mir die wahrscheinlich teuerste Stadtrundfahrt, die es jemals in Hamburg gegeben hatte. Ich schwebte noch einmal vorbei an den Landungsbrücken. Am Dreimaster, auf dem ich vor wenigen Stunden mein erstes Ja meiner Ilka geben durfte. Am alten Elbtunnel und dem Fischmarkt entlang. Zurück über die Reeperbahn. Ich verfolgte die Blicke, die meinen Wagen verfolgten. Aufsehen erregen, das war schon immer eine der Tugenden, die ich an Karsten nicht so sehr schätzte. Aber nun gut, nicht ich hatte diesen Wagen bestellt und daher auch nichts damit zu tun. Als wir an der Ampel beim Millerntorplatz halten mussten, sah ich das weiße Cabrio mit unserem Blumenschmuck über die Kreuzung fahren, allerdings mit geschlossenem Verdeck und ebenfalls verdunkelten Scheiben.

Dieser Auftritt war wahrscheinlich nicht auf die Minute, sondern auf die Sekunde geplant gewesen.

Sowohl der weiße, wie auch der schwarze Rolls kamen zeitgleich auf dem Kirchhof an. Als sei er mein Butler, wurde mir die Tür geöffnet, weiße Handschuhe und weißer Schal gereicht, über den anderen Arm legte er mir einen Mantel. Zum Schluss bekam ich noch meinen Zylinder.

Die Leute um uns herum suchten verzweifelt die Kameras, weil sie meinten, einem Szenenauftritt beizuwohnen. Erst als die Glocken anfingen zu läuten, und ein zunehmender Strom an Gästen das Portal durchschritt, waren wir plötzlich nur noch eine Hochzeit, wie jede andere auch; dafür aber halt pompöser.

Mit den letzten Gästen betrat auch ich die Kirche. Herausgeputzt, wie es mir von Karsten aufgetragen wurde. Mit dem Eintritt in den Kirchenraum nahm ich den Zylinder wieder ab. Langsamen Schrittes näherte ich mich dem Altar, wo bereits der Pastor wartete. Mir wurde wieder alles abgenommen, was ich eben für diesen Auftritt angezogen hatte, und ich verweilte im Stehen.

Plötzlich, ein kurzes Nicken und ein Blick des Pastors in Richtung der Orgelempore, hinauf zur Barockorgel.

Nur ein paar Töne und ich wusste, das hatte man uns gelassen. Ein kleines Konzert mit Orgel und Bachtrompete. Von einem unserer Lieblingskomponisten; Johann Sebastian Bach. Wir hatten uns zum Einzug das Konzert in D-Dur gewünscht. Ein alter Schulfreund von mir spielte unter anderem auch Bachtrompete im Sinfonieorchester. Er hatte sich nicht lange bitten lassen, uns diesen Wunsch zu erfüllen.

Während der ersten zwei Minuten wollten wir im Portal verharren und den sehr lebhaften Beginn dieses Stückes auf uns und unsere Gäste wirken lassen. Erst mit dem Adagio hatten wir den Einzug in die Kirche geplant. Das abschließende Allegro assai sollte unsere kribbelige Stimmung musikalisch widerspiegeln.

Nun stand ich schon vor dem Altar. Allein. Also gönnte ich mir dieses Klangerlebnis von hier aus. Langsam drehte ich mich um.

Im grellen Licht des Eingangs erblickte ich sie. Ihr langes, wallendes, weißes Brautkleid strahlte. Neben ihr stand ihr Vater, hatte ihr seinen Arm gereicht.

Dann kam der Moment, dass sie sich in Bewegung setzten. Hinter ihnen wurden die Türen geschlossen, doch Ilka leuchtete immer noch, hell wie ein Stern.

Immer mehr Details durfte ich erkennen. Spitze, Seide, Perlen, ein kleines Diadem in ihren blonden Haaren, die sie halb offen trug. Ihre eigenwillige Strähne durfte sich alle Freiheiten nehmen. Im Ausschnitt des trägerlosen Kleides eine andere Kette. Diamanten, Rubine und Lapislazuli.

Sie stand vor mir.

Mit einem Lächeln wurde mir meine Ilka von ihrem Vater anvertraut. Ich konnte mich nicht sattsehen an meiner Braut; und doch wandten wir uns nun dem Pastor zu und nahmen auf sein Zeichen hin unsere Plätze ein.

* * *

Die ersehnten Minuten waren gekommen. Wir standen vor dem Altar, hatten uns einander zugewandt und uns die rechte Hand gereicht. Wir hatten, jeder für sich, ein eigenes Treueversprechen vorbereitet, das wir erst am Tag unserer Trauung einander offenbaren wollten.

Ein Mikrofon wurde dezent bereitgestellt.

„Liebe Ilka. Ich durfte dich finden, ohne nach dir gesucht zu haben. Ich glaube immer noch fest daran, dass Gott mich zu dir geführt hat.

Nun stehen wir voreinander. Unser herbeigesehnter Moment ist da, unseren Weg ab jetzt gemeinsam zu gehen.

Natürlich weiß ich, dass er nicht immer eben und geradeaus verlaufen wird. Er wird Höhen und Täler, Biegungen und Windungen haben. Gefährliche Teilstücke und Hindernisse werden uns auch nicht erspart bleiben. Vielleicht müssen wir sogar ein Stück zurückgehen und einen anderen Weg suchen. Doch wir sollten uns gegenseitig auch immer wieder daran erinnern, eine Rast einzulegen.

Ilka, ich möchte dir auch nicht nur dein Mann sein, sondern auch dein Freund, Gefährte und Vertrauter. Du darfst mit allem Kummer zu mir kommen, und wenn du möchtest, mich an deiner Freude teilhaben lassen.

Ich werde deine Freiheit und Eigenständigkeit niemals einschränken. Ich will dich ehren, vor Gefahren beschützen und für dich sorgen.

Ilka, ich verspreche dir vor Gott und seiner Gemeinde, dich nicht zu verlassen und dir treu zu sein, bis an das Ende meiner Tage hier auf Erden. Als sichtbares Zeichen unserer Verbundenheit, meiner Liebe und Treue zu dir, gebe ich dir diesen Ring. Ich liebe dich.“

Ihre Finger zitterten, als ich ihr den Ring ansteckte.

Dann sah sie mich an. Ihr unermesslich liebender Blick umfing mich, als sie sich an mich wendete. „Lieber Jan. Als ich dir begegnen durfte, geriet mein bis dahin sehr geordnetes Leben aus allen Fugen.

Doch wir ließen uns aufeinander ein. Und schon sehr bald entwickelte sich aus einer zarten Zuneigung unsere tiefe und vertrauensvolle Liebe zueinander. Ich habe erkennen dürfen, dass Gott seine ganz eigenen Pläne mit uns hat. Und ich vertraue ihm auch weiterhin.

Jan, ich weiß auch, dass unser gemeinsam begonnener Weg hier und da eine Abzweigung haben wird. Ob wir sie gehen oder nicht, das möchte ich nur noch mit dir zusammen entscheiden. Mal wird unser Weg einfach sein und an anderen Stellen sehr steinig.

Jan, ich will heute deine Frau werden, möchte weiterhin deine Geliebte bleiben und ein steter Freund an deiner Seite sein.

Ich werde dich mit all meinen Kräften unterstützen und dich nicht einengen. Ich will dich vor Gefahren beschützen, für dich sorgen und immer dann für dich da sein, wenn du mich am nötigsten brauchst.

Ich will auch für Svantje eine Freundin, Vertraute und Mama sein, die mir ihre Geheimnisse und Sorgen anvertrauen darf.

Jan, ich verspreche dir, dich niemals zu verlassen und dir treu zu sein, bis dass der Herr mich zu sich holt. Dafür erbitte ich Gottes Hilfe und Kraft.

Nimm diesen Ring von mir. Es soll das sichtbare Zeichen unserer Ehe und meiner Treue und Liebe zu dir sein. Ich liebe dich.“

Ihre Nervosität war einer großen inneren Ruhe gewichen, als ich den Ring von ihr empfing.

Hier und da hörte ich ein leises Schluchzen.

Und mit einem Male kam Svantje zu uns geeilt. Ihr lief das Wasser durchs Gesicht. „Danke“, flüsterte sie heiser und hauchte Ilka einen Kuss auf den Mund. „Du bist wirklich ein Engel, Mama. Karsten hat recht.“

Sie ging zurück an ihren Platz und wir knieten nieder. Unsere Verbindung erhielt den Segen Gottes. Erst jetzt waren wir für unser Empfinden richtig verheiratet.

Zum Auszug hatten wir uns noch eine Besonderheit gewünscht. Das Trumpet Voluntary von Jeremiah Clarke. Noch einmal erklang die Bachtrompete, begleitet von der Orgel.

* * *

Es war nach fünf Uhr in der Frühe, als wir glücklich und total erschöpft in die Betten der Hotelsuite sanken.

„Na“, sagte Ilka, „was das mit deinem Bruder und meiner Schwester wird, da bin ich noch mal sehr gespannt. Die haben ja geflirtet, was das Zeug hält. Und für eine halbe Stunde hab ich sie gar nicht gesehen.“

„Tja“, antwortete ich, „die haben vielleicht Spaß miteinander gehabt. Deine Schwester ist mit 25 alt genug, mein Bruder mit seinen 32 Jahren auch. Ich denke, die wissen, was sie tun – oder auch getan haben.“

„Und wir? Haben wir jetzt auch noch Spaß miteinander“, fragte sie keck und schlug die Bettdecke zurück. „Oder stehst du nicht auf verheiratete Frauen?“

Ich weidete mich an ihrem Anblick. Ihrer Schönheit, Nacktheit. „Doch“, hauchte ich, „und ich will mit dir unseren Wunschtraum wahr werden lassen.“

Sie sah mich an. Und sie wusste, was ich in diesem Moment dachte. „Liebe mich“, flüsterte sie leicht fahrig. „Ich will dich. Jetzt.“

* * *

Zwei Monate später

* * *

Svantje lag schweißnass und aller Kräfte beraubt auf dem Bett. In meinen Armen hielt ich ihre Tochter.

Meine Enkelin.

„Liara“, flüsterte ich unablässig. „Hallo Liara. Willkommen in unserer Familie. Schön, dass du da bist.“ Meine Tränen konnte ich vor lauter Glück nicht zurückhalten.

Während meine Tochter versorgt wurde, unternahm ich einen kleinen Spaziergang durch die Flure. In meinen Armen schlummerte friedlich meine kleine Enkeltochter. Ich hatte sie abgenabelt, gewaschen und gewickelt. Ich! Der frisch gebackene Opa! Von dem die Schwestern und Hebamme glaubten, ich sei der Vater. Der Geniestreich würde, so hoffte ich zumindest, lange in Erinnerung der Belegschaft bleiben.

„Ihre Tochter ist jetzt im Zimmer, Herr Thorsson“, fing mich eine Schwester ab. „Sie schläft bereits. Wenn Sie möchten, nehme ich Ihre Enkelin an mich und versorge sie für die nächsten Stunden.“

Nur ungern gab ich das kleine Bündel ab. Doch die Vernunft sagte mir, dass ich schließlich nicht die ganze Nacht mit ihr verbringen konnte.

Mit gemischten Gefühlen machte ich mich auf den Weg nach Hause. Svantjes Kampf, bis es endlich geschafft war, ging mir irgendwie nicht mehr aus dem Kopf. So schwer hatte es ihre Mutter nicht gehabt. Vier oder fünf Presswehen, und unsere Kleine war geboren.

Sie hingegen lag über sechs Stunden kämpfend da und war der Verzweiflung näher als dem Ende. Letzte Reserven entlockte ihr die Hebamme. Ich machte das, was ich aus der Vergangenheit noch wusste. Mich hielt niemand zurück. Also konnte es nicht so verkehrt gewesen sein.

Dann endlich kam das Köpfchen zum Vorschein und nur Sekunden später war sie auf der Welt.

Ganz in Gedanken hatte ich den Weg nach Hause hinter mich gebracht. Ich ließ den Wagen einfach vor der Garage stehen und schloss die Tür auf.

Bevor ich meine Jacke ganz ausgezogen hatte, umarmte mich meine Liebste.

„Guten Morgen, Opa“, flüsterte sie keck und schmiegte sich an mich.

„Na, Oma“, konterte ich und musste lachen.

Wir verkrochen uns ins Bett. Ich war von der Nacht ebenfalls geschafft.

„Und? War es aufregend?“, wollte meine Frau wissen.

„Wahnsinnig!“, ließ ich sie erschöpft wissen und blätterte für sie die Nacht in allen Details durch. „Zum Schluss bin ich dann mit der Lütten auf dem Arm durch die Gänge vom Krankenhaus gegeistert. Als ich dann noch einmal bei Svantje kurz im Zimmer war, schlief sie tief und fest. Aber auch sehr friedlich. Wollen wir nachher hinfahren?“

„Auf jeden Fall“, sagte sie. Neugier lag in ihrer Stimme. „Dann kann ich mich ja schon mal ein wenig vertraut machen“, flüsterte sie und klang mit einem Male sehr geheimnisvoll.

Ich stutzte. Meine eben noch bleierne Müdigkeit verflog im Nu. Ich setzte mich aufrecht ins Bett und starrte meine Frau im Schummerlicht an. Durch zugezogene Vorhänge blinzelten erste Strahlen der Morgensonne. „Bitte? Was hast du gerade gesagt?“

Sie robbte zu mir hoch und umarmte mich stürmisch. „Ich möchte mich damit vertraut machen, Jan. Weil“, und ihre Stimme begann, zu zittern, „weil in ungefähr sieben Monaten unser Kind auf die Welt kommt.“ Erste Tränen tropften auf meinen Bauch. „Wir bekommen ein Kind, mein Schatz. Ich bin schwanger. In der neunten Woche. Unser Wunsch wurde uns gewährt.“

„Und .. äh … puh … seit wann weißt du das schon?“ Ich war total baff.

„Seit Freitag“, bibberte sie erregt. „Aber wir hatten nie die Ruhe dafür. Immer war irgendwas. Und abends bist du immer gleich eingeschlafen.“

Sie legte sich wieder hin, schlug die Decke zurück und legte ihre flache Hand auf ihren noch flachen Bauch. Ihr erwartungsvoller Blick berührte mich in der Seele.

Ich beugte mich zu ihr, küsste ihre Augen, den Mund, ihre nackten Brüste. Küsste mich hinunter bis zu der Stelle, an der ich unser Kind vermutete.

Ihre Schenkel weiteten sich. „Küss auch die Lippen, Jan. Küss mich dort, wo ich es von dir empfangen habe.“

Wir verfielen in ein zärtliches Spiel.

* * *

Nur wenige Stunden hatten wir geschlummert. An Schlaf war nicht zu denken. Zumindest bei mir nicht. Erst hatte ich in der Nacht unser Sonntagskind mit auf die Welt geholt und dann erfuhr ich, dass ich auch noch einmal Vater werde.

Bereits am Mittag kamen wir im Krankenhaus an. Svantje stillte gerade, als wir eintraten.

„Hallo Mama, hallo Papa“, begrüßte sie uns wie selbstverständlich.

Von der jungen Frau aus dem gegenüber stehenden Bett erreichten uns sehr merkwürdige Blicke.

Ich ignorierte sie, Ilka gluckste, Svantje lachte frei heraus.

Wir setzten uns still zu ihr und ließen Mutter und Tochter in Ruhe. Erst als Liara satt war, nahm ich sie zu mir und legte sie über meine Schulter, massierte ihr den Rücken.

„Mein Kind!“ Endlich konnte Ilka unsere Große in die Arme schließen und an sich drücken. „Meinen Glückwunsch zu deiner kleinen Liara. Ein sehr schöner Name übrigens. Was bedeutet er?“

Ich war auch neugierig genug, es erfahren zu wollen.

„Lior ist hebräisch und heißt so viel wie ich habe ein Licht. Daraus ist der irische Name Liara entstanden. Die Bedeutung wird mit Göttin des inneren Friedens oder auch die Leuchtende erklärt.“ Svantje schaute ihre Mama sehr intensiv an und sagte leiser: „Dein Name bedeutet es übrigens auch, die Leuchtende. Wusstest du das?“

Ilka sah kurz zu mir. Ja, auch wir brauchten in einigen Monaten einen Namen.

Sie nickte. „Ja. Weiß ich. Ich trage meinen Namen auch gern. Und für dein Kind hast du dir einen ebenso schönen Namen überlegt, mein Schatz“, sagte sie und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. „Ein schöner Name und eine schöne Vorstellung. Eine Göttin des inneren Friedens in der Familie zu haben. Wenn Papa unsere kleine Leuchtende irgendwann mal freigibt, möchte ich sie auch mal haben“, neckte sie mich mit einem kleinen Seitenhieb.

„Bitte“, reichte ich sie weiter. „Aber wickeln und wiegen ist meine Disziplin!“, stellte ich sogleich klar. Aus dem Augenwinkel sah ich die immer größer werdenden Augen der Zimmergenossin. Ich schaute zu Svantje und verstand ihren stummen Hinweis.

„Wissen Sie“, wandte ich mich der jungen Mutter zu und sagte total ernst, „Meine Frau ist ein Naturwunder. Mit nur fünf Jahren hat sie Svantje geboren. Aus dem Nichts! Plötzlich war das Kind da. Und jetzt kriegt sie noch ein Kind. Nach über 18 Jahren. Stellen Sie sich das mal vor! Ist das nicht unglaublich?“

Meine Mädchen gackerten los, wie Vorpubertäre auf dem Schulhof.

Die mir unbekannte junge Frau lief knallrot an und wusste nicht, wohin sie gucken sollte.

„Ist das wahr, Mama?“, flüsterte meine Tochter und legte ihr eine Hand auf den Unterarm, mit dem sie das Kind liebevoll an sich schmiegte. „Du bist schwanger? Ich bekomme ein Geschwisterchen?“

Wir sahen sie nur an und nickten.

„Du bist wirklich schwanger, Mama?“, wiederholte sie so laut, dass auch die andere Frau es mitbekommen musste.

„Ja“, sagte Ilka, legte Svantje das Kind zärtlich in die Arme und schloss beide in ihre Umarmung ein. „Wir bekommen ein Kind und du ein Geschwisterchen.“

„Und? Habt ihr schon Namen?“, fragte sie neugierig weiter.

„Ich. Vielleicht“, meinte Ilka. „Papa hat noch nichts gesagt.“

„Ich höre“, forderte ich meine Frau auf. „Ein kleines Mitspracherecht habe ich ja wohl auch.“

„David oder aber Janika.“

Mir stockte der Atem.

„Was?“, fragte meine Frau. „Nicht gut?“

„Liebling Gottes oder Gott ist gnädig“, stammelte ich. „Entschuldige, das ist gerade ein bisschen viel für mich“, erhob mich und ging aus dem Zimmer.

Kurz nach mir klappte eine Tür und ich spürte eine Hand die meine suchen. „Hab ich was Falsches gesagt, Liebling“ sorgte sich meine Frau.

„Nein“, versicherte ich ihr. „Überhaupt nicht. Es hat mich nur gerade eingeholt“, und ich ließ mich auf einem Stuhl nieder.

Sie setzte sich auf meinen Schoß und umarmte mich zart. „Was? Was hat dich gerade eingeholt“, wollte sie wissen.

Ich nahm meine Frau in die Arme und sagte leise: „Janika war mein Wunsch für Svantje gewesen. Aber ihre Mutter hatte sich anders entschieden.“

Sie sah meine Tränen aufsteigen. „Ist gut, Jan“, flüsterte sie. „Was auch immer es wird, wir beide werden gemeinsam entscheiden.“

„Nein“, sagte ich und sah ihr in die Augen. „Wir müssen nichts mehr entscheiden. Du hast bereits die Namen gewählt, die ich schon vor 18 Jahren passend fand.“ Mir lief das Wasser über die Wangen. „Ilka, du bist ein Engel. Du bist von Gott gesandt und von ihm reich gesegnet. Danke, dass du mich liebst.“

„Mag sein“, flüsterte sie und küsste meine Tränen fort. „Ich liebe dich. Und ich liebe unsere Tochter. Glaub mir, Jan, Svantje ist bei mir angekommen. Als meine Tochter, die mir durch die Liebe zu dir geschenkt wurde. Dafür danke ich dir.“

* * *

Drei Monate später

* * *

Wir hatten Svantje und ihre Kleine bereits nach Schweden gebracht. Zu viel Unruhe im jungen Leben unserer Enkelin hielten wir für nicht förderlich. In unserem neuen Haus hatten wir zwei Zimmer soweit herrichten lassen, dass die beiden sich einleben und wohlfühlen konnten. Küche und Bäder waren noch weit vor ihrem Einzug komplett saniert worden.

Lediglich ein paar Räume mussten nur noch tapeziert und gestrichen werden. Alles andere war bereits fertig.

Ilka und ich waren dafür mit viel Organisation beschäftigt. Wir hatten der Spedition einen Komplettauftrag gegeben. Alles einpacken, alles wieder aufstellen und gründlich putzen, danach wieder einräumen.

Die Kosten spielten für mich keine Rolle. Ich sah meine Frau, ihren kugeliger werdenden Bauch und die anfallenden Arbeiten. Das waren konträre Entwicklungen von Ereignissen.

„Du hast mir geschworen, meine Freiheit und Eigenständigkeit nicht einzuengen“, warf mir Ilka eines Abends vor.

„Ja. Habe ich. Aber ich habe dir auch versprochen, dich vor Gefahren zu schützen. Und wenn du jetzt diese Gardinen da abnimmst, dann bist du auf dem wackeligen Hocker nicht nur in Gefahr. Dann schlägst du eher auf dem Boden auf, wie du auch nur eine Schlaufe von der Stange geholt hast. Also lass es sein, und in ein paar Tagen von den Profis machen. Bitte!“, flehte ich sie an. „Und wenn du es nur für unser Kind sein lässt. Bitte, Ilka.“

Murrend ließ sie ihr Vorhaben bleiben und ging in die Küche. „Was willst du zum Abendbrot?“, rief sie, immer noch etwas brummig.

Kurz dachte ich nach und rief zurück: „Zwei Scheiben Brot. Salami und Käse. Einen Becher Früchtetee. Und zum Nachtisch meine Frau!“

Sie lugte um die Ecke und sah mich breit grinsend auf dem Sofa sitzen. „Ich bin bereits schwanger!“, polterte sie.

„Ja. Und?“, versuchte ich, gelangweilt zu sagen.

„Nix Und?“, knurrte sie. „Ich will Sex. Und du nur schmusen. Das ist kein Nachtisch. Das ist Folter!“

Ich stand langsam auf und ging ebenso langsam auf sie zu. Als ich sie erreicht hatte, legte ich beide Hände auf ihre kleine Wölbung, streichelte über ihre Seiten zart auf ihren Rücken, zog sie behutsam zu mir. „Nicht nur du willst Sex, Ilka. Ich auch“, ließ ich sie leise wissen. „Doch ich möchte, dass es von dir kommt. Du sollst dich wohlfühlen. Denn du bekommst das Kind. Ich bin dabei unwichtig. Das möchte ich dich wissen lassen.“

* * *

„Und wenn du mich willst, dann nimm mich einfach“, röchelte sie, noch völlig erschöpft von unserem wilden Ritt. „Das war … geil!“

Sie lag rücklings auf dem Küchentisch, ich steckte immer noch in ihr.

Ausgehungert nach purem Sex hatten wir uns selbst die Klamotten vom Leib gerissen. Gierig, mich zu empfangen, legte sie sich auf den Tisch und bot mir auffordernd ihr Allerheiligstes dar.

* * *

Zwei Tage vor unserem Umzug klingelte es nachmittags an der Tür. Ich war gerade oben in meinem Arbeitszimmer und sortierte letzten unnötigen Ballast aus.

Kurz darauf drangen Schreie und Rufe zu mir, und ich sauste runter.

Klara hatte sich gewaltsam Zutritt verschafft und rauschte wie eine wild gewordene Furie durch die Räume. „Wo ist sie? Wo ist meine Tochter? Ich will sie sehen! Wo hast du meine Tochter gelassen?“, brüllte sie Ilka an.

Im letzten Moment konnte ich das Schlimmste verhindern und hatte Klara fest im Griff. „Sie ist fort!“, schrie ich sie an und rüttelte an ihr. „Du hast hier nichts mehr zu suchen. Wir sind geschiedene Leute. Und lass gefälligst meine Frau in Frieden. Sonst werde ich das erste Mal in meinem Leben eine Frau verprügeln! Und zwar DICH! Raus hier! Oder ich hol die Polizei. Denk immer an deine Bewährungsstrafe. Die ist zwar vorüber, aber du kannst ganz schnell eine Neue haben. Sag mir nur wann! So. Und jetzt raus mit dir. Das ist Hausfriedensbruch!“

Ich hatte sie zur Tür bugsiert und nach draußen gedrängt.

„Ich will meine Tochter sehen!“, schrie sie schrill. „Das ist mein Kind! Nicht deins! Die ist gar nicht von dir!“, giftete sie weiter.

„Blödsinn!“, sagte ich überzeugt. „Wir haben einen Vaterschaftstest machen lassen. Svantje IST meine Tochter! Lüg mich nicht schon wieder an! Du bist doch krank im Kopf. – Ilka! Ruf die Polizei an. Diese Frau ist eine Gefahr für dich und für mich. – Ich lasse dich jetzt abholen, Klara. Mir ist das zu doof mit dir.“

Bis zum Eintreffen der Polizei hatte sie die halbe Nachbarschaft zusammengeschrien. Dabei hatte sie wirrestes Zeug von sich gegeben, unbescholtene Menschen des Diebstahls und Drogenhandels bezichtigt. Behauptete sogar, unseren direkten Nachbarn als Dealer am Hauptbahnhof gesehen zu haben.

Der schüttelte nur den Kopf und zog sich wieder zurück. Als pensionierter Richter hatte er auch schon viel zu hören bekommen; aber das wohl doch noch nicht.

Als die Beamten sie einladen wollten, riss sie sich los und spurtete schon wieder auf meine Frau zu. „Du Hexe! Wo ist meine Tochter!?“

Mein Faustschlag, der sie niederstreckte, traf voll auf die Zwölf. Sie lag bewusstlos am Boden und blutete aus einer Platzwunde.

Zeugen gab es genug, die ihren Angriff gegen meine Frau mitbekommen hatten.

Ein Krankenwagen wurde angefordert. Dazu ein Notarzt. In der Zwischenzeit hatte ich die Erstversorgung übernommen.

„Ach! Die schon wieder“, ließ der Arzt verlauten, als er Klara erkannte. „Na ja. Dann haben wir sie ja zum Glück wieder.“

„Wie?“, fragte ich. „Wieso wiederhaben?“

„Wer sind Sie?“, wollte er von mir wissen.

„Meine erste Frau“, deutete ich auf Klara. „Wir sind vor sechs Jahren geschieden worden. Seit dem bekommen wir ab und an Besuch. Aber noch nie mit der Gewaltbereitschaft“, erklärte ich sachlich.

„Okay. Nur so viel. Psychiatrie. Tabletten. Alkohol. Drogen. Ihr Mann ist schon Ex. Vor knapp vier Wochen. Sie hat auch nicht mehr lange. Das muss reichen. War sowieso schon zuviel.“

Klara wurde verladen und die Polizei kam mit ins Haus.

„Alles in Ordnung?“, wollte der eine Beamte wissen und sah Ilka prüfend an. „Mit Ihnen und dem Kind? Soweit alles in Ordnung? Wir können noch einen Wagen kommen lassen. Nur zur Sicherheit“, bot er fürsorglich an.

„Danke“, sagte sie leise und setzte sich auf einen umherstehenden Stuhl. „Glaub erst mal nicht. Das Kind ist ruhig.“ Sie hatte beide Hände auf dem Bauch liegen und horchte in sich hinein.

„Nein. Das ist mir zu wage“, antwortete er. „Welcher Monat?“

„Fast Fünfter.“

Umgehend griff er zum Funkgerät und ließ einen weiteren Krankenwagen mit einem Arzt für Gynäkologie kommen. „Die Verantwortung übernehme ich nicht“, begründete er sein Handeln.

* * *

Unsere Fahrt nach Stockholm verschoben wir um einen weiteren Tag, um Ilka etwas Erholung zu gönnen. Ich hatte sie nach der einen Nacht in der Klinik kurzerhand in einem nahen Hotel einquartiert. Die Unruhe durch die Möbelpacker hätte sie nur wieder nervös gemacht.

Auf der Fahrt selber war sie bis hinter der dänischen Grenze sehr schweigsam. Erst dort taute sie langsam auf.

„Was müsst ihr nur durchgemacht haben“, sagte sie leise und sah mich besorgt von der Seite an.

Ich schaute ebenfalls kurz zu ihr. Ihre Angst und auch Fassungslosigkeit waren noch nicht gewichen.

„Wie ich damals an Svantjes 18. Geburtstag sagte. Oberflächliche Kurzfassung. Ilka, es war teilweise die Hölle. Du hast noch nicht einmal den Eingang dahin gesehen, um es bildlich auszusprechen.

Wir wurden ab und zu tagelang von ihr und irgendwelchen dubiosen Menschen belagert, und konnten nur unter Polizeischutz das Haus verlassen. Aber das ist jetzt alles vorbei. Sie wird … nein, es interessiert mich nicht mehr“, schob ich den Gedanken an ihr baldiges Ableben beiseite. „Wir werden in Stockholm leben. Wir werden auch dieses Erlebnis verarbeiten und hinter uns lassen, Ilka.

Ich hab mit Svantje alles ohne Psychiater und Psychologen bewältigt. Unsere Therapie war das Reden. Reden und nicht schweigen. Sie hat oft bei mir im Schlafzimmer geschlafen und wir haben ganze Nächte hindurch geredet. Darum möchte ich auch dich bitten, Schatz. Sprich bitte mit mir. Oder auch mit unserer Tochter. Karsten kann auch sehr gut zuhören. Nur bitte ich dich eindringlich: Verkrieche dich nicht.“

Behutsam legte sie mir ihre zitternde Hand auf den Oberschenkel. „Vor Klara habe ich keine Angst, Jan. Der Ausbruch war zwar heftig, aber genau so schnell habe ich ihn auch schon wieder vergessen. Es war ihr doch anzusehen, dass sie verwirrt ist. Ich hab sie an dem Tag überhaupt nicht für voll genommen. Ihre Gewaltbereitschaft hast du ja zum Glück sehr schnell unter Kontrolle gebracht. Nein Jan, viel mehr mache ich mir Sorgen, wie Svantje es aufnehmen wird, wenn sie es erfährt. Die leibliche Mutter – von Drogen, Tabletten und Alkohol zerstört. Dem nahen Tod geweiht. Das macht mir momentan am meisten zu schaffen.“

„Vorsichtig angedeutet haben wir ja was“, erinnerte ich sie. „Svantje weiß, dass ihre … dass Klara in der Geschlossenen ist. Nur eben die Begründung war noch nicht die Wahrheit. Ob wir sie überhaupt erzählen müssen, kann vielleicht auch von Svantje selbst entschieden werden. Wenn sie fragt, bekommt sie Antworten. Fragt sie nicht, müssen wir nicht erzählen. Wäre das eine Alternative für dich?“

„Nicht wirklich“, schüttelte sie den Kopf. „Meiner Meinung nach hat sie das Recht, zu erfahren, was mit Klara wirklich los ist. Gut, wenn sie es natürlich wieder so vehement abblockt, wie die letzten Gespräche zu diesem Thema ebenfalls, dann sollte man nicht darauf pochen, es ihr zu erzählen. Aber versuchen würde ich es wollen.“

Wir näherten uns unserem Zwischenziel, Lund. Dort würden wir eine Nacht schlafen. Ilka war noch nicht in der Verfassung, lange im Auto zu sitzen und selbst zu fahren. Auf dem Weg hierher hatten wir viele kleine Pausen gemacht, damit sie sich die Beine vertreten konnte.

* * *

„Willkommen Zuhause“, begrüßte uns Svantje mit innigen Umarmungen, als sie uns die Tür aufgemacht hatte. „Hallo Mama. Alles gut bei dir? Dem Kind ist nichts passiert?“, vergewisserte sie sich. „Und Papa? Bei dir auch alles gut?“

Wir konnten sie beruhigen. Die eine Nacht im Krankenhaus zur Überwachung diente auch zur Absicherung für Ilka und mich. Der Vorfall hatte keine Nachwirkungen für das Kind gehabt.

„So. Kommt rein. Aber bitte nicht erschrecken“, sagte sie irgendwie geheimnisvoll, und leitete uns ins noch halb leere Wohnzimmer.

„Juho?“, rief Ilka erstaunt aus. „Du? Hier?“

Er saß da und wiegte die Kleine, schaute hoch und lachte leise. „Ja. Ich.“

Im Laufe der weiteren Stunde erfuhren wir, dass sie sich ineinander verliebt hatten. Begonnen hatte es auf unserer Hochzeit. Er konnte seine Finger nicht von ihrem Bauch lassen. Sie wollte, dass er sie dort immer wieder berührte. Mehr Details standen uns nicht zu.

„Und nun?“, wollte ich von Svantje wissen.

Juho legte das Kind der Mutter fürsorglich in die Arme, stand auf und kam zu mir. „Jan“, sagte er mit einem leichten Beben in der Stimme. „Ich liebe sie. Ich liebe auch dieses Kind wie mein eigenes. Ich möchte Svantje ein treuer Ehemann und dem Kind ein fürsorglicher Vater sein. Ich möchte dich bitten, auch in Svantjes Namen, uns deinen Segen zu geben. Sie ist bereit, mir die Treue zu schwören und mich zu heiraten. Jan, ich bitte um die Hand deiner Tochter.“

Ilka und ich schauten uns an. Bei uns liefen garantiert nahezu identische Filme gleichzeitig ab.

„Ich gebe euch meinen Segen, Juho“, sagte ich und legte ihm die Hand auf „Du sollst meinen Segen haben.“

Meine Tochter sah mich verschüchtert an.

„Svantje. Mein Schatz. Komm“, bat ich sie leise zu mir. „Alles ist gut. Komm. Komm mit Liara zu mir. Auch du sollst meinen Segen haben. Auch eure Tochter.“

Zögerlich stand sie auf und schlich auf mich zu.

Auch ihr legte ich meine Hand auf. „Ich gebe euch meinen Segen. Es segne euch der dreieinige Gott. Euch drei. Das, was euch das Leben als Aufgaben geben wird, dürft ihr gern und zu jeder Zeit zu uns bringen. Wir werden uns alle Mühe geben, euch dabei zu helfen.“

Ilka tat mir gleich und sagte: „Juho. Du weißt, welche Pflichten du übernimmst. Ich bin deine Schwester. Und als diese werde ich immer für dich da sein. Geh mit dem Segen Gottes. Und nimm auch den meinen mit.“

Dann wandte sie sich Svantje zu. „Du bist meine große Tochter. Du hast dich mir anvertraut. Du hast mir zuerst zugeflüstert: Mama. Das werde ich nie vergessen. Svantje, du bist meine Tochter. Und ich stehe zu dir. Egal, was kommt. Nimm auch du Gottes Segen von mir – und auch meinen. Ich liebe dich als mein Kind.“

Sie wirkten sehr erleichtert, als sie sich wieder setzten. Still beobachtete ich, wie behutsam Juho die Kleine wieder an sich nahm und ihr Nähe und Wärme schenkte. Ilka lehnte sich bei mir an und musterte die kleine Familie ebenfalls.

Svantje sah zu uns beiden. In ihren Augen lag ein merkwürdiger Glanz. „Noch etwas“, bibberte unsere Tochter. „Es wird nicht bei einem Kind bleiben.“

Ich musste mich zusammenreißen, nicht in laut brüllendes Gelächter auszubrechen. „Und seit wann das?“, nahm ich mir das Recht heraus, es zu erfahren.

„Noch gar nicht“, sagte sie. „Aber wir üben schon. Meine erste Regel ist vorbei. Wer weiß?“, lächelte sie.

„Wie wäre es, wenn ihr erst einmal heiratet?“, ermahnte Ilka die beiden. „Und außerdem“, fügte sie bestimmend an, „muss Gunnar seine Zustimmung geben, wenn Juho der Vater werden soll. Ansonsten ist und bleibt es immer Gunnars und Svantjes Tochter.“

„Liara wird Gunnars Kind bleiben“, sagte unsere Tochter entschlossen. „Er wird gar nicht erfahren müssen, dass ich heiraten werde. Denn das hat mit dem Kind gar nichts zu tun. Ich hab mit Karsten telefoniert. Und er als Fachanwalt für Familienrecht muss es ja wohl wissen. Er wird weiterhin für das Kind zahlen müssen. Und bis ich verheiratet bin, muss er auch für mich zahlen. Ihr glaubt doch nicht ernsthaft, ich entlasse ihn aus der Pflicht? Nee. So billig kommt er nicht davon. Liara und ich werden auch meinen Mädchennamen behalten. Juho will meinen Namen annehmen. Da sind wir uns schon einig. Und, liebe Eltern, wir werden sehr bald standesamtlich heiraten. Aber erst einmal nur im ganz kleinen Kreis. Später, zur kirchlichen Hochzeit, soll es eine angemessene Feier geben. Aber das entscheiden wir alles später.“

Wir sahen uns nur an. „Okay“, sagte Ilka beeindruckt. „Wir sehen, ihr macht euch eure eigenen Gedanken. Wenn ihr Hilfe benötigt, dann meldet euch. Wir werden uns ab sofort nicht mehr aufdrängen. Ist das in eurem Sinne?“

Für einen Augenblick sahen sie uns ziemlich entgeistert an.

„Wir lassen euch nicht hängen, Svantje. Du schaust nämlich so skeptisch. Aber so ist es nicht“, versuchte ich, die Situation abzufedern. „Wie Mama schon sagte: Wenn ihr Hilfe benötigt, sind wir da. Ansonsten lassen wir euch machen. Mich würde jetzt nur noch interessieren, wie ihr das mit dem Zusammenwohnen plant. Immerhin arbeitet Juho nicht um die Ecke. Wir reden hier über ungefähr 350 Kilometer und ungefähr dreieinhalb Stunden Fahrt.“

Doch auch das hatten sie wohl schon bedacht, weil Juho antwortete: „Wir werden erst einmal nur am Wochenende zusammensein. Wenn ich in ein paar Wochen für 14 Tage Urlaub habe, kommen meine Mädels zu mir. Und wir wollen gemeinsam eine Wohnung suchen.“

Wieder sahen meine Frau und ich uns nur an. Es gab vorerst nichts, worüber wir noch reden mussten.

* * *

„Die haben es aber eilig“, raunte ich ins schwach abgedunkelte Zimmer. Die Mitternachtssonne gönnte uns ihr alljährliches Schauspiel.

„Die haben es gar nicht eilig, Jan“, antwortete meine Frau. „Die lieben sich. Darum. Und aus keinem anderen Grund. Juho weiß, was er tut. Er liebt unsere Tochter. Aufrichtig und ehrlich. Er kann eine Familie ernähren. Er würde es nicht machen, wenn er nicht sicher wäre, unserer Svantje, oder auch jedem anderen Mädchen, keine Sicherheit bieten zu können. Soviel weiß ich von meinem Bruder.“

„Ach so? So einfach?“, fragte ich erstaunt.

„Ja“, sagte sie fest. „Bei dir war ich mir ja auch vom ersten Moment an ganz sicher. Ich hab mich bloß nicht getraut, die Pille heimlich abzusetzen. Das wäre nicht fair gewesen. Die beiden, die haben sofort mit offenen Karten gespielt. Du warst damals noch nicht bereit dafür. Deine Vergangenheit hat vieles in dir kaputt gemacht. Darum haben wir gewartet. Das ist auch nicht schlimm gewesen, ich habe nichts vermisst. Glaub mir, Jan, ich würde mich jederzeit wieder für dich entscheiden. Und ich würde wollen, dass nur du mit mir mein Erstes Mal erleben darfst. Niemand anderem würde ich dieses Privileg einräumen. Denn du bist meine Liebe, mein Gewissen, mein Vertrauen, meine Tiefen und du trägst mich auf weit ausgebreiteten Schwingen in ungeahnte Höhen. Du gibst alles von dir und nimmst nichts. Jan. Ich liebe dich.“

„Ich will jetzt mit dir schlafen, Ilka“, flüsterte ich und zog sie gierig an mich. „Du willst, dass ich dich dann nehme, wenn ich Lust habe.“

* * *

In der Firma war ich gerade in einer sehr hitzigen Debatte verstrickt, als mein Mobil sich in das Stimmengewirr einmischte.

„Moment“, rief ich und hob die Hand. „Meine persönliche Feuerwehr!“ – „Ja. Svantje. Was gibt es?“

„Abflug!“, schrie sie ins Telefon. „Mama ist im Krankenwagen auf dem Weg in die Klinik. Es geht los!“ Und sie hatte aufgelegt.

„Tschüss“, rief ich in die Runde und war auf dem Weg zur Tür. „Ich werde jetzt Vater. Haut ihr euch die Köpfe ein. Bis die Tage“, und raus war ich.

Keine halbe Stunde später war ich auch im Kreißsaal. Ilka lag nackt auf einer Liege, sah mich kommen und streckte mir ihre Hand entgegen. „Es will nicht warten“, bedauerte sie, und kaum hatte sie es ausgesprochen, setzte eine Presswehe ein.

Beherzt griff ich zu und unterstützte sie.

Ruhe. Die Welle klang ab. Ich legte meine Hand auf den Bauch. Es war unruhig darin.

„Fühl‘ mal“, sagte ich der Hebamme. „Das tobt.“

„Tät ich auch“, antwortete Kareen mit beruhigender Stimme. „Hinten wird gedrückt und vorn ist noch nicht genug Platz, um rauszukommen. Schön ist das nicht.“

Wieder eine Wehe. Die Fruchtblase platze.

„Jetzt wird es spannend. Komm Ilka. Pressen! Nicht nachlassen!“

Wie eine Besessene arbeitete meine Frau, schrie den Schmerz heraus, presste und kämpfte. Ich unterstützte sie nach Kräften, wie ich es im Unterricht gelernt hatte.

„Komm her“, beorderte mich Kareen zwischen die aufgestellten Beine meiner Frau. Das Köpfchen war schon zu sehen. „Den Rest schafft sie allein“, sagte sie. „Arme hoch“, und sie zog mir das T-Shirt aus. „Mit der nächsten Wehe ist es da. Wenn es da ist, nimmst du mir es bitte sofort ab. Schmiege es sofort an dich. Hier hast du schon mal ein warmes Badetuch.“

Sie hatte die Worte gerade ausgesprochen, da trat das ein, was sie gesagt hatte.

„Hier“, reichte sie mir ein blutverschmiertes knittriges Bündel. „Eine Tochter.“

Ich tat nur noch das, was mir gesagt wurde. Nichts war so spannend, als der Moment einer Geburt. Auch wenn Liara erst wenige Monate zuvor in meinem Beisein auf die Welt gekommen war, hier und heute war es meine Tochter, die ich in den Armen hielt.

Ilka war fix und fertig; und doch strahlte sie mich aus einer tiefen Ruhe an. Vorsichtig legte ich die Kleine auf ihre Brust, deckte sie mit einem frischen warmen Handtuch zu.

„Mein Engel“, flüsterte ich und küsste sie. „Soll sie immer noch Janika heißen?“

Sie nickte. „Ja. Janika. Gott ist gnädig. Obwohl“, und ihr einmaliges Schmunzeln tanzte in ihren Mundwinkeln, „er hätte doch ein bisschen nachhelfen können, dass es erst morgen kommt. Als echtes Geburtstagsgeschenk für dich.“

* * * Ende * * *

Orgelstücke herausgesucht bei Youtube.com ® TM

An der schönen blauen Donau
https://www.youtube.com/watch?v=p9vh-tSZCoI

Konzert in D-Dur für Orgel und Trompete, J. S. Bach
https://www.youtube.com/watch?v=6-ojM-rfkkc

Trumpet Voluntary, J. Clarke
https://www.youtube.com/watch?v=bRrss4kBi2M

Zurück zu „romantische Geschichten“

Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 1 Gast