Das Hausboot

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Ydalir
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Das Hausboot

Beitragvon Ydalir » Mi 26. Apr 2017, 19:13

Das Hausboot


Es ist ein lauer Abend im letzten Drittel des Mai. Noch steht die Sonne über den saftig grünen Wiesen der Unteren Seeve-Niederung. Ich sitze mit einem Glas schweren Rotweins auf der Dachterrasse meines Hausboots und genieße die Ruhe. Auf dem Nebenflüsschen Ilmenau, wo ich in einem kleinen beschaulichen Hafen liege, schaue ich den glitzernden Wellen zu. Sie funkeln wie die Sterne, die sehr bald am wolkenlosen Himmel zu sehen sein werden. Hinter dem Deich fließt gemächlich die Elbe. Von dort dringt dezentes tiefes Brummen eines Schiffsdiesels zu mir herüber. Vereinzelt schnattern noch ein paar Enten. Wenige Möwen fischen nach einem letzten Happen.

Mittlerweile ist es nun schon mein fünftes Jahr, seit ich von einem über mehrere Ecken verwandten Onkel dieses Hausboot vererbt bekommen habe. Wir beide hatten zu seinen Lebzeiten immer sehr engen Kontakt. Er selbst war nie verheiratet und wusste auch von keinem Kind, welches er mit der einen oder anderen flüchtigen Liebschaft gezeugt haben könnte. Damals traf mich der Verlust schwer. Fritz, der eigentlich Friedrich Hansen geheißen hatte und zuletzt Kapitän auf einem Containerschiff gewesen war, kaufte sich kurz vor der Rente dieses kleine ausgediente Küstenmotorschiff. Mit viel Liebe zum Detail baute er das Kümo, wie es immer nur kurz genannt wird, zu einem wahren Juwel um und aus. Benannt hat er es nach seiner einzig großen Liebe, die er einmal hatte. Zenzi. Sie war in der Tat eine wunderschöne junge Dame aus Niederösterreich und damals, ungefähr fünf Jahre nach dem Krieg, für die Zeit des Sommers hier gewesen. Fritz hatte ihr den Hof gemacht und sie auch in eine Heirat eingewilligt. Doch ihr Vater war dagegen und so blieb es leider nur ein unerfüllter Traum. Wie viel die beiden miteinander gehabt hatten, wollte mir Fritz nie so ganz verraten. Aber durch die Blume konnte ich heraushören, dass sie wohl nicht nur einmal miteinander geschlafen hatten.

Alles, was ihm geblieben war, ist eine mittlerweile verblasste Fotografie, auf der sie beide in lieblicher Umarmung an Deck einer Hafenbarkasse stehen und glücklich verliebt in die Kamera lächeln. Dieses Bild hängt noch heute bei mir im Wohnzimmer.

Onkel Fritz hat mir wirklich ein Einfamilienhaus auf dem Wasser hinterlassen. Das ehemalige Frachtschiff ist nicht ganz 30 Meter lang und genau sechs Meter breit. Wo einst die Ladeluken waren, ist ein Stahlboden plan eingezogen worden und darauf Aufbauten errichtet. Sie sind unterteilt in Wohnzimmer mit richtigem Kamin, Esszimmer und angrenzender Küche. Es folgt eine kleine Eingangsdiele mit Gästeklo und der Aufgang zum voll funktionsfähigen Steuerhaus, denn ich bin mit Zenzi auch tatsächlich in jedem Jahr für die Dauer meines Urlaubs unterwegs. Sie ist sogar für die Nordsee tauglich. Immerhin wurden auf ihr früher Waren nach Helgoland transportiert. Von diesem kleinen Vorraum erreiche ich unter dem Steuerstand die Kapitänskajüte, welche heute mein Reich ist. Recht geräumig und sogar mit einem Vollbad. Also Dusche, Badewanne, WC und Waschbecken. Dahinter liegt das Achterdeck, auf dem ich mein Auto parke, wenn ich unterwegs bin.

Neben der Treppe hoch führt eine weitere Stiege nach unten. Hier kommt man in einer Art nachgebildeter Hafenkneipe an. Kleiner Tresen mit Zapfanlage, diverse Schnapsflaschen kopfüber am Überbau montiert mit entsprechenden Portionierern, unter die man das Glas drückt, um so an den hochprozentigen Inhalt zu gelangen. Allerlei Metallwerbeschilder aus früheren Jahren für Produkte des täglichen Bedarfs zieren die holzvertäfelten Bordwände. Zigaretten, Waschmittel, Kondome, Autos und natürlich jede Menge für Bier und Korn. Selbstverständlich dürfen leicht oder gar nicht bekleidete Frauen auch nicht fehlen. Nichts davon ist pornografisch, aber doch schon recht anzüglich. Ein rechteckiger Tisch vor einer Eckbank und drei am Boden verschraubte Stühle. Platz für gut und gerne 10 Leute, wenn man zusammenrückt.

Rückwärtig vom Tresen ist eine Tür zum Motorraum. Unaufdringlich schnuppert es ein wenig nach Öl und Diesel. Ich liebe diesen Geruch.

Von der Kneipe in die andere Richtung führt an Backbord ein Gang bis fast zum Bug. Hier liegen erst eine kleine Toilette und im Anschluss zwei Gästezimmer. Da hier unten die großzügige Schiffsbreite voll ausgenutzt werden kann, sind die Räume entsprechend eingerichtet.

Der Erste davon beherbergt ein fast normal großes Ehebett quer zum Schiff mit genügend Platz rundherum. Es reicht sogar für einen kleinen Schreibtisch mit Leselampe, der auch als Schminktisch dienen kann. Wie zu Uromas Zeiten ist darüber ein Spiegel montiert, deren gesicherte Flügel sich aufklappen lassen. Eine Art Einbauwand zum Flur beherbergt den vollwertigen Einbauschrank mit Möglichkeiten, sogar Anzüge und lange Kleider zu hängen.

Es folgen zwei identische Duschbäder mit jeweils tolerierbarer Doppelbenutzung von Dusche und wahlweise Toilette oder Waschbecken.

Im zweiten Raum stehen längs zur Fahrtrichtung zwei Einzelbetten. Eines davon an der Bordwand, das andere an der Trennwand zum Flur. Hier ist der millimetergenau eingepasste Schrank zum Bad eingebaut. Unter beiden Betten lassen sich noch zwei weitere Matratzen auf arretierbaren Rollgestellen hervorholen und mit wenigen Handgriffen auf gleiche Höhe zu den Festeinbauten bringen. Die Liegefläche reicht für eine Familie mit zwei Kindern von ungefähr zehn Jahren locker aus.

Aber es haben hier auch schon vier meiner Kumpels nach einem zünftigen Gelage ihren Rausch ausgeschlafen.

Ganz vorn hat Onkel Fritz das eigentliche Schmuckstück eingebaut. Es ist beinahe schon eine kleine Suite mit eigenem Bad und einer Art begehbarem Kleiderschrank. Hier ist eindeutig das Highlight, durch eine große, klappbare Glasluke über dem pompösen Ehebett in den Himmel schauen zu können.

Als Kind wollte ich immer nur hier schlafen. Selbst wenn Onkel Fritz sich in den Kopf gesetzt hatte, erst abends auf Tour zu gehen, und Zenzis Diesel die acht Zylinder stampfend in Bewegung brachte. Das Brechen des Wassers am Bug, dazu das gleichmäßige Droff Droff Droff des Diesels waren und sind bis heute meine ganz persönlichen Einschlafgaranten. Kam ich nach solch einem Wochenende wieder nach Hause, war ich ein neuer Mensch. Sogar in der Schule, was sich an meinen positiv entwickelnden Zensuren deutlich ablesen ließ.

Aus allen Kabinen hier unten schaut man auch durch große Messingbullaugen, die bei Bedarf geöffnet werden können. Weil es im Sommer von Ungeziefer nur so wimmelt, hat mein Onkel in weiser Voraussicht feinste Fliegengaze in die Öffnungen einarbeiten lassen. Ansonsten wäre es nur auf dem offenen Meer mit geöffneten Luken zu ertragen.

Oben, auf dem Vordeck, hat Fritz mir einen kleinen, dafür aber sehr erlesenen Garten von Kräutern aller Arten hinterlassen. Sei es für die Küche oder zur Heilung diverser Wehwehchen. Alles ist in Kübeln, großen Tontöpfen und Schalen. Selbst bei der Auswahl der verschiedenen Pflanzbehälter hatte Onkel Fritz nichts dem Zufall überlassen. Mit etwas Geschick und Sinn für ein 3-D-Tetris können sie bei Bedarf im recht geräumigen Wintergarten des Wohnzimmers untergebracht werden.

Auf den Aufbauten habe ich mir eine Dachterrasse zurechtgemacht. Dort sitze ich nun und genieße meine kleine heile Welt um mich herum. Abwartend schaue ich den Weg entlang der Anleger in Richtung der untergehenden Sonne. Denn seit ungefähr zwei Wochen kommt jeden Abend eine junge Frau am Hafen entlanggejoggt. Bei sich hat sie immer einen Mischlingshund. Husky und Hovawart sind eindeutig zu erkennen. Vielleicht auch noch irgendeine Art Retriever. Auf jeden Fall ist das Tier sehr agil und lauffreudig. Gegebene Befehle setzt ihr Begleiter sofort um. Also ist der als wenig denkstark bekannte Husky nur in der Körperform vorhanden. So zumindest ist meine Schlussfolgerung.

Auffällig ist jedoch, dass sie bei meinem Schiff immer besonders herüberschaut. Egal, ob ich auf meiner Dachterrasse sitze oder sie heimlich hinter einer Gardine beobachte. Leider ist sie zu weit weg, um ihr Gesicht genauer erkennen zu können. Eine Eigenart ist mir allerdings schon beim ersten Mal aufgefallen. Sie hat einen sehr rhythmischen und leicht federnden Laufstil. Ähnlich dem, wie Onkel Fritz in normalem Tempo gegangen ist.

Kaum habe ich meine Gedanken zu Ende gedacht, kommt schon der Hund angelaufen. Wenig später sehe ich auch das Frauchen dazu. Fast rituell joggt sie an meiner Zenzi vorbei und schaut rüber. Doch entgegen den Abenden zuvor bleibt sie plötzlich stehen und betrachtet sich mein Schiff genauer. Obwohl sie mich ausgemacht hat, scheint sie keine Scheu zu haben, ihre Neugier in gewisser Form befriedigen zu müssen.

„Guten Abend!“, rufe ich zu ihr rüber und winke mit erhobener Hand.

„Moin!“, erreicht mich ihr gerufener Gruß, aus dem ich von nur diesem einen Wort keinen norddeutschen Dialekt heraushören kann.

Sie betrachtet mich; oder das Schiff. Ich hingegen habe nur Augen für sie. Mindestens eine Minute vergeht, bis ich fragend rufe: „Kann ich was für Sie tun? Oder suchen Sie jemanden?“

Mittlerweile sitzt auch der Hund brav neben ihr. Sie hingegen deutet nur wortlos auf den Steg, der zu meinem Schiff führt, und dann auf mich. Ich schließe daraus, sie will keine gerufene Unterhaltung und so anderen Gastliegern oder Schiffseignern als Unterhaltungsprogramm dienen.

„Ich komm runter und mach auf“, hamburgere ich in meiner mir eigenen Art und verschwinde aus ihrem Blickfeld in den Fahrstand. „Was will die denn wohl?“, grüble ich still und steige die Treppe herunter in die Diele. Durch das Rundfenster kann ich sie schon ausmachen und mir fährt ein Schreck in die Glieder. Ich schaue in die Augen meines Onkels und in das Gesicht seiner Zenzi.

Unverkennbar! Wenn ich gleich die Tür aufmache, werde ich einer mir sehr vertrauten Person gegenüberstehen, die ich trotzdem nicht kenne.

„Moin“, röchle ich mehr, als dass ich es neutral, geschweige denn freundlich rausbringen kann. Kurz räuspere ich mich und setze: „Entschuldigung“, nach. „Was kann ich für dich tun?“ Mir fällt im ersten Augenblick nicht mal auf, dass ich meine schwedisch-finnischen Wurzeln ebenfalls nicht verbergen kann, obwohl ich in Hamburg aufgewachsen bin.

„Grüß Gott“, wirkt sie jetzt beinahe schüchtern. „Ich jogge seit ein paar Abenden hier entlang und wundere mich immer wieder über den Schiffsnamen, der so gar nicht in diese Gegend passt“, liefert sie mir eine erste Erklärung. Unverkennbar, sie kommt aus Österreich.

„Mein Onkel hat sie so getauft“, lüfte ich das Geheimnis. „Ich habe sie vor gut fünf Jahren geerbt. Sie ist mein Zu Hause.“ – „Willst du reinkommen?“, trete ich einen Schritt beiseite.

Als wenn der Hund meine Einladung oder Geste verstanden hat, wuselt er sofort herein und hat auch direkt den Weg ins Wohnzimmer gefunden.

„Stella!“, ruft die mir noch Unbekannte und sofort erscheint ihr Vierbeiner wieder in der Diele. „Down and stay!“, befiehlt sie. Keine Sekunde vergeht und der Hund, nein, die Hündin liegt platt auf dem Boden.

Ich nutze den Augenblick und betrachte das Geschöpf vor mir für die Sekunden eingehender. Ihre Augen hat sie tatsächlich von meinem Onkel. Blassblau mit einem Hauch ins Grüne. Jochbeine und Kinnpartie stammen unverkennbar von der Zenzi auf dem Foto. Die Haare wiederum sind nur mein Onkel. Flachsblond und mit kaum zu bändigenden Locken durchsetzt. Darum hielt Fritz sie auch immer kurz. Dieses Etwas vor mir hat offensichtlich gelernt, damit umzugehen. Vom Alter her schätze ich sie auf höchstens Mitte 20. Rechne ich kurz zurück, so müsste ihre Mutter irgendwann um 1950 oder 1951 zur Welt gekommen sein. Sie selbst ist also irgendwann zwischen 1980 und 1983 geboren worden, wenn ich das aktuelle Jahr 2006 als Basis meiner Berechnungen annehme.

„Ich bin Venja Gruber“, holt sie mich in die Gegenwart zurück und reicht mir ihre Hand.

„Hej, jag är Tove Thorvaldsen“, antworte ich völlig in Gedanken versunken und greife nach den zarten Fingern, die mir entgegengereicht werden.

Doch nur beim banalen Versuch, die deutsche, oder auch österreichische Höflichkeitsfloskel auszutauschen, ist Stella sofort wieder hoch und baut sich bedrohlich vor mir auf. Unsere Hände sind wenigstens noch 30 oder 40 Zentimeter von einander entfernt.

Wie im Affekt, als würde mich jemand angreifen, packe ich das Tier an der länglichen Schnauze und mit der anderen Hand von unten um den Hals an die Kehle. Mit einem Ruck liegt Stella auf dem Rücken und streckt steif alle Viere von sich. „Har aldrig göra det igen!”, fauche ich die Hündin an, die mich aus angsterfüllten Augen anstarrt. „Tu das nie wieder!“, grolle ich auf Deutsch noch einmal meine Worte und lasse sie los. Wie eine aus Stein gemeißelte Statue bleibt sie liegen.

Seelenruhig ergreife ich Venjas Hand und halte sie einen Moment länger fest, als nötig. „Willkommen“, begrüße ich sie betont ruhig. „Möchtest du auch ein Glas Wein?“, übergehe ich den kurzen Zwischenfall einfach. „Der Abend ist lau und auf der Dachterrasse noch angenehm mild.“

Wenig später sitzen wir oben. Selbst Stella hat die recht steile Stiege bewältigt und liegt zu meinen Füßen. „Und?“ frage ich absichtlich neugierig.

Venja hingegen scheint das alles wenig bis gar nicht verstanden zu haben, was in den letzten paar Minuten vonstatten gegangen ist. Sie hält unsicher das Weinglas in der Hand und mustert mich und ihre Hündin ziemlich verunsichert.

„Machst du hier Urlaub?“, plaudere ich einfach weiter, denn sie scheint nicht so ganz verstanden zu haben, wie Hunde ticken. „Oder was hat dich an die Elbe verschlagen?“

Langsam richten sich ihre Augen auf mein Gesicht und sie wirkt unschlüssig. „Weiß nicht so recht“, murmelt sie. „Urlaub in gewisser Weise schon“, taut sie langsam auf. „Aber ich suche auch was.“

Was das ist, kann ich mir denken. „Warte mal eben. Ich bin gleich zurück“, stehe auf und verschwinde ins Wohnzimmer. „Suchst du vielleicht das hier?“, halte ich ihr das messingeingerahmte Bild hin.

„Wer ist das? Woher hast du das?“, schreckt sie auf und auch Stella hebt ob der lauteren Worte den Kopf.

„Die Frau heißt Zenzi. Den Nachnamen kenne ich nicht. Der Mann ist mein Onkel gewesen. Friedrich Hansen. Das Bild muss Zwischen 1949 und 1951 hier in Hamburg entstanden sein“, gebe ich die wichtigsten Informationen zu den Personen auf der Fotografie weiter. „Mein Onkel und sie waren für einen kurzen Sommer verlobt. Doch ihr Vater hatte was gegen die Verbindung und Zenzi nach Hause befohlen“, lüfte ich das weitere Geheimnis. „Alles, was mein Onkel noch in Erfahrung bringen konnte, war, dass Zenzi mit einem Bauern verheiratet worden ist. Danach verlor sich ihre Spur“, bringe ich die Kurzgeschichte für Venja zum Ende.

Nachdenklich, eher schon andächtig betrachtet sie das Bild. „Also stimmt die Geschichte doch“, sinniert sie halblaut und trinkt einen ersten kleinen Schluck.

„Welche kennst du denn?“, hat sie mich neugierig gemacht. Ich hege sogar die vage Hoffnung, etwas mehr Licht in diese von meinem Onkel absichtlich unbeleuchtete Ecke seines Lebens zu bekommen.

Beinahe traurig sieht sie mich an, als sie mit leiser und fast schon tonloser Stimme sagt: „Keine gute.“

Ganz bewusst halte ich meinen Mund, obwohl ich vor Spannung bald platzen könnte.

„Meine Oma Zenzi kenne ich kaum“, beginnt sie nach einer ganzen Weile und legt das Bild andächtig auf ihren Schoß. „Ich war vielleicht fünf oder sechs, als sie gestorben ist. Die wenigen Erinnerungen an sie sind eine uralte Frau mit gebrochenem Herzen. Meinen Opa hab ich nie gemocht. Er ist ein wortkarger Mann mit einem Starrsinn, den ich bisher noch bei keinem anderen Menschen erlebt habe. Zenzi hatte, so glaube ich, immer Angst vor ihm. Meine Mama ist die älteste Tochter. Danach kamen noch ein Junge und noch ein Mädchen. Das aber ist noch im Babyalter verstorben. Mama und ihr Bruder haben fast gar keine Ähnlichkeiten.

Ich war gerade eingeschult worden, als mein Vater eines Tages nicht mehr nach Hause kam und bis heute kein Lebenszeichen mehr von sich gegeben hat. Er ist von einer Dienstreise aus Brasilien einfach nicht wieder heimgekommen. Und eines Abends hat meine Mutter mir in einem Anfall von Verzweiflung und Trauer gesagt, dass sie gar nicht Opas Tochter sei.

So bin ich auf die Suche gegangen und habe unerlaubt in alten Briefen gelesen. Mir ist auch ein vergilbtes Foto in die Hände gefallen. Ähnlich dem hier. Darauf ist meine Oma Zenzi mit einem stattlichen Mann zu sehen. Oma muss damals wohl gerade Anfang 20 gewesen sein. Der Mann Ende 20 oder vielleicht auch schon 30. Heute weiß ich nun, dass es dein Onkel war.

Mein Opa hat wohl immer gewusst, dass Mama unmöglich seine Tochter sein kann. Darum hatte er sie auch schon früh aus dem Haus gejagt und zur Hauswirtschaftsschule geschickt. Als sie 24 war, wurde sie mit Papa verheiratet. Einem angesehenen Vertreter für Kurzwaren in der Steiermark. Er war damals schon über 40. Bei uns gehorchten die Mädchen damals noch den Eltern, besonders dem Vater. Und so hat sie sich 1975 in die Ehe gefügt. Ziemlich bald gebar sie auch den ersehnten Sohn. Dann folgten nur noch Mädchen. Wir sind fünf Kinder daheim. Ich bin die Letzte und 1982 im Februar geboren worden. Irgendwann habe ich beschlossen, meine Familiengeschichte einmal genau zu ergründen. So bin ich bei dir auf deinem Hausboot gelandet, welches den Namen meiner Großmutter trägt.“

Nachdenklich nicke ich still vor mich hin. Auch wenn sie mir ziemlich viel recht unsortiert erzählt hat, ergibt sich für mich dennoch langsam ein Bild. Ich beschließe, ebenfalls meine Geschichte zu erzählen.

„Onkel Fritz, wie er bei uns immer nur hieß, war Kapitän. Zuletzt auf einem Containerschiff. Er hat alle Weltmeere bereist. Manchmal bin ich als Schüler in den Sommerferien mitgefahren. Dabei ist er gar nicht so richtig mein Onkel gewesen. Er war ein Cousin meines Großvaters. Trotzdem habe ich mit ihm über all die Jahre hinweg immer sehr engen Kontakt gehabt, weil ich die See nun einmal liebe. Ich bin sogar auf einem Segelschiff zur Welt gekommen. Fast drei Wochen zu früh.

Meine Mama stammt aus Schweden, aus einem kleinen Ort nördlich von Göteborg, Timmerviken. Papa kommt aus Mittelfinnland, aus Iisalmi. Aber gefunden haben sie sich in Hamburg beim Studium. Mama ist immer noch aktive Psychotherapeutin, Papa auf dem Weg vom Anwalt in den Ruhestand. Sie wohnen draußen westlich von Wedel auf einem Resthof. Dort arbeiten sie auch. Mama in der Praxis im ehemaligen Schweinestall und Papa auf der Tenne, wo mal Kühe gestanden haben. Ich bin ihr einziges Kind und 1975 auf die Welt gekommen. Mitten auf der Nordsee. Auf dem Weg von Cuxhaven nach Helgoland. In Höhe der Tonne Elbe soll es gewesen sein.

Vor etwas über fünf Jahren ist Onkel Fritz gestorben und hat mir seine Zenzi vermacht. Seitdem wohne ich hier. Mein Onkel hat mir leider nie so wirklich erzählt, was damals alles passiert ist. Ich weiß nur von der Verlobung mit deiner Oma. Und, dass sie sich wieder trennen mussten. Auf dem Schiff habe ich jeden Winkel durchsucht und jede erdenkliche Klappe nicht nur einmal geöffnet, in der Hoffnung, etwas zu finden. Aber leider vergeblich. – Tja, und nun sitze ich mit dir hier auf dem Schiff und bin, ehrlich gesagt, ziemlich verwirrt. Wir sind um sehr viele Ecken verwandt und kennen uns doch überhaupt nicht“, schließe ich meinen auch nicht sonderlich gut sortierten Bericht.

Irgendwie finde ich die Situation gerade äußerst seltsam. Wir haben uns beide eigentlich nur mit den Vergangenheiten vorgestellt, trotzdem scheint eine Art Vertrautheit zwischen uns zu schwingen. Wir können auch nicht die Blicke voneinander lassen. Ich erkenne in Venjas Augen ganz deutlich die alles sehenden Augen meines Onkels. Sie nehmen jede noch so kleinste Regung auf und verraten doch nichts. Im Gegenzug strahlen sie gleichzeitig dafür Geborgenheit und Wärme aus. Genau das, was mich immer wieder zu Onkel Fritz gezogen hat, wenn ich als Kind und Jugendlicher Kummer und Sorgen hatte. Ihm konnte ich alles anvertrauen und nichts verließ seinen Mund.

Auch nicht meine Mutprobe, damals bei Karstadt geklaut zu haben und erwischt worden zu sein. Oder meine gefälschte Unterschrift auf dem Zeugnis, es angeblich meinen Eltern gezeigt zu haben. Onkel Fritz ging damals in die Schule und redete mit dem Rektor. Was, das blieb ebenso ein Geheimnis, wie das um diese Zenzi.

Venja gibt mir die Zeit, sie anschauen zu dürfen. Es stört sie nicht einmal, so zumindest macht es auf mich den Eindruck. Der Sport ist ihr anzusehen. Trotz ihrer ungewöhnlichen Größe von wenigstens 180 Zentimetern; eher sogar noch mehr. Ich bin 189 davon und sie kann mir fast geradewegs in die Augen sehen. Sie ist aber kein Muskelpaket, eher asketisch. Eben eine Frau mit den Rundungen am rechten Fleck aber dafür in Größe XL und nicht XS, wie ich sie in der Vergangenheit immer für mich bevorzugte. Diese mir gegenübersitzende Venja strahlt sogar etwas sehr Erotisches in ihren Joggingklamotten aus, die ihr wie eine zweite Haut eng am Körper liegen. Mehr als eine Hand bräuchte ich wahrscheinlich nicht, um eine ihrer Brüste zu umfassen. Gut, ich habe große Hände; auffallend sehr große Hände. – Danke Papa. – Trotzdem sind diese Brüste zu diesem Körper immer noch mein Traummaß. Ich liebe nackte Brüste. Auch wenn es eine Etage tiefer noch mehr Spaß macht; Brüste muss ich immer anfassen, sofern ich es darf.

Ihre Taille ist nicht minder aufregend. Obwohl sie sitzt. Kein Bäuchlein. Kein gar nichts. Sie weist dafür auf ein sanft ausgeformtes Becken. Die Beine sind ebenfalls ein Kunstwerk. Muskulös und doch schlank. Vor allen Dingen aber wahnsinnig lang. Auch wenn ich eigentlich kleine Frauen bevorzuge, aber lange Beine machen mich irgendwie an. Sie regen bei mir regelrecht sexuelle Fantasien an. Ich stecke mit meinem Sporn in der Frau und sie verschränkt ihre Beine hinter mir. Zwar hab ich das noch nie erlebt, aber ich stelle mir das absolut geil vor. Wenn sie mich in meinem Takt in sie drückt, weil sie mich ebenso will, wie ich sie.

Schuhe sind für Venja dagegen sicherlich eine Herausforderung. Ihre Füße sind groß. Irrsinnig groß. Ich hab Schuhgröße 46. Sie schätzungsweise 43 oder sogar 44. Für eine Frau bestimmt eine Strafe. Onkel Fritz war über zwei Meter und bekam nur in drei Läden Hamburgs was. Muss nun Venja dieses schwere Erbe quasi ausbaden?

„War nett bei dir“, werde ich unsanft aus meinen Gedanken geholt. „Aber ich muss dann mal wieder weiter. Komm Stella!“, fordert sie ihre Begleitung auf und ehe ich mich versehe, joggt sie auf dem Weg von dannen.

Unverhohlen starre ich Venja auf ihren beinahe unvergleichlichen Hintern, während sie ihr Tempo aufnimmt. Ein Po, der es garantiert verdient hat, liebevoll und zärtlich verwöhnt zu werden. Er kommt direkt nach den Brüsten, die ich persönlich sehr schätze.

* * *

Morgen, Tag und Abend reihen sich seit unserem geheimnisvollen Treffen nahtlos aneinander, ohne auch nur den Hauch verspüren zu lassen, dass ich eine entfernte Cousine, oder was auch immer, getroffen habe. Seit dem Abend ist sie wie vom Erdboden verschluckt.

Ein Tag vergeht wie der andere. Ich sitze am späten Freitagnachmittag in meinem Wohnzimmer und entwerfe für meinen aktuellen Kunden seine Webseiten. Mit meiner Drohne habe ich Innenaufnahmen der Ausstellung und einiger ausgewählter Büros gemacht. Wichtig tuende Angestellte haben sich präsentiert, Freunde von mir dienten als begeisterte Kunden in ihren Statistenrollen. Doch das Architekturbüro braucht nun mal eine ansprechende Internetpräsenz. Und ich muss das dringend fertig bekommen, denn für ein neues Hotel in Kiel wartet bereits der nächste Auftrag und Kunde.

„Tove?“, ruft es plötzlich von draußen und an der Eingangstür wird wenig unsanft geklopft. Ich schrecke hoch. Nicht wegen der Heftigkeit, sondern weil es Venjas Stimme ist, die ich vernommen habe. „Bist du da?“

Wie vom Donner gerührt springe ich auf und hechte die paar Meter zur Tür, um sofort nach dem Öffnen von Stella bellend und schwanzwedelnd begrüßt zu werden. „Nanu?“, bin ich nicht wenig erstaunt, die beiden nach über einer Woche vor mir stehen zu sehen. „Willst du reinkommen?“, trete ich beiseite und Stella huscht sofort wieder ins Wohnzimmer.

„Danke“, wirkt Venja urplötzlich total schüchtern und hat rosa Wangen bekommen, folgt jedoch sowohl meiner Einladung als auch ihrer Hündin.

„Was darf ich dir anbieten?“, versuche ich, ein einigermaßen passabler Gastgeber zu sein. „Wasser oder Saft? Tee oder Kaffee?“, frage ich weiter und bleibe abwartend im Raum stehen.

Sie aber schüttelt nur mit dem Kopf und sagt leise: „Gar nichts. Setz dich bitte. Ich muss dir was erzählen.“ – „Ich hab mit meiner Mutter telefoniert“, beginnt sie, nachdem ich mich ihr gegenüber hingesetzt habe. „Seit Anfang Mai wohne ich hier oben, weil ich hier eine neue Stelle angefangen hab. Zu Hause hielt ich es die vergangenen Jahre immer weniger aus. Seit ich angefangen habe, mehr über meine Familie herauszufinden, sprechen Mama und Opa gar nicht mehr miteinander. Obwohl wir zusammen auf dem alten Bauernhof leben und er mittags zum Essen kommt. Nur wenn es unausweichlich ist, tauschen sie karge Worte aus.

In den Bergen hatte ich mich als Kind noch nie wohlgefühlt. Mich zog es immer zum Wasser. Und wenn es nur ein Bachlauf war. Langsam verstehe ich auch, warum ich das Wasser liebe. Das ist mir wohl von meinem wahren Opa mit in die Wiege gelegt worden“, schmunzelt sie leicht verschüchtert. „Mutter und Opa reden nun auch mit mir nur noch das Nötigste. Seit ich verkündet habe, das Tal zu verlassen, gehöre ich nicht mehr zur Familie. Zumindest hat mein Opa mich verstoßen. Er lebt immer noch in der alten Denkweise. Er wollte mich sogar mit einem Viehbauern verheiraten. Das war für mich der Zeitpunkt, mein Bündel zu schnüren.

Erst als meine Bewerbung Erfolg gehabt und ich den Arbeitsvertrag unterschieben hatte, lüftete ich das Geheimnis. Zumindest zum Teil und auch nicht ganz die Wahrheit. Opa bringt es nämlich fertig und zerstört alles, was ich mir selbst aufbauen will, nur um seine Macht zu demonstrieren. Meine älteste Schwester hat keine Kraft gegen ihn aufbringen können und wurde verheiratet. Sie ist billige Magd und Gebärmaschine für weitere Knechte und Mägde. Ihr Mann ist ein Teufel. Manchmal glaube ich sogar, er schlägt sie und die Kinder.

Darum glauben alle, ich arbeite irgendwo bei Kiel. Eine Studienfreundin ist dort verheiratet und bei ihr bin ich offiziell gemeldet. Tatsächlich aber wohne ich bei dir gleich um die Ecke in Drage und arbeite in Winsen im evangelischen Kindergarten. Dort wissen sie um meine Probleme schon und ich werde gedeckt, falls doch was durchsickern sollte.

Sicherlich fragst du dich auch, warum ich ausgerechnet dir das alles erzähle. Du bist nach meinem Kenntnisstand der einzige Verwandte außerhalb Österreichs. Wenn auch sehr entfernt verwandt. Alle anderen haben das Tal nie verlassen und leben und arbeiten heute noch dort. Ich weiß, ich hab dir nun ungefragt meinen privaten Kummer vor die Füße gekippt. Aber ich vertraue dir. – Kann ich jetzt vielleicht ein Glas Wasser haben?“

Für Sekunden bin ich noch in einer Art Schockstarre gefangen, bis ich mich wortlos erhebe und uns beiden was zu trinken hole. „Aber weswegen hast du deine Mutter überhaupt angerufen? Das hab ich noch nicht ganz verstanden“, sage ich, nachdem ich wieder sitze.

Sie trinkt einen Schluck und meint fast schon gleichgültig: „Wollte nur ein Lebenszeichen von mir geben. Wie es bei denen so geht, hat sie mir nicht gesagt. Das würde mich nichts mehr angehen. Ich hätte mich schließlich Opas Befehlen widersetzt. Er habe schon recht damit, mich aus der Familie zu verstoßen. Sie tue das jetzt auch. Und dann hat sie aufgelegt.“

Wieder brauche ich Sekunden, um das als Realität wahrzunehmen und nicht zu meinen, in einem fürchterlich schlechten Theaterstück mit miserabler Regie zu sitzen. „Und das im 21. Jahrhundert“, murmle ich vor mich hin und starre vor mir auf das Wasserglas. „Was du da gerade so berichtet hast, hört sich für mich nach tiefstem Mittelalter an“, sage ich und schaue sie dabei an. „Und ich bewundere deinen Mut, das alles auf dich zu nehmen; sogar die Familie zu verlieren, weil du deinen eigenen Weg gehen willst. Venja, wenn ich dir irgendwie helfen kann, lass es mich bitte wissen. Möchtest du vielleicht zum Abendbrot bleiben? Ich hab nur nicht viel im Haus. Freitags gibt’s bei mir auch nur Fisch oder Käse. Heute kann ich dir Flussbarschfilets anbieten.“ Bei meinem letzten Satz sehe ich ihre Augen sich kindlich gierig weiten.

Trotzdem antwortet sie: „Das kann ich nicht annehmen. Außerdem würde ich doch sicherlich deiner Frau ihre Portion streitig machen.“

„Welcher wer?“, frage ich und muss kurz lachen. „Meiner Frau? Wie kommst du darauf? Sieht es hier tatsächlich so aus, als würde eine Frau, meine Frau hier wohnen?“, frage ich belustigt weiter und muss letztendlich schallend lachen. „Nein, der isst du nichts weg, weil ich keine habe“, setze ich nach meinem kurzen Lachanfall fort. „Fisch kaufe ich grundsätzlich immer reichlich“, erkläre ich weiter. „Ist so eine Art Grundnahrungsmittel für mich. Und bei den beiden Elbfischern hier im Hafen bekomme ich die teilweise noch lebend.“

Stella wird unruhig und stupst ihr Frauchen an. „Sie muss eben mal raus“, sagt Venja irgendwie erleichtert. So wie ich, scheint auch sie dankbar dafür zu sein, aus dieser peinlichen Nummer noch relativ anständig rausgekommen zu sein. „Dann nehme ich die Einladung gerne an, Tove“, sagt sie bedeutungsschwanger, als sie an mir vorbeigeht.

„Nimm einen Schlüssel mit“, biete ich ihr an und greife zu einem kleinen Bund mit einem gelben Minifender dran. „Ohne das Ding würde der untergehen, wenn er mal aus der Hand rutscht“, erkläre ich, weil sie fragend auf das nicht unbedingt jackentaschenkonforme Teil starrt. Sekunden später bin ich allein in der Diele und sehe ihr aus dem Bullauge in der Haustür nach. Ihr Gang wirkt beinahe beschwingt. Vermutlich hat es ihr gutgetan, sich einmal den Frust von der Seele geredet zu haben. Wie sie aber auf die absurde Idee gekommen ist, ich könne eine Frau haben, würde ich gern noch erfahren wollen.

Meine Mutter jedenfalls ist von meiner junggesellenhaften Lebensweise wenig bis gar nicht angetan. Spätestens ihr vierter Satz ist immer der gleiche: „Junge, wie das hier wieder aussieht. So bekommst du nie eine Frau.“ Und dann räumt sie auf. Ohne Rücksicht darauf, ob ich anschließend noch was wiederfinde, wenn sie wieder gegangen ist. Eine Wollmütze und ein Paar Handschuhe sind seit dem letzten Winter nach einer solchen Aktion unauffindbar verschwunden. Zum Glück lässt sie seit einem durch sie herbeigeführten Tod eines Smartphones meine elektronischen Geräte liegen.

Venja ist aus meinem Blickfeld verschwunden und ich gehe in die Küche. Bereits heute mittag hatte ich die Filets vorbereitet. Flussbarsch esse ich am liebsten auf Onkel Fritz‘ Art. Ich vermenge abgeriebene Zitronenschale mit etwas Orangen- und Guavensaft. Damit reibe ich die Filets von außen ein, salze und pfeffere sie und lasse sie ungefähr 4 Stunden im Kühlschrank ziehen. Für die Füllung nehme ich hauptsächlich Kräuter aus meinem Garten. Basilikum, Thymian und Petersilie. Wenn es etwas origineller sein soll, mische ich auch noch Salbei und einen Hauch Lavendel darunter. Das alles hacke ich klein und vermenge es mit einer guten Portion frisch geraspeltem Parmesan. Diese Kräuter-Käsemischung verfeinere ich noch mit einem Becher Sahne und Toastbrotscheiben, bis die Masse recht fest ist. Damit bestreiche ich die Innenseite eines Filets und lege das andere oben drauf. Mein Onkel hatte sie immer mit Zahnstochern zusammengehalten. Ich habe mir extra dafür spezielle Fischbräterzangen für die Pfanne besorgt. Denn spätestens beim Wenden sind mir die Dinger mit den Holzstäbchen fast immer auseinandergefallen und es sah nur noch scheußlich aus. Heute werde ich Semmelknödel dazu machen. Für die Soße hab ich noch keine Idee, aber die kommt mir bekanntlich sowieso erst beim Kochen.

Ich bin mitten in den Vorbereitungen, als der Schlüssel draußen an der Tür klappert. Wenig später steht Venja in der Tür und mustert mich aufmerksam. „Kann ich dir zur Hand gehen?“, fragt sie nach einer kleinen Weile schüchtern leise.

„Ja“, bestätige ich. „Auf dem Esstisch Platz schaffen. Das Notebook lass bitte noch stehen. Das räume ich gleich weg“, sage ich vorsorglich. Die Knödel schwimmen langsam auf und ich brate den Fisch an. Er braucht höchstens vier Minuten von jeder Seite. Für die Soße nehme ich den Zitronensaft, ein paar Kräuter und Gewürze, Wasser und Mehlschwitze. Pfeffer, Salz und eine Messerspitze Zimt. Wenn alles aufgekocht ist, ebenfalls noch eine Messerspitze Vanillinzucker.

„Wo finde ich denn alles, um einzudecken?“, ist Venja nach ein paar Minuten wieder bei mir.

„Steuerbord im Schrank“, antworte ich, blicke kurz hoch und ergänze: „Rechts im Schrank. Besteck ist in der rechten Schublade. Servietten links.“

„Du magst es nicht glauben, aber wo Backbord und Steuerbord sind, weiß ich“, lacht sie mich keck an und verschwindet, um mit anschließendem Geklapper kundzutun, bei der Suche erfolgreich gewesen zu sein.

Wenig später sitzen wir bei Tisch. Wie auf ein unsichtbares Zeichen hin, halten wir beide kurz inne und falten die Hände. Es überkommt mich einfach und ich spreche: „Herr, Venja hat große Sorgen. Sie hat heute ihren Mut zusammengenommen und mich aufgesucht. Sie hat mir ihren Kummer anvertraut. Herr, segne du bitte die Speisen und nimm Venja ihre Lasten ab. Amen.“

Neben mir schnieft es leise und ich sehe sie mit den Handrücken über ihre Wangen streichen. „Danke“, wispert sie mit zittriger Stimme.

Den Fisch habe ich bereits in der Küche auf vorgewärmte Teller verteilt und reiche ihr die Schüssel mit den Knödeln. „Ich hoffe, dir schmeckt das Rezept von… von unserem Großvater und Onkel“, versuche ich, nicht allzu hilflos auf die Situation einzugehen. Es ist seit wenigstens zwei Jahren mal wieder soweit, eine Frau bekocht zu haben, die nicht meine Mutter ist.

Ein Schmunzeln tanzt auf ihren Lippen und die noch feuchten Wangen werden leicht rosa. „Selbst wenn es nur halb so gut schmeckt, wie es duftet, wird das ein Festmahl sein“, schnuppert sie noch einmal flüchtig über den Fisch und bedient sich. – „Sagenhaft!“, verkündet sie mit großen Augen nach dem ersten Bissen. „Wer hat dir das Kochen beigebracht? Deine Mutter?“, will sie unbedingt wissen.

„Nur ein wenig. Das meiste hab ich hier auf dem Schiff bei Onkel Fritz gelernt. Er hat aus der ganzen Welt seine Rezepte zusammengetragen und aufgeschrieben. Fleisch, Fisch, vegetarisch und sogar vegan. Es reicht, ein Jahr zu kochen, und keinen Tag wiederholt sich das Essen“, sage ich nicht ohne Stolz. Wie ich feststellen darf, schmeckt es Venja wohl sehr gut. Denn sie sagt nichts mehr, sondern genießt teilweise mit geschlossenen Augen.

„Was hast du denn in der Soße alles drin? Die schmeckt ja sagenhaft!“ möchte sie unbedingt wissen. Nach kurzem Zögern verrate ich ihr mein Rezept, wobei ich auch Zimt und Vanillinzucker nicht verschweige. „Backzutaten?“, wundert sie sich. „Auf solche schrägen Ideen ist mein… Großvater… gekommen?“ Es hat sie ein wenig Überwindung gekostet, das Wort bewusst auszusprechen.

„Nein. Die stammen von mir. War ein Experiment, was es über dieses Stadium hinaus geschafft hat. Hier und da hab ich nach Onkels Tod meinen Geschmack ausprobiert. Manches ist gelungen, anderes eben nicht“, gebe ich ihr eine etwas ausführlichere Erklärung und putze mit einem restlichen halben Knödel die letzte Soße vom Teller. Als auch sie fertig ist, frage ich: „Noch Lust auf ein Glas Wein oben auf der Terrasse?“

Kurz schaut sie auf die Uhr und verneint. „Ich laufe ja noch gut eineinhalb Stunden nach Hause.“

„Dein Problem könnte ich lösen“, antworte ich. „Die Taxizentrale in Winsen gehört einem Freund. Den brauch ich nur anrufen.“ Vielleicht schaffe ich es ja, sie doch noch zum Bleiben zu bewegen. Aus irgendeinem mir nicht erklärbaren Grund möchte ich Venja noch nicht gehen lassen.

„So dicke hab ich das auch nicht, mir ein Taxi leisten zu können“, lehnt sie erneut ab. „Außerdem hat Stella noch nicht ihre Kilometer gemacht.“

Ich habe verstanden und nicke. Schweigend nehme ich unsere Teller und bringe sie in die Küche. Fast geräuschlos werden kurz nach mir die restlichen Sachen auf den letzten freien Platz der Arbeitsfläche gestellt. „Vielmehr sollte ich dir eher beim Spülen helfen, als ein Glas Wein zu trinken“, deutet sie auf das ansehnliche Chaos.

„Das kommt alles in die Maschine. Nur nicht Pfanne und Fischbräterzangen“, winke ich lässig ab.

Ohne Vorwarnung kommt sie plötzlich zu mir und umarmt mich. Eigentlich klammert sie sich schon eher an mich. „Danke“, schnieft sie leise. „Das hat gut getan und sehr gut geschmeckt.“ Genau so schnell lässt sie mich wieder los und flüchtet mit Stella durch die Haustür ins Freie. Über den Anleger und auf den Weg. Ohne sich nochmal umzudrehen, verfällt sie in einen leichten Trab und ist binnen Sekunden fort. Nur die Hündin schaut sich noch einmal leicht verwirrt um, läuft dann aber ihrem Frauchen in einem kurzen Sprint hinterher.

Ich bin mindestens so durcheinander, wie Venja und Stella zusammen. Monoton schaffe ich Ordnung und köpfe anschließend eine Flasche Bier. Weil es draußen immer noch mild und die Sonne noch nicht untergegangen ist, steige ich auf die Dachterrasse und fläze mich in einen der Hochlehnerstühle. Meine Gedanken kreisen um die Geschehnisse in Venjas Familie. Für mich ist ihre Welt nicht nur weit weg, sondern auch gar nicht fassbar. Natürlich hört man schon von Traditionen in Bayern oder auch Österreich und in der Schweiz. Aber so verkrustete Ansichten sind mir bisher noch nicht zu Ohren gekommen. Ob ich mal mit meinen Eltern darüber reden sollte? Durch ihren Berufsstand stehen sie unter Schweigepflicht. Außerdem sind wir mit Venja, wenn auch nur sehr entfernt, verwandt. Wir sind daher aus meiner Sicht verpflichtet, in gewissen Grenzen Hilfestellung zu leisten.

Die Hopfenkaltschale rinnt mir durch die Kehle und ich komme langsam wieder runter. Von meinem Essen bin ich selbst immer noch beeindruckt. So gut hab ich das noch nie hinbekommen; meine ich zumindest. Hat Venja mich vielleicht beflügelt? Versonnen schaue ich der Sonne zu, wie sie langsam hinter den Baumkronen verschwindet und ihr abendliches Farbenspiel beginnt. Noch ist es ein zartes Rotorange, das sich zu einem kräftigen Rot entwickeln wird und im Lilablau endet. Dann werden auch die ersten Sterne sichtbar. Doch das werde ich heute nicht mehr sehen, weil mittlerweile der Juni angebrochen ist und sich die Sommersonnenwende nähert. Eigentlich mein Hochfest, das ich bis auf wenige Jahre immer in Schweden bei meinen Großeltern gefeiert habe. Aber in diesem Jahr binden mich meine Kunden, hier zu bleiben.

Blöd ist nur, ich weiß nicht, wo Venja genau wohnt. Sonst könnte ich sie morgen einfach überraschen und mit ihr ein wenig in die Natur rausfahren. Oder nur nach Hamburg und dort an den Elbstrand. Vielleicht auch an die Ostsee. Kennt sie überhaupt die weitere Umgebung?

„Bist du noch wach?“, höre ich plötzlich eine Stimme neben dem Boot leise zu mir heraufrufen.

Ich richte mich auf und schaue über die Brüstung. Auf dem Steg steht Venja. Neben ihr sitzt Stella und eine kleine Reisetasche liegt auch noch zu ihren Füßen. „Ja. Was kann ich noch für dich tun?“, frage ich erst einmal zurück.

„Machst du mir bitte die Tür auf?“, fleht sie beinahe. In ihrer Stimme schwingt Verzweiflung und Angst mit.

Wortlos erhebe ich mich und gehe runter. Kaum habe ich geöffnet, poltert ihre Tasche zu Boden, fällt sie mir wieder um den Hals und heult einfach los. Stella sehe ich schon fast gewohnheitsmäßig ins Wohnzimmer traben. „Was ist denn passiert?“, frage ich beunruhigt. Dabei kenne ich die Antwort längst. Sie muss mich auch nicht bitten, ihr Halt zu geben. Wie selbstverständlich umarme ich sie und drücke das nahezu hilflose Wesen an mich. „Ja“, flüstere ich, „das ist alles nicht nur etwas zu viel für dich gewesen.“ Sanft kraule ich ihren Rücken. „Kann ich dir noch was Gutes tun? Oder möchtest du einfach nur schlafen?“ Denn ich vermute mal, sie hat das Nötigste in der Tasche mitgebracht.

Sie zieht kurz bebend die Luft ein und flüstert: „Das Glas Wein würde ich doch gern annehmen. Und wenn du so fragst, wäre ein Bett danach nicht schlecht.“

Vorsichtig bringe ich sie auf einen kleinen Abstand, um ihr in die Augen sehen zu können. „Venja, du bittest mich um Hilfe. Dafür danke ich dir. Im Wohnzimmer findest du im Weinregal Rotwein. Oder sonst unten im Kühlschrank unterm Tresen – ach, du kennst dich hier ja gar nicht aus“, unterbreche ich mich selbst. „Komm erst einmal mit, dann zeige ich dir, wo du nachher schlafen kannst“, löse ich unsere Umarmung und steige die Treppe nach unten. „Reich mir deine Tasche runter“, halte ich ihr meine ausgestreckten Arme entgegen und nehme ihr das entgegen meiner Vermutung recht schwere Teil ab. „Pass ein wenig auf die Kante auf“, deute ich auf ihre Stirnhöhe, als sie auf der drittletzten Stufe ist. „Das ist eine von ganz wenigen Fehlkonstruktionen.“

War sie eben noch in völlig desolater Verfassung, ist diese nun wie weggeblasen. „Das sieht ja aus wie… wie eine Hafenspelunke auf Sankt Pauli“, sagt sie überwältigt und dreht sich einmal langsam im Kreis. „Und die ganzen alten Blechreklamen“, ist sie schier begeistert. Selbst bei den nackten Frauen schaut sie genauer hin. „Sind die wirklich alt oder nachgebildet?“, fragt sie neugierig und betastet beinahe andächtig die Reliefs.

„Die ersten hat Onkel Fritz direkt nach dem Krieg mit einigen Amerikanern und Briten gegen frischen Fisch getauscht. Das Ford-Schild ist ein Original von 1930 und das Älteste an Bord. Nur die Damenwelt sind Repliken“, schmunzle ich leicht verlegen. „Der Rest ist echt, soweit ich weiß.“ – „Doch nun komm erst einmal mit durch. Ich will dir dein Reich zeigen. Das Bett ist auch noch nicht bezogen“, erfasse ich einfach so ihre Hand und leite meinen Besuch in die Bugkabine.

Stocksteif verharrt sie, als ich vorgegangen bin und sie einen ersten Blick in den gemütlichen Raum werfen kann. An der Holzverkleidung sind nachgebildete Petroleumlampen als dimmbare Nachttischleuchten angebracht. Die von der Decke an Messingketten herabhängende Lampe ist im gleichen Stil. „Noch ein schmerzhafter Kollisionsfaktor“, deute ich darauf. „Nie im Dunkeln aufstehen, wenn du dich hier nicht blind auskennst“, mahne ich ernst. „Das tut richtig weh.“ – „Hier ist dein Bad und da kannst du deine Sachen ablegen“, mache ich die Türen zu beiden Kammern auf. „Heißwasser dauert einen Moment, bis es vom Boiler hier angekommen ist.“

Ihr scheint die Herberge tatsächlich zu gefallen, denn sie schreitet in kleinen Schritten das heimelige Domizil ehrfürchtig ab und begutachtet jedes liebevoll von meinem Onkel angebrachte Detail. Auf diese Kabine hatte er immer besonders sehr viel Wert gelegt.

„Das ist für meine Hochzeitssuite“, hatte er immer schelmisch gegrinst, wenn ihm der Zufall auf einem seiner zahlreichen Flohmarktstreifzüge wieder etwas ins Auge hat springen lassen und er unbedingt haben musste. „Junge, für deine Hochzeitsnacht überlasse ich dir dann mein Schiff“, fügte er meist noch an und hatte dabei nicht selten einen sehnsüchtigen Blick. Bestimmt hätte er es gern noch erlebt, mich in den Hafen der Ehe einlaufen zu sehen. Doch nach 87 Jahren hatte er sein Leben gelebt und war friedlich in seiner Kajüte eingeschlafen. Dass ich seine Zenzi alleinig zugesprochen bekam, verwunderte mich damals trotzdem, als ich zur Testamentseröffnung beim Notar saß. Onkel Fritz hatte auch gut gewirtschaftet. Noch heute bezahle ich alle anfallenden Kosten für das Schiff nur von den Zinsen seines nicht kleinen Vermögens.

Die nachträglich eingezogenen Holzplanken knarren leise unter unseren Füßen, als ich ihre Tasche in den Ankleideraum lege und sie noch einen verstohlenen Blick ins Bad wirft.

Gut eine Viertelstunde später sitzen wir auf der Dachterrasse. Sie mit einem Glas Rotwein, ich mit meinem zweiten Bier. „Wo wird Stella die Nacht bleiben?“, möchte ich wissen, damit die Hündin nicht durch unbekannte Geräusche plötzlich los bellt oder verunsichert ist.

„Irgendwo unten in meiner Nähe. Das reicht“, antwortet sie und schaut zum Himmel auf, an dem kleine Schäfchenwolken blutrot dahinziehen. „Warum machst du das alles?“, fragt sie leise und traut sich nicht, mich dabei anzusehen.

Ich schmunzle und sage: „Aus momentan drei Gründen. Der erste Wichtige ist, ich bin Christ und versuche, mich an die Weisungen in der Bibel zu halten. An zweiter Stelle brauchst du Hilfe, weil du total überfordert bist. Und drittens bist du eine Art Cousine. Verwandte und Familienmitglieder lässt man nicht im Regen stehen. Zumindest ist das so bei uns“, setze ich noch schnell hinterher, weil ihre Erfahrungen sie etwas gänzlich anderes gelehrt haben.

In ihrem Gesicht kann ich ablesen, was sie fragen will. Aber sie schweigt, sieht wieder hinauf zum Himmel und saugt die von einer Brise herangetragene Luft nach Salz und Marschwiesen tief durch die Nase ein. Mir kommt es so vor, als findet sie tatsächlich etwas Entspannung von all den Erlebnissen der vergangenen Jahre und vor allem Tage und Stunden. Außerdem will mir immer noch nicht in den Kopf, wie verkrustet Menschen sein können, oder nur aus einer Tradition heraus an dieser festhalten, egal, in welchem Jahrhundert oder Jahrtausend sich die Menschheit gerade befindet. Natürlich sind Traditionen wichtig. Aber doch bitte in einem zeitgemäßen Rahmen. In Schweden feiern wir Midsommar ja auch nicht mehr ausschließlich nur in Trachten, wie es bis in die späten 70-iger Jahre üblich gewesen sein soll, sondern in bequemer Freizeitkleidung. Dennoch hat die Tradition des Festes an sich nicht darunter gelitten. Im Gegenteil.

* * *

Ich bin früh am Morgen zu meiner üblichen Zeit aufgewacht. Als ich im Bad fertig und angezogen bin, schleiche ich leise aus meiner Kajüte. Stella hört mich trotzdem und wufft einmal kurz. „Guten Morgen“, flüstere ich und klappere mit dem Schlüsselbund. Kurz darauf steht sie schwanzwedelnd neben mir. „Ich weiß nicht, ob du mir gehorchst. Und du hast keine Leine“, spreche ich mit ihr, wie mit einem Kind und komme mir ziemlich albern vor. Dann fällt mir plötzlich etwas ein. „Down!“, sage ich etwas lauter und sie liegt platt auf dem Boden. „Okay. Probieren wir es aus“, überlege ich und kritzle nur schnell eine Nachricht auf die nicht zu übersehende Tafel in der Diele, damit Venja nicht beunruhigt ist, sollte sie in der Zwischenzeit aufwachen.

Dann fällt mein Blick auf ein Stück Tau. Zwar sieht mich Stella etwas verstört an, aber sie duldet, dass ich es ihr am Halsband festmache. „Komm“, zupfe ich nur kurz und sie springt wieder auf. Ob sie es kennt, neben einem Fahrrad herlaufen zu müssen, ist unsere nächste Übung.

Dieses Tier hat mich von sich vollends überzeugt. Brav trottete sie neben dem Rad her, fuhr völlig angstfrei mit der Fähre rüber zum Zollenspieker und wartete geduldig vor der Bäckerei, bewachte sogar noch das Rad. Nur der Fährmann wunderte sich einen Moment über meine ihm unbekannte Begleitung. Ich erklärte ihm kurz, ich hätte Besuch und das Tier bräuchte seinen Auslauf. Als Einheimischer und dazu noch Neffe vom Alten Fritz, wie er hier in der Gegend nur genannt wurde, fahre ich seit jeher kostenlos mit der Fähre. Selbst für Stella brauchte ich nichts bezahlen.

Wir sind zurück am Schiff. Ich schließe die Tür auf und sofort steigt mir Duft nach frisch aufgebrühtem Kaffee in die Nase.

Venja schaut kurz aus der Küche und sieht mich beinahe entsetzt an. „Du hast sie an einen Strick gebunden?“, fragt sie vorwurfsvoll.

„Sicher ist besser“, halte ich dagegen. „Oder meinst du, ich springe ihr in die Elbe hinterher, wenn sie auf der Fähre doch Panik bekommen hätte?“

„Du bist was?“, wird sie noch etwas ungehaltener.

„Ich bin drüben gewesen und habe uns Brötchen geholt. Auch gleich noch ein frisches Landbrot“, halte ich ihr den Korb hin und bemerke erst jetzt, dass Venja noch im Schlafanzug ist. „Ich wünsche dir zudem auch einen guten Morgen, Venja. Mach dich frisch, zieh dich an, ich mach Frühstück“, stelle den Korb auf den Boden und binde Stella los. „Du bist ein braves Mädchen“, rubble ich mit beiden Händen ihre Wangen und sie trottet ins Wohnzimmer, um sich dort auf den Teppich vor der Tür zum Vordeck hinzulegen, den sie sich anscheinend schon mal als Stammplatz auserkoren hat.

„Was machst du mit Stella? Das mag die gar nicht, wenn man ihr an den Kopf fasst“, ist Venja schier ratlos ob meines Umgangs mit dem Hund.

„Offensichtlich doch“, kann ich nur erwidern und gehe ebenfalls in die Küche. „Wie hast du denn geschlafen?“, lenke ich unser mir zu raues Gespräch in eine andere Bahn.

Sie bekommt wieder rosa Wangen, als sie leise antwortet: „Gut. Aber allein.“

Soll ich? Soll ich nicht? Wäre das zu aufdringlich? Bevor ich mich entscheiden kann, hat sie es getan. Venja gibt mir einen zarten Kuss auf den Mund und fügt leise an: „Ich hab schon lange nicht mehr so fest geschlafen, wie dort vorn im Bett. Das Plätschern hat mir ein Schlaflied gespielt und dann war ich weg.“

Und sie ist es danach auch tatsächlich. Denn sie flüchtet schon fast aus der Küche und trippelt flink die Stufen nach unten. Wenig später höre ich die Tür ihrer Kabine zugehen.

Jetzt ist auch in mir einiges durcheinandergeraten. Ich hätte ihr maximal einen Kuss auf die Stirn gegeben. Warum aber küsst sie mich auf den Mund? Soll das ein Danke sein? Oder ein Hinweis? Was wollte sie mir damit sagen? Ja, natürlich, sie ist sehr hübsch anzuschauen und äußerst attraktiv. Welcher Mann würde sich nicht glücklich schätzen, von ihr geküsst zu werden? An mehr wage ich gar nicht, zu denken.

Um mich abzulenken, sorge ich für Frühstück auf dem Oberdeck in der Sonne. Nachher muss ich auf jeden Fall noch zum Kaufmann. Meine Vorräte an Käse und Wurst gehen zur Neige. Dazu noch diverse andere Dinge, die ich schon auf meiner Liste notiert habe. Zum Mittag wollte ich mir eine Roulade machen. Nun muss ich auch das noch neu überdenken.

Während ich die Sachen auf dem Tisch verteile, überlege ich, wie sich das Wochenende überhaupt gestalten wird. Venja ist seelisch ziemlich durch den Wind. Da werde ich mich auf einige Kurswechsel einstellen müssen und mal wieder meine Toleranzgrenzen ausloten dürfen. Meine richtige Cousine, Katinka aus dem finnischen Kannus, hat mich diesbezüglich durch eine relativ harte Schule gehen lassen. Sie war im letzten Jahr für vier Wochen an Bord. Was die mir neben ihrer Woche mit ihrer Regel alles an Emotionen zugemutet hatte, war teilweise schon sehr grenzwertig. Sie hatte mich sogar anfangs verführt und wir recht genialen Sex miteinander gehabt; und das nicht nur einmal. Diese kleine Springmaus passte auch einfach zu gut in mein Beuteschema. Klein, zierlich, gelenkig und niedlich anzuschauen. Aber das waren leider nur wenige positive Momente. Ansonsten durfte ich hauptsächlich als Mülleimer für ihre gescheiterte Ehe dienen.

Katinka hatte damals alle Warnungen in den Wind geschossen. Sie war 19, er 23. Aber wie es so ist. Die erste Liebelei war irgendwann vorüber und die Ehe begann. Alltagsprobleme kamen hinzu. Keine drei Jahre weiter und sie waren geschiedene Leute. Zum Glück ohne Kinder.

Der Tisch ist fertig gedeckt und im fast gleichen Augenblick kommt Venja aus dem Steuerhaus ins Sonnenlicht getreten. Und wie! Oben herum lediglich ein Bustier und unten rum eine Hotpants. Ihre nackten Füße stecken in geschnürten Leinenschuhen. Der Duftspur nach, als sie an mir vorbeischleicht, hat sie sich aber mit Sonnenschutz eingeschmiert. Was dieser aufreizende Aufzug jetzt noch soll, will ich nicht weiter überdenken. Mir sind das momentan zu viele Hinweise ihrerseits.

Wir nehmen Platz. „Was möchtest du denn heute unternehmen?“, frage ich einfach mal drauf los und reiche ihr nach einem kurzen Tischgebet den Flechtkorb mit Brötchen.

Sie greift zu und antwortet ehrlich: „Mich treiben lassen. Faulenzen. Vielleicht was lesen. In der Sonne liegen.“ – „Oder wenn du was geplant hast, vielleicht darf ich mitkommen?“

Mit ihr hier den ganzen Tag auf dem Schiff könnte gefährlich werden. Ich kann mich zwar beherrschen, aber ich bin andererseits auch nur ein Mann. Und der findet diese Frau an seinem Tisch einfach nur rattenscharf. „Wie viel kennst du eigentlich schon von der Gegend? Warst du schon drüben? In den Vier- und Marschlanden? Oder die Elbe runter bis kurz vor dem Hafen? Sollen wir eine Tour über die Elbe fahren?“

„Fahren? Über die Elbe?“, fragt sie erstaunt zurück. „Womit?“

Ich schaue sie nur verständnislos an und muss dann lachen. „Du bist auf einem Schiff! Schon vergessen? Etwa eine halbe Stunde und wir können los. Ich muss nur die Landverbindungen kappen“, erkläre ich ein wenig ausführlicher, weil Venjas Augen größer und größer werden. „Stella scheint ja nichts gegen sich bewegende Schiffe zu haben“, muss ich noch einmal kurz sticheln. „Allerdings solltest du dich recht bald entscheiden, weil ich beim Schleusenwärter anrufen muss. Die Elbe hat hier oben auch noch leichte Tide. Zwischen 10 und 11 Uhr können wir raus. Sonst erst wieder in fünf Stunden.“

Sie zögert kaum eine Sekunde und sagt begeistert: „Fahren!“

„Okay“, nicke ich. „Dann dürfen wir jetzt aber nicht trödeln, weil ich auch erst noch einkaufen muss.“

* * *

„Steuerbord geht‘s in die Norderelbe“, erkläre ich, als wir kurz vor der Bunthäuser Spitze sind. „Die nehmen wir auf der Rücktour. Nachher läuft die Queen Mary ein. Wir fahren über die Süderelbe weiter. Wenn wir vom Köhlbrand in den Hamburger Hafen kommen, sollten wir das Einlaufen des Kreuzfahrtschiffes gut beobachten können.“ – „Alles gut bei dir?“

Venja hat aufgeregte rosa Kinderwangen und strahlt. „JA! Es ist traumhaft.“

„Backbord kommt gleich Neuland zum Vorschein, wenn wir unter der A1 durch sind. Dicht dahinter beginnt Harburg und damit das Hafengebiet. Steuerbord ist Wilhelmsburg. Das gehört seit 2006 zu Hamburg Mitte. Zu beiden Seiten gehen Kanäle ab. Einige sind durchgängig, andere dafür Sackgassen. Wer sich hier nicht auskennt, ist schnell verloren.“

Ich lasse Zenzi gemütlich mit fünf Knoten übers Wasser tuckern und genieße selbst nach Monaten wieder einmal meine ganz persönliche Aussicht. Venja ist offensichtlich nicht mehr in der Lage, Fragen zu stellen. Sie schaut unentwegt zu allen Seiten und macht gefühlt alle zwei Sekunden ein Handyfoto.

Hier und da kommt uns ein Ausflugsdampfer entgegen. Man kennt sich und wir grüßen mit kurzen Signalen übers Schiffshorn. Mein Onkel war schließlich eine kleine Institution unter den Kapitänen. Mich kennen die meisten auch, seit ich nicht mehr in die Windeln mache. Teilweise ist auch schon die nächste Generation mit den Touristen unterwegs. Heute ist aufgrund des Ereignisses natürlich deutlich mehr los, als an normalen Wochenenden. Alles was schwimmen kann und sich irgendwie steuern lässt, ist auf dem Wasser unterwegs. Zunehmend wird es enger. Ich muss reagieren. „Du kannst doch Autofahren, oder?“, frage ich und konzentriere mich auf den Schiffsverkehr. „Übernimmst du mal das Ruder und folgst einfach nur dem Flusslauf. Ich will für etwas mehr Sicherheit sorgen und ein paar Fender raushängen. Oder kannst du den Webleinensteck?“

Ihre eben noch hibbelige Art ist schlagartig einer ängstlichen Starre gewichen. „Ich?“, fragt sie mit leichter Panik im Ausdruck.

„Ja. Entweder fahren oder Fender“, dränge ich zur Eile, weil einige Freizeitskipper ziemlich unkonzentriert wirken. Den Flaschen in der Plicht nach zu urteilen, sogar schon vollkommen besoffen sind. „Zenzi ist ein robustes Stahlschiff. Aber die Plastikbecher da draußen saufen ab, wenn die uns treffen“, erkläre ich flüchtig. „Also?“

„Was muss ich machen?“, wirkt sie von jetzt auf gleich voll konzentriert.

„Ruder links und rechts drehen, wie beim Auto das Lenkrad. Die Leine hier ist das Horn. Der Hebel das Gaspedal. Den lässt du in der Position stehen. Wie auf der Straße, rechts fahren. Du bist auf der Hauptstraße. Wer aus den Kanälen kommt, muss die Vorfahrt achten. Du hast eh keine Chance, diesen Kahn auf den Punkt zu stoppen. Also lass es auch sein. Wenn ich jetzt rausgehe und einer hält auf dich zu, wird der Stärkere gewinnen. Noch Fragen?“, beende ich meine Kurzeinweisung.

„Ja. Hättest du mir das auch mal früher sagen können?“, blafft sie mich an.

„Wer von uns beiden wollte fahren?“, zicke ich zurück. „Liest du keine Tageszeitung? Seit wenigstens einer Woche spricht ganz Hamburg über kein anderes Thema, als über die Queen Mary. Augen geradeaus. Flusslauf folgen. Schnauze halten“, kommandiere ich wie einst mein Onkel und verlasse das Steuerhaus.

Es hat was von Akkordarbeit, über 20 Fender an jeder Seite anzubringen. Stella scheint meine Arbeit besonders zu interessieren. Sie beschnüffelt jedes der Teile ausgiebig, bis ich es über die Reling hänge.

„Und Backbord von uns sehen Sie ein Hamburger Original“, tönt plötzlich eine Lautsprecherstimme übers Wasser. „Zenzi ist ein mit viel Liebe zum Detail umgebauter ehemaliger Küstenfrachter. Bis 1977 war das Schiff im Liniendienst zwischen Hamburg und Helgoland unterwegs, um die Inselbewohner zu versorgen. Nach der Außerdienststellung hatte der pensionierte Kapitän Fritz Hansen das Schiff gekauft und zu einem hochseetauglichen Hausboot umgebaut. Mittlerweile ist sein Neffe Tove Thorvaldsen Kapitän an Bord. Fritz Hansen hat seine letzte Fahrt vor über fünf Jahren angetreten. Heimathafen der Zenzi ist der Stöckter Hafen, südöstlich von Hamburg.“ Gemächlich tuckert mein alter Schulfreund Kalle mit seinem Tourikutter an mir vorbei und grüßt durch Handzeichen.

Als ich zurück im Steuerhaus bin, werde ich sogleich von Venja befragt: „Zenzi kennt wohl jeder in Hamburg. Oder?“

Ich nicke. „Alle die auf dem Wasser zu tun haben, schon. Zumindest die Alten. Mein Freund Kalle, der eben vorbei gefahren ist, war mit mir in der Schule. Aber auch viele Jüngere kennen das Schiff mittlerweile. Fritz war in Hamburg bekannt, wie ein bunter Hund. Er hat bis kurz vor seinem Tod fast alle begleitet, die ihr Patent machen wollten. Ich kenne keinen Hafenlotsen oder anderen Kapitän im Hafen, der nicht bei unserem Fritz in die Schule gegangen ist; oder seinen Rat gesucht hat. Er fehlt an allen Ecken und Enden. Ihm zollen sie auf ihre Weise ihren Dank. Und wenn es nur die Zenzi ist, auf die sie die Touristen aufmerksam machen. Unser Fritz hat nie das Rampenlicht gesucht. Er war einfach da. Er gab seine Ratschläge, stauchte Kapitänsanwärter zusammen und baute sie danach väterlich wieder auf. Nicht wenige davon fahren heute für die größten Reedereien auf den größten Schiffen der Welt. Wir beide dürfen stolz auf ihn sein.“ – „Und hätte er dich rechtzeitig kennengelernt – und du ihn – ihr hättet euch geliebt. Als Enkelin und Opa.“

* * *

Das Spektakel selbst ist lange vorbei. Wir haben weit ab vom Trubel an den Landungsbrücken einigermaßen geschützt im Dradenauhafen einen Liegeplatz gefunden. Stella war begeistert, sich direkt vom Schiff auf grünen Wiesen rollen und endlich ihr Geschäft verrichten zu können. So betrachtet ist sie eigentlich der perfekte Bordhund.

Gemeinsam haben wir in der Kombüse das Abendbrot zubereitet und sitzen bei herrlichstem Wetter wieder auf der Dachterrasse. Zwar ist der Ausblick hier nicht so romantisch, wie im Heimathafen, trotzdem kann ich dem ganzen etwas abgewinnen.

Offensichtlich tut Venja die Auszeit von ihrem mehr als desolaten Privatleben gut. Sie macht auf mich einen recht entspannten und sogar locker fröhlichen Eindruck. Auch bewegt sie sich recht sicher auf dem Boot und hat die wenigen Stellen, vom Schiff mit ihrem Kopf Karambolagebillard spielen zu lassen, schnell verinnerlicht. Stella flitzt auch ohne Unsicherheiten die ziemlich steilen Niedergänge rauf und runter.

Trotzdem weiß ich immer noch nicht so recht, wie ich ihre Worte und Gesten, eigentlich ihr ganzes Verhalten vom Morgen deuten soll. Sie hatte zwar gut, aber eben allein geschlafen. Okay, was anderes wäre zumindest mir auch gar nicht in den Sinn gekommen. Gleich in der ersten Nacht miteinander in die Kiste zu steigen, ist gar nicht mein Ding. Außer mit dem absichtlich herbeigeführten One-Night-Stand. Vielleicht liege ich ja auch gänzlich falsch und sie hat ihr Herz schon einem anderen geschenkt, der aber momentan nicht da ist. Allerdings spricht dagegen, von ihr einen Kuss bekommen zu haben.

„Davon müsste man leben können“, sagt sie leise und legt für einen Moment ihren Kopf in den Nacken, schließt die Augen und lässt sich von der Abendsonne ihr Gesicht streicheln. „Mit Zenzi Flüsse und Kanäle abfahren, Bilder und Filme drehen und auch noch Bücher darüber schreiben.“

Ich nicke für sie nicht sichtbar und antworte: „Das haben schon so viele andere vor dir vergeblich versucht.“

Sie öffnet die Augen und sieht mich an. „Mit den richtigen Leuten im Hintergrund ist das aber nicht vergeblich. Eine aus dem Kindergarten ist die Schwester einer der Macher von mareTV. Er ist Kameramann und führt wohl auch mal Regie. Eine Bekannte in Österreich ist Reisejournalistin und lebt davon. Außerdem“, und ihr Blick wird ernster, „ist Zenzi ganz offensichtlich kein unbeschriebenes Blatt. Ich würde einfach mal einen Testballon starten und die Leute fragen, die du kennst, ob sie für ein Werk aus deiner Feder Werbung machen würden. Du kennst doch tausend…“

„Moment!“, gehe ich ungebremst dazwischen. „DU entwickelst gerade diese Idee! Nicht ich! Ich bin, was das Schreiben anbelangt, völlig talentfrei. – Nein nicht ganz. Ich schreibe Werbetexte und erfinde Slogans. Aber das ist ein ganz anderes Themengebiet. Fotografie und Film hingegen gehören zu meinem Beruf. Wenn ich jetzt aber mal deinen Faden weiterspinnen darf, so musst du viel früher ansetzen. Um mit diesem oder irgendeinem anderen Schiff fahren zu dürfen, musst du erst einmal die Scheine dafür machen. Du bräuchtest mindestens die für Binnen, See und Sportschifffahrt. Dazu noch wenigstens das Funkerzeugnis. Dann bist du schon mal ungefähr zwei Jahre und etwa 3.000 Euro weiter. Ist das geschafft, muss sondiert werden, was es schon alles an Literatur gibt. Einfach auf blauen Dunst los, wird wohl nichts. Obendrein darfst du die Kosten nicht aus dem Auge verlieren. Die alte Lady braucht Diesel, kein Schweröl. Und von dem Treibstoff säuft sie eine ganze Menge. Pro Stunde gönnt sie sich zwischen 40 und 100 Litern. Je nach dem, wie sie gefordert wird. Du kannst auch nicht kostenlos irgendwo im Hafen liegen. Pro Tag, den sie angenommene acht Stunden fährt, und eine Nacht irgendwo liegt, kannst du mal ganz geschmeidig mit 1.200 Euro ansetzen. Dafür musst du verdammt gute Bücher schreiben und Filme drehen, um das anschließend mit der Vorfinanzierung wieder einzuspielen.“

Sie lacht mich an und meint: „Von Träumereien oder Romantik hast du auch nur mal irgendwann durch Zufall gehört, oder?“ – „Tove, ganz ehrlich, so wird das nie was mit einer Frau.“

Ich zucke ein wenig gleichgültig mit den Schultern und denke: „Abwarten.“ Denn noch kennt sie meine Geheimwaffe nicht. Irgendwann muss sie ja auch mal unter Deck. Und den Augenblick werde ich zu nutzen wissen. Kaum habe ich den Gedanken zu Ende gedacht, sagt sie: „Bin gleich wieder da.“ Eindeutig klappt kurz darauf die Tür zum Klo und ich bin auf dem Sprint.

Ich tue so, als hätte ich die ganze Zeit nur hier herumgesessen, als sie wieder auftaucht.

„Du hast was“, sagt sie, während sie mich prüfend ansieht.

„Schon möglich“, antworte ich und klappe nebenbei das Notebook auf. „Lust auf 20 Sekunden Romantik?“, frage ich leicht zynisch und drehe ihr den Bildschirm hin. Über meine kleine Fernbedienung starte ich den eben schnell gedrehten Film mit meiner Drohne.

Aus der Mitte des kleinen Kräuterwaldes steigt sie langsam hoch, fängt die untergehende Sonne über Finkenwerder ein und schwenkt Richtung Othmarschen gen Norden rüber. Im Weitwinkel erfasst sie die aufziehende Nacht über den schon hell erleuchteten Containerterminals von Waltershof und senkt sich zurück auf ihren Landeplatz.

„Wie geil ist das denn?“, wispert sie und starrt mich an. „Wo hast du das denn so schnell hergezaubert?“

Ich greife neben mir auf den Boden und mein Hexacopter surrt in die Luft. „Damit“, gebe ich ein wenig an und lasse das Gerät langsam zu uns herüberschweben. „Gib mir noch ein paar Minuten“, sage ich und die Drohne verschwindet aus unserem Blickfeld. Auf dem kleinen Monitor der Fernbedienung bekomme ich Livebilder und umfliege dicht über der Wasseroberfläche meine Zenzi. Nachdem die Drohne wieder sicher gelandet ist, lasse ich die Filmübertragung laufen und präsentiere sie umgehend. „Das ist von eben gerade“, sage ich nicht ohne Stolz.

Venja braucht etwas länger für ihre Antwort. „Dafür investiere ich zwei Jahre und 3.000 Euro, Tove.“ Sie steht langsam auf und kommt zu mir an den Platz, beugt sich herunter und küsst mich erneut auf den Mund. „Mich, als Frau, hast du von deinem romantischen Herzen bereits voll überzeugt.“

* * *

„Die Touristenabschleppe schlechthin. Nach Reeperbahn und Sankt Pauli“, deute ich auf die überfüllten Pontons der Landungsbrücken, als wir nach dem Frühstück abgelegt und den Rückweg über die Norderelbe eingeschlagen haben. „Hier starten alle guten und schlechten Hafenrundfahrten.“ Ich deute auf ein grünes Segelschiff und erkläre: „Das ist die Rickmer Rickmers. Ein historischer Frachtensegler mit wechselvoller Geschichte. Der Besuch lohnt sich auch für Nichtsegler. Ein Stück weiter liegt die Cap San Diego. Ein ehemaliger Stückgutfrachter. In der Kapitänsmesse werden ab und zu Trauungen vollzogen. Und der alte Kahn ist auch noch gut in Schuss. Er läuft zu besonderen Anlässen sogar unter eigener Kraft aus. Direkt dahinter geht‘s in den Kehrwieder. Da solltest du dir mal das Miwula antun. Das Miniaturwunderland. Eine Eisenbahnlandschaft von unvorstellbarem Ausmaß. Mit Flughafen, Ostsee, Alpen und Grand Canyon. Und das sind nur ein paar der vielen Highlights. Das teuerste Konzerthaus der Welt kennst du sicherlich aus der Presse. Die Elphi. Die Elbphilharmonie.“

Wir tuckern weiter. Die Industrie wird weniger und immer mehr Grün beherrscht die Landschaft.

„Jetzt bist du mal wieder dran. Ich muss aufs Klo“, übergebe ich das Ruder. „Momentan nur Richtung Südost“, deute ich auf den Kompass. „Rechts halten und dem Flusslauf folgen. Funksprüche ignorieren. Die Pflöcke im Wasser, oder auch Dalben, zeigen dir an, wo du langfahren musst.“

* * *

Zenzi ist vertäut und wieder mit dem Land verbunden. Stella hat ihren ersehnten Landgang hinter sich und liegt zu meinen Füßen. Am westlichen Horizont schieben sich die vom Wetterdienst angekündigten Gewitterfronten herauf. Wir sitzen noch bei einem Glas Wasser auf der Terrasse und lauschen in den schwülen Abend.

„Vielen lieben Dank, Tove“, sagt Venja leise und sieht mich irgendwie traurig an. „Wenn ich könnte, würde ich alles investieren, um nur ein Buch herauszubringen.“

„Ich weiß“, antworte ich nach einem langen Seufzer. „Aber ich sehe die Realität. Ich habe auch mal daran gedacht. Nur habe ich keine Million im Hintergrund, um das auf gut Glück zu versuchen. Ich erhalte mich am Leben. Mein Einkommen reicht aus, um mir das hier finanzieren zu können. Nicht mal ein neuer gebrauchter Wagen ist drin.“ Auch wenn das nicht ganz der Wahrheit entspricht, aber noch sehe ich keine Veranlassung, offen über mein Erbe zu sprechen.

„Den habe ich“, lacht sie leicht schelmisch. „Wenn auch nur einen Kleinstwagen. Aber für Zwei und den Hund reicht er.“

Langsam schiebt sich das bedrohliche Wolkengebirge vor die Sonne. Erstes entferntes Grollen ist schon zu hören. „Wenn du noch trocken nach Hause kommen willst, solltest du langsam aufbrechen“, mahne ich und deute in Richtung des aufziehenden Unwetters. „Das kann hier ganz schön heftig runterkommen.“

„Ja. Wird Zeit. Schade“, nickt sie und trinkt ihr Glas leer. „Du hast mir sehr geholfen, Tove“, sagt sie beim Aufstehen. „Ich durfte tatsächlich alles für diese beiden Tage komplett vergessen und nur das Hier und Jetzt genießen. Noch zwei Wochen, dann schließt der Kindergarten für die Zeit der Sommerferien. Nur eine Gruppe bleibt offen. Darf ich dich in der Zeit besuchen?“

Für ein paar Momente bin ich ziemlich erstaunt. Immerhin hatte sie sich vorgestern einfach selbst eingeladen und stand mit Sack und Pack vor der Tür. „Du kannst gerne einfach so vorbeikommen, wenn du Lust und Zeit hast“, antworte ich und stehe ebenfalls auf.

Das Unwetter zieht schnell hoch und wir bringen die wenigen Sachen in Sicherheit. Venja verstaut Gläser und Sitzkissen im Steuerhaus, ich klappe beide Stühle und den Tisch zusammen, lege sie flach auf den Boden und verzurre alles mit dem dafür angebrachten Tau.

In der Diele stehen wir dicht voreinander und mustern uns unschlüssig. Nach ein paar Sekunden bin ich es nun, der sie vorsichtig in die Arme holt und ihr einen zarten Kuss auf den Mund gibt. „Vielen Dank für dieses spontane und sehr außergewöhnliche Wochenende, Venja. Du und Stella, ihr seid wirklich jederzeit willkommen an Bord.“ Ich ziehe sie noch etwas fester in meine Umarmung und murmle: „Geh jetzt bitte. Sonst lasse ich dich gar nicht mehr fort und begehe vielleicht sogar eine Unachtsamkeit.“

Als ich sie freigeben will, ist sie es, die sich noch dichter an mich drängt und wispert: „Dann begehe sie einfach, Tove.“

Draußen zuckt ein erster Blitz nieder, Sekunden später grollt es. Stella huscht ins Wohnzimmer und verkriecht sich irgendwo.

„Bist du dir sicher?“, frage ich leicht zweifelnd. Ahnt sie, wo das enden wird, wenn wir es zulassen?

„Ja“, flüstert sie und zittert leicht. „Ich will es. Genauso wie du, Tove.“ Ihre Lippen verschließen meinen Mund und ihre Zunge fordert mich auf.

Ein weiterer Blitz erhellt kurzfristig die kleine Diele, dann kracht es auch schon ohrenbetäubend. Im selben Moment beginnt es, wie aus Kübeln zu schütten. Die Tropfen knallen wie kleine Hammerschläge aufs Metall.

Augenblicklich fliegen unsere Hände über den Körper des anderen. Wir lassen nichts unversucht, irgendwie möglichst schnell Haut fühlen zu können. Unbeholfen zwängen wir uns durch die schmale Tür zu meiner Kabine. Es gleicht einem Wettkampf, wer wem die Klamotten schneller ausgezogen hat. Sie trägt binnen kürzester Zeit nur noch BH und Slip, ich meine Boxershort, als wir in enger Umarmung auf dem Bett landen. Venja liegt unter mir. Meine Härte und Geilheit drückt auf die Stelle, welche von einer letzten Stoffschicht verhüllt ist. Vergeblich versuche ich, den Verschluss ihres BHs zu öffnen.

„Warte“, wispert sie und ich stemme mich ein wenig hoch. Flink befreit sie sich von dem Teil und ich spüre kurz darauf ihre nackten Brüste auf meiner Haut. Sofort saugen sich unsere Münder wieder aneinander fest. Umschlungen rollen wir auf die Seite. Unsere Hände tasten sich erforschend voran. Zart schiebe ich meine Hand unter den Saum ihres Slips und fühle ihre strammen Backen. Sie tut mir gleich.

Als ich ihr den letzten Stoff langsam über die Hüften versuche, herunterzuschieben, stockt sie und flüstert zitternd: „Ich möchte auch mit dir schlafen, Tove. Sei aber bitte vorsichtig.“

An mir versteift sich alles und ich halte in der Bewegung inne.

Sie scheint meine Unsicherheit zu spüren, weil sie leise sehnsüchtig sagt: „Du darfst mich verführen. Und auch mit mir schlafen.“

Zeitgleich mit einem grellen Blitz explodiert auch der Donner. Trotz des Sturms und Hagels kann ich das Holz hören, welches in einem letzten Kreischen zerbirst.

„Warte!“, sage ich hektisch und springe vom Bett auf. Ein Blick durch das zum Wasser gewandte Fenster bestätigt sofort meinen Verdacht. Die hohe Eiche hat es getroffen. Sie liegt gespalten und teilweise verkohlt mit der Krone im Hafenbecken. Keine fünf Meter von der Bordwand entfernt.

„Was ist passiert?“, fragt Venja und ist auch aufgestanden. „Ach du Schreck!“, entfährt es ihr, als sie den Baum erblickt. „Das war aber knapp.“

Zart hole ich sie wieder in meine Arme und schaue ihr in die Augen. „Warum?“, frage ich, weil mir nicht einleuchten will, weshalb sie ausgerechnet heute und mit mir ihr erstes Mal erleben möchte.

„Weil ich dich in mir fühle und spüre“, flüstert sie und schmiegt sich an mich. „Ich möchte dich aber real in mir spüren und dich gleichzeitig auf meiner Haut dabei fühlen.“ Sanft lässt sie mich los, macht einen Schritt zurück und zieht ihr Höschen aus. Tastend greift Venja zu meiner Hand, schließt wieder die Lücke und führt mich zwischen ihre Beine. „Fühle mich. Fass mich an“, fordert sie zitternd und dirigiert meinen Mittelfinger zwischen ihre vollen nassen Lippen.

In mir bricht der letzte Widerstand zusammen. Letzte Zweifel schwinden. Erneut sinken wir aufs Bett. Sie streift in gleicher Bewegung meine Shorts von mir, die ich von meinen Füßen strample. Wieder liegt sie unter mir, ich zwischen ihren geöffneten Schenkeln. Meine Spitze ruht noch vor ihren feuchten Lippen. Langsam tauche ich in sie ein. Ich habe mich auf den Ellenbogen abgestützt und wir sehen uns in die Augen.

Wieder und wieder zucken Blitze im Sekundentakt draußen vor dem Fenster, lassen dröhnende Donner das Schiff teilweise erzittern.

Keuchend brennen wir unseren Atem einander ins Gesicht. Venja weitet sich unter mir noch mehr, schlingt mit einem Male ihre Unterschenkel um meinen Hintern und drückt mich ruckartig bis zum Anschlag in sie hinein. Ich spüre, wie ich einen festen Widerstand brachial durchstoße und erst vom Aufprall unserer Becken gestoppt werde.

Ein gequältes, stöhnendes Ächzen vermengt sich mit tiefem Grollen. Venja presst sich unten mit aller Macht gegen mich, hebt ihren Kopf und drückt mir ihre Lippen auf den Mund. Ihre Umklammerung der Beine lockert sich. Mit ersten sanften Stößen entführe ich uns langsam ins Reich der sinnlichen Lust. Ihr Kopf fällt zurück und leises Wimmern entfleucht ihrem halb geöffneten Mund. Immer schneller und wilder kippt sie mir ihr Becken entgegen, nimmt mich tief in sich auf und drückt mich in ihrem Tackt zusätzlich mit ihren Waden fest in sie hinein. Kleine spitze Schreie entlässt sie rhythmisch ins von draußen hereindringende Unwetterbrausen.

Mit einem Male schreit sie laut auf und fesselt mich für Sekunden in einer Bewegungsunfähigkeit, lässt locker und gönnt mir Momente später meinen Zieleinlauf.

Unsere Leiber erschlaffen. Ermattet rollen wir in enger Umklammerung auf die Seite. Ich kann irgendwie die Decke über uns legen und wir dämmern trotz weiterhin unbändig tobenden Wettern weg.

* * *

Die Luft am Morgen ist frisch und klar. Vor über einer Stunde ist Venja nach Hause, damit sie sich noch für die Arbeit umziehen kann. Wie sie den Tag überstehen will, wage ich nicht einmal zu denken.

Geschlafen haben wir. Aber erst so gegen drei Uhr. Bis dahin waren wir nur miteinander beschäftigt. Ich war geladen, wie noch nie. Venja war neugierig, wie ein Kind und wollte so viel wie möglich ausprobieren. Am geilsten fand sie es, wenn ich sie von hinten nahm und an ihrer Rosette spielte, oder sie auf mir ritt und ich ihre Brüste dabei knetete. Überhaupt ist ihr ganzer Körper eine einzige erogene Zone.

In den Pausen zwischen unseren teils gierig stürmischen Spielen haben wir erst Wein und später Saft getrunken, nebenher Chips und Erdnüsse genascht und trotzdem die Finger nicht voneinander lassen können. Ob sie heute Abend wieder herkommt, oder doch Zu Hause bleibt, werde ich einfach mal abwarten. Wir haben unsere Mobilnummern ausgetauscht und uns per Whatsapp verbunden. Ihre Adresse hab ich jetzt auch.

Mein Handy piept. Eine Nachricht von Venja. Mit Bild. Darauf sind nur ihre blonden Schamhaarlocken zu sehen. Betitelt hat sie es mit den Worten: Ein paar Zentimeter tiefer juckt es gewaltig. Rüste dich für den Abend. Muscheln, Fisch und Eier sollen angeblich Wunder bewirken. Ich komme direkt nach der Arbeit vorbei. Soll ich auf dem Weg noch was einkaufen?

Eier, schreibe ich zurück. Mein Vorrat ist aufgebraucht. Dahinter setze ich ein grinsendes Smiley.

Sehr witzig! In der Kombüse steht ein voller 10-er Karton. Ihre Antwort hat sie mit einem kleinen Teufelchen versehen.

Wenn du heute Abend hier bist, ist der Vorrat aufgebraucht. So meine ich das, und setze ein unschuldig dreinschauendes Engelchen dahinter.

Witzbold!, hat sie für mich nur als Antwort übrig.

Um mich selbst wieder auf volle Konzentration zu bringen, ziehe ich mir meine Fahrradklamotten an und bin wenig später mit dem Rennrad unterwegs. Auch wenn ich hier mit jedem Kieselstein und Grashalm seit Jahren per du bin, genieße ich es immer wieder, meine Strecken zu fahren. Auf diese Weise finde ich nicht nur meinen inneren Rhythmus wieder, sondern schöpfe daraus auch neue Ideen. Und die brauche ich für dieses Architekturbüro ganz dringend. Ende der Woche wollen sie wenigstens drei Vorschläge sehen.

* * *

„Die Eierlieferung“, lacht Venja mich frech an und reicht mir zwei aufeinander stehende 10-er Kartons, als sie abends vor der Tür steht und ich geöffnet habe.

„Dann haben wir jetzt 30“, lache ich ebenso frech zurück und nehme die am Boden liegende Tasche an mich. Stella geht selenruhig an mir vorbei und lässt sich kurz über den Kopf kraulen. „Komm rein. Wie war dein Tag?“

Sie bringt ihre Beute in die Kombüse und erst jetzt sehe ich den Rucksack, den sie von den Schultern schwingt und auspackt. „Zum Glück ist die Rasselbande sehr aufgeweckt“, antwortet sie ziemlich müde. „Die haben mich vormittags auf Trab gehalten. Nachmittags war ich joggen. Stella musste mich ein wenig moralisch aufbauen und Tempo machen. Jetzt hab ich nur noch Hunger und bin todmüde.“

„Setz‘ dich oben auf die Terrasse. Ich mach schnell Abendbrot, danach kannst du sofort ins Bett“, biete ich ihr an.

„Hört sich nach einem wunderbaren Plan an“, antwortet sie und nimmt mich liebevoll in die Arme. „Tove, mich hat‘s voll erwischt. Ich hab mich in dich verliebt“, wispert sie und verlangt nach einem zärtlichen Kuss.

„Das trifft sich gut“, flüstere ich nach unserem langen sinnlichen Kuss. „Mir geht’s nämlich genauso.“ – „Den ganzen Tag habe ich immer wieder nur an dich gedacht. Ich musste mich regelrecht zwingen, konzentriert meine Arbeit zu schaffen.“ Wieder verschließe ich ihre weichen Lippen und wir verfallen in einen weiteren liebenden Kuss. „Ich fühle mich nur halb, wenn du nicht da bist“, versuche ich, meine Gefühle in Worte zu fassen, als wir uns wieder in die Augen sehen.

Sie schmunzelt etwas verlegen und meint: „Du hast ja wirklich ein sehr romantisches Herz, Tove.“

* * *

Kaum hatte Venja ein halbes Glas Wein getrunken und eine Scheibe Wurstbrot gegessen, kam sie gegen die Müdigkeit nicht mehr an und wollte ins Bett. „Ist vorne noch bezogen?“, fragte sie irgendwie seltsam.

„Du darfst dir jedes Bett an Bord aussuchen“, antwortete ich. Keinesfalls wollte ich sie bedrängen. Doch sie nachts neben mir zu wissen, den Gedanken fand ich persönlich viel angenehmer.

„Dann möchte ich in… dein… unser Bett?“, fragte sie mehr, als dass sie den Wunsch äußerte.

„Geh schon vor. Ich bring deine Tasche“, bot ich ihr an und stand auf, um den Tisch gleich mit abzuräumen und nicht alles den Fliegen oder gar Stella zu überlassen.

„Warte“, hielt sie mich noch zurück und erfasste meine Hände. „Wenn du nachher irgendwann ins Bett kommst, will ich dich noch einmal. – Ich schlafe sowieso viel lieber nackt“, hauchte sie und führte meine linke Hand in ihren Schritt.

* * *

Ich bin mit Stella noch einmal draußen, bevor auch ich gleich in die Koje gehe. Erstaunlich finde ich, wie folgsam sie sogar bei mir ist. Selbst ohne Strick, den ich trotzdem zur Vorsicht mitgenommen habe.

Über Tag sind noch zwei Gastlieger gekommen. Motorboote. Eines aus Dänemark, auf dem anderen sind welche aus Stuttgart. Zumindest sagt das der Heimathafen unter dem Schiffsnamen aus. Wie man allerdings auf die Idee gekommen ist, ein Boot, kaum länger als acht Meter, Palazzo zu taufen, muss mir jemand mal bei Gelegenheit erklären. Oder es steckt einfach nur eine gute Portion Selbstironie dahinter.

* * *

„Warum hast du mich nicht mehr geweckt?“, will sie am Morgen wissen, nachdem ich sie rechtzeitig wachgeschmust habe.

Ich gebe ihr einen Küsschen auf die Nase und sage: „Du hast so fest geschlafen. Und wir beide müssen für unsere Jobs fit sein. Gerade du. Mit Kindern“, ermahne ich sanft. „Frühstück auf der Terrasse? Es ist herrliches Wetter.“

Sie schmunzelt und hält mich davon ab, sofort aufzustehen. „Was sollen denn die anderen denken, wenn du mich zum Frühstück oben auf der Dachterrasse vernaschst“, murmelt sie und robbt auf mich.

Rechtzeitig sitzen wir nach einem geilen Quickie trotzdem beim Frühstück. Venja strahlt mich mit glücklichen Augen an. „Früher dachte ich immer, nur Männer wollen ständig Sex“, murmelt sie verhalten leise. „Ich wusste gar nicht, wie schön das alles sein kann.“

„Männer wollen nicht ständig Sex“, versuche ich vergeblich, beleidigt zu klingen, denn sie lacht mich sofort aus. „Uns interessieren auch andere Dinge!“, ergänze ich bestimmend.

„Klar! Autos, Schiffe, oder andere Sachen, die möglichst viel Krach und Dreck verursachen“, setzt sie belustigt fort.

Wortlos stehe ich auf und komme Momente später wieder zu ihr. „Oder so was“, lasse ich mein Strickzeug in ihren Schoß fallen. „Alles das, was du an Decken, Kissenbezügen oder Vorhängen hier auf dem Schiff findest, habe ich entweder selbst genäht, gestrickt oder gehäkelt“, nehme ich ihr den letzten Wind aus ihren eben noch mit Frauen-über-Männerfantasien aufgeblähten Segeln. Augenblicklich verstummt sie und das breite Grinsen in ihrem Gesicht wirkt für einen Moment wie eingefroren. „Nun bin ich ja mal gespannt, wie du aus der Nummer wieder rauskommst!“, bin ich es jetzt, der sie berechtigt auslacht.

Von einer Sekunde auf die andere bekommt sie einen neutralen Gesichtsausdruck und meint lapidar: „Ich muss los. Stella verträgt sich ja gut mit dir. Sie kann doch hierbleiben? Oder?“

Provokant setze ich mich und klopfe nur gegen meinen Oberschenkel. Die Hündin kommt zu mir und lässt sich nicht nur über den Kopf streichen, sondern auch unterm Kinn kraueln. „Frau Zu Hause ist totes Kapital“, flapse ich und klopfe Stella leicht auf die Seite. „Ja, sie kann bleiben. Wann bist du wieder da? Soll ich was kochen?“

„Machogehabe!“, blökt sie mich an und muss schon wieder herzhaft lachen. „Meine Kinder aus der Gruppe sind spätestens um 14 Uhr weg. Danach will ich noch nach Hause, ein paar Sachen einpacken. Sagen wir so ungefähr zwei Stunden später?“

„Gut. Heute ist Dienstag. Mein persönlicher Fleischtag. Schließt du dich an?“, möchte ich in Erfahrung bringen, weil ich dann noch einkaufen muss.

Sie schnauft und setzt sich noch einmal kurz zu mir. „Tove, das klingt jetzt vielleicht abgedroschen, aber ich komme mir gerade so vor, als würden wir seit Jahren zusammenleben. Dabei bin ich erst am letzten Wochenende hier vor Anker gegangen. Warum ist das für dich alles so selbstverständlich?“

Zart ergreife ich ihre Hand und knete ein wenig nervös ihre Finger, weil ich nicht weiß, ob ich das sagen darf, was ich gerade denke. Mit einem Großteil meines Mutes spreche ich es trotzdem aus. „Venja, ich weiß es auch nicht. Seit Freitag überrollt mich eine Ereignisdichte, die ich nie für möglich gehalten habe. Würde es nur nach mir gehen, möchte ich dich eigentlich ständig um mich haben. Ich weiß auch nicht, wie ich es anders beschreiben soll, aber ich bin angekommen. Für mich ist es das Normalste der Welt, wenn du hier bist.“ – „Ich habe mich in dich verliebt, Venja. Das ist mir nie zuvor passiert.“ – „Es geht mir aber nicht darum, Sex mit dir zu haben, oder dein erster Mann gewesen zu sein. Wenn du da bist, meine ich, das Schiff leben zu hören. Du darfst mich auch für komplett wahnsinnig oder anstaltsreif halten, aber einige Male meinte ich schon, unsere Kinder toben auf dem Schiff umher.“ – „Ich höre sie, wenn ich allein bin.“ – „Erklärt das deine Frage?“

Sanft dreht Venja ihre Hand in der meinen um und umschließt meine Finger. „Ja“, flüstert sie und beugt sich zu mir. „Dann hast du also auch diese lachenden Stimmen gehört? Ein von Herzen kommendes Lachen, wenn Kinder unbeschwert und ausgelassen miteinander spielen?“

Ich kann nur stumm nicken.

„Ich möchte noch etwas wissen, Tove“, ist sie nachdenklich geworden und wirkt fast schon verklärt, als sie mich direkt ansieht und fragt: „Als wir auf der Norderelbe waren, hast du aus dem Steuerstand auch diesen seltsamen rosa Lichtschein auf dem Vordeck wahrgenommen?“

In mir gibt es fast eine Explosion. Kann Venja tatsächlich Auren von anderen Menschen sehen? Mich haben meine Eltern eine Zeit für einen Spinner gehalten. Bis ich unseren ehemaligen Nachbarn Henk Norden eines Tages in einem schwarzen Oval gesehen hatte und es meinen Eltern sagte. Sie dachten, ich denke mir das aus, doch zwei Tage später war er tot. Tage später sah ich bei unserer Nachbarstochter einen silbernen Kranz. Aber nicht durchgängig, sondern mit Lücken um Hüften und Brüste. Sie schlossen sich erst im Laufe der kommenden Wochen. Ich unternahm einen weiteren Versuch und sagte meinen Eltern, dass Steffi schwanger sei. Papa lachte mich aus und Mama hätte mir gern eine runtergehauen. Vier Wochen später war es im Dorf kein Geheimnis mehr. Steffi war mit nur 16 Jahren vom Nachbarn geschwängert worden.

Seit diesem Zeitpunkt wissen meine Eltern um meine Gabe und sagen nichts mehr, wenn ich ihnen meine Beobachtungen mitteile. Doch ich kann immer nur etwas erkennen, wenn die Menschen nicht zu meiner Familie gehören oder verstorben sind. „Ja. Ich habe das rosa Oval auf dem Vordeck gesehen“, stammle ich und starre vor mich hin.

„Als ich beim ersten Mal bei dir angehalten habe, war es auch da“, flüstert Venja. „Es war über dem Steuerhaus. Fast dunkelblau und zur Mitte hin gelblich, beinahe weiß. Als ich den Steg betrat, löste es sich auf.“

Ungeniert frage ich: „Was siehst du bei den Kindern?“

Ihre Antwort kommt beängstigend schnell. „Alles. Von Weiß bis Schwarz. Unbeschwert bis todtraurig. Es ist jeden Tag auf ein Neues ein Kampf, die schwarzen Auren aufzuhellen.“ – „Siehst du mich eigentlich?“

Wieso sollte ich lügen? Wir erkennen uns wahrscheinlich in totaler Finsternis. „Ja.“

„Ich dich auch, Tove“, flüstert sie und lehnt ihren Kopf gegen meine Schulter. „Nicht immer. Aber letzte Nacht, als ich kurz aufgewacht bin, umhüllte dich ein samtschimmernder Schein aus warmem Gelb, leuchtendem Rot und kraftvollem Blau.“ – „Kennst du die Farben?“

Stumm nicke ich und sage leise: „Gelb ist die Treue, Rot die Liebe, Blau verkörpert sowohl Kraft, ein langes Leben, Zuverlässigkeit und Ehrlichkeit.“ – „Deine Aura ist überwiegend rot und gelb. Blau scheint sie nur dann besonders intensiv, wenn wir… wir… miteinander glücklich gewesen sind.“

„Wunderbaren Sex hatten“, formuliert Venja meine Worte aus und lacht mich liebevoll an. „Sag das, was du denkst, Tove. Suche für mich keine Umschreibungen. Wir sehen uns.“ – „Ich muss los. Die Kinder warten sonst auf mich. Wenn du zufällig ein Stück Heidschnucke bekommst, wird für mich der Dienstag auch zum Fleischtag.“

„Warte“, halte ich sie zurück, umgehend aufzustehen. „Hättest du was dagegen, wenn wir am Wochenende zu meinen Eltern fahren? Entweder mit dem Wagen oder auch der Zenzi.“

Kurz sieht sie mich prüfend an und fragt ein wenig unsicher: „Möchtest du mich deinen Eltern vorstellen?“

„Ich soll keine Umschreibungen suchen, hast du mich eben gebeten, Venja“, sage ich leise und drücke ihre Hand besonders fest. „Ja, ich will dich meinen Eltern vorstellen. Weil ich dich liebe. Uns verbindet deutlich mehr, als wir beide wahrscheinlich heute ahnen. Venja, ich sehne den Tag herbei, wenn du… wir zusammenziehen. Ich kann…“

„Wenn ich zu dir aufs Schiff ziehe?“, fragt sie mit einem kleinen Schmunzeln um die Mundwinkel. „Du denkst heute schon daran, mit mir zusammen wohnen und leben zu wollen? Aber wir kennen doch gar nicht die Marotten des anderen.“

„Dafür hat Gott uns die Liebe geschenkt, Venja. Eben genau aus dem Grund, die Eigenarten des anderen liebevoll zu ertragen. Sich gegenseitig eine Stütze sein, gemeinsam das Leben zu genießen. Spaß und Freude miteinander zu erleben. In Stunden des größten Leides und Kummers füreinander da zu sein. Trost zu schenken. Selbst bereit sein, sich dem anderen gänzlich zu öffnen und ihm blind zu vertrauen. All das Venja, all das spüre ich in mir, es mit dir teilen und erleben zu wollen. Aber nicht nur einen Sommer, oder ein Jahr.“ Ich komme ins Stocken. Denn wenn ich meine Gedanken jetzt ausspreche, falle ich nicht nur mit einer Tür ins Haus.

„Das hört sich gerade sehr…“

„Ich will es ein Leben lang mit dir erleben, Venja“, platze ich in ihren Satz, bevor ich gleich platze. „Ich liebe dich und ich will dich nicht mehr hergeben. Ich kann dir nicht begründen, warum. Dieses Gefühl ist einfach in mir und es nimmt immer mehr Raum ein. Wenn ich dich in meiner Nähe habe, fühle ich mich wohl. Würde es nicht so absurd klingen, täte ich dich heute, jetzt in diesem Moment fragen wollen, ob du dir vorstellen könntest einmal meine Frau zu sein“, bringe ich endlich den Satz umständlich heraus, der mir schon seit Sonntag auf der Seele liegt.

Ihre Augen erforschen mich. Venja schaut über meinen Kopf und an meinen Seiten herunter. Während sie meine Hand noch etwas fester drückt, steht sie auf und setzt sich zu mir auf den Schoß. „Ja, Tove“, haucht sie und bekommt glasige Augen. „Ich würde es mir nicht irgendwann einmal vorstellen können wollen, sondern ich will.“ Kleine flüssige Diamanten rollen über ihre Wangen, als sie mich intensiv küsst und mir ihre Arme um den Nacken schlingt. „Ja, ich will sehr gerne deine Frau werden, Tove.“

* * *

Ich kann es kaum noch erwarten, bis Venja endlich von der Arbeit nach Hause kommt. Die Woche bis zum heutigen Freitag ist sprichwörtlich dahingeflogen. Stella hat sich als wachsamer Bordhund dazu entschlossen, auf einer Decke in der Diele zu schlafen. Sie bellt nicht laut, wenn ihr etwas Unbekanntes zu Ohren kommt, sondern wufft eher dezent ein, zwei Male. Reagieren wir nicht in angemessener Zeit, bellt sie ein Mal kräftig laut. Kommen wir dann immer noch nicht, wird sie ungehalten.

Den Postboten akzeptiert sie mittlerweile. Da ich von unterschiedlichen Paketboten ab und an etwas geliefert bekomme, wird sie von mir mit klaren Ansagen in ihre Schranken verwiesen, sobald ich die Tür geöffnet habe. Irgendwo habe ich mal gelesen, es würde auf Fremde Eindruck machen, wenn man den Hund, in diesem Fall eine Schisserin, die nur so tut, als könne sie beißen, im Griff hat. Allein aber schon ihre Größe verschafft meist den nötigen Respekt, sich nicht länger als nötig in ihrer Reichweite aufzuhalten. Passt ihr was nicht, lässt sie auch schon mal ihr Gebiss gegenüber dem imaginären Gegner aufblecken. Zugegeben, von den vier Eckzähnen wollte ich auch nicht bearbeitet werden. Da ist sie ganz Husky. Das Hausboot und den zu uns führenden Steg hat sie zumindest als ihr Revier festgelegt. Gastlieger, die auf der anderen Seite der Anlegestelle festmachen, werden von ihr kritisch beäugt und auf Abstand gehalten. Ist Venja zu Hause, kann auch schon mal ein verhaltenes Knurren zu hören sein, wenn sich jemand nicht ganz an Stellas Regeln hält.

Im Hafen selbst ist sie mittlerweile allen Skippern und deren Familien bekannt und zutraulich. Auch Kinder können unbeobachtet mit ihr herumtoben. Da spielt sie eindeutig die gutmütige Seite des Golden Retrievers in ihr aus.

Zenzi habe ich schon von allen Landverbindungen gelöst. Nachher brauchen wir nur noch ablegen. Spätestens um 15 Uhr müssen wir durch die Schleuse sein. Wir werden mit ablaufendem Wasser fahren und einigermaßen pünktlich zum Abendbrot bei meinen Eltern sein.

„Hallo?!“, ruft jemand und sofort danach wird an der Tür gehämmert. Stella beginnt ein Mordsspektakel und das Hämmern hört augenblicklich auf.

Ich schaue durchs Fenster vom Esszimmer und sehe einen kleineren älteren Mann draußen stehen. „Da ist auch eine Klingel“, sage ich, nachdem ich die Tür geöffnet habe. „Ja bitte?“ Stella steht neben mir und knurrt leise. Um mein Gegenüber einzuschüchtern, greife ich einfach mal so nebenbei zum Halsband.

„Sind Sie Tove Thorvaldsen?“, werde ich mit deutlich österreichischem Akzent harsch gefragt.

„Wer will das wissen?“, frage ich patzig zurück und beobachte den kleinen Mann genauer.

„Ich. Venjas Großvater. Es heißt, Sie verkehren mit meiner Enkelin. Mir wurde nämlich berichtet, dass meine Enkeltochter einem Landstreicher und Draufgänger in die Hände gefallen sei.“

„Dann hören Sie mir jetzt mal sehr gut zu“, baue ich meine Größe vor dem verhutzelten Männchen auf. „Keine dieser Beschreibungen passt zu mir. Außerdem fordere ich Sie auf, umgehend zu verschwinden. Ich kann nämlich sehr ungemütlich werden, wenn man mich beleidigt. Die Richtung“, deute ich hinter ihn auf den Parkplatz, auf dem ich seinen Wagen ausgemacht habe. „Alternativ hat mein Hund ein Mittagessen. Sie hat noch nichts gehabt.“

„Ich kann auch dort auf meine Enkelin warten und sie dann direkt abfangen und wieder nach Hause mitnehmen“, raunzt er mürrisch und will gehen.

„Gar nichts werden Sie mit Venja machen. Nicht ein Haar werden Sie ihr krümmen!“, bedrohe ich ihn und sehe zufällig meinen Schleusenwärter in einiger Entfernung zum Tidenhaus gehen. „Janne! Arbeit!“, winke ich ihn heran und er schlägt umgehend in meine Richtung ein.

„Was denn?“, will er direkt wissen, als er am Stegkopf angekommen ist.

„Dieses krötige Männlein ist Venjas Opa. Der, von dem ich dir mal erzählt habe; der noch im Mittelalter lebt. Er will seine Enkelin abfangen und verschleppen“, erkläre ich selenruhig und warte einfach mal ab, wie sich das entwickelt.

„Wie jetzt?“, lacht Janne höhnisch. „Diese Viertelportion? Das ist doch keine Arbeit, den zu entsorgen!“ Kurzum hat er den alten Mann am Kragen gepackt und zerrt ihn hinter sich her. „So, nun hör mir mal zu, du Hinterwäldler“, grollt er ihn an. „Wenn du hier auch nur im Ansatz die Welle machst, spuckt dich die Elbe in ungefähr 20 Tagen als Wasserleiche in die Nordsee aus. Wenn dich nicht vorher eine Schiffsschraube zu Fischfutter zerkleinert hat. Du verschwindest umgehend. Ich bin nämlich der Hafenmeister und habe hier Hausrecht. Erfahre ich, dass du Venja in irgendeiner Weise bedrohst, bedrängst oder ihr sonst wie Schaden zufügst, sieht es für dich ganz schlecht aus.“ Flink hat er dem alten Mann in die Taschen gegriffen und ein Handy zutage gefördert. „Das hier werden wir schon mal an Ort und Stelle entsorgen“, sagt er, lässt das Teil zu Boden krachen und stampft mit seiner Hacke drauf. Glas und Plastik höre ich bis zu mir splittern. „Damit du nicht meinst, ich blase Worthülsen in die Luft, nimm das als Anfang, was dir blüht, wenn du nicht spurst. Klar?“

Der Alte hat sich berappelt und faucht mit zittrigem Stimmchen: „Dann komm ich gleich mit der Polizei wieder!“

„Mach das“, sage ich, weil ich mich den beiden genähert habe. Stella spürt anscheinend irgendeine Gefahr und knurrt lauter. „Down!“, befehle ich nur und sie liegt, den Kopf aber weiterhin erhoben und alles sehr genau beobachtend. „Die hört auch auf andere Kommandos genauso zackig“, behaupte ich einfach mal und hoffe, das nicht beweisen zu müssen. „Vom Parkplatz runter links abbiegen und dann der Beschilderung Richtung Winsen an der Luhe folgen. Luhdorfer Straße. Schräg gegenüber vom REWE findest du die Polizeistation.“ Ich habe mein Smartphone aus der Tasche gezogen und rufe direkt auf der Wache an. „Tove hier. Moin Klaus. Du, sag mal, was steht eigentlich auf Entführung?“ – „Nein, ich hab nichts getrunken. Der Opa von Venja ist hier. Der will sie einkassieren und in Österreich zwangsverheiraten.“ – „Dann komm her und mach dir selbst ein Bild. Janne hat ihn noch gut im Griff!“, lache ich spöttisch. – „Okay. Gut. Du bist gleich da? Wer kommt mit?“ – „Alles klar. Ich sorge dann mal dafür.“ Ehe sich der Alte versieht, hab ich ihm mit einem Stück Seil die Hände zusammengebunden. „Man sucht dich bereits polizeilich. Die Ösis haben sogar um Amtshilfe gebeten. Dein Sohn hat dich angezeigt. Du sollst dich an seiner ältesten Tochter vergangen haben, du Drecksack“, zische ich scharf und binde das andere Ende des Seils am Haltepfosten der Tür zum Steg fest. „Auf Entführung steht übrigens Gefängnis.“

Wenige Minuten später treffen sowohl Polizei als auch Venja kurz nacheinander ein. Ich laufe direkt zu meiner Verlobten und halte sie davon ab, in Richtung Schiff zu gehen. „Dein Opa ist hier“, sage ich leise und lege ihr schützend meinen Arm um die Schultern. „Deswegen sind auch die Polizisten da. Warte bitte hier am Wagen“, sage ich mit wenig Spielraum für Gegenworte.

„Nein!“, zischt sie aufgebracht und löst sich ruckartig aus meiner Umarmung. „Dem will ich jetzt in die Augen sehen, weil ich dann nämlich weiß, wer für meine Entlassung verantwortlich ist!“, poltert sie und Tränen schießen ihr aus den Augen.

Ich kann sie nicht zurückhalten, dermaßen schnell ist sie losgerannt. Nur die kurze Szene bekomme ich mit. Sie schreit ihm irgendwas Mundartliches entgegen, dessen Inhalt sich mir verschließt. Er nickt hoch erhobenen Hauptes und Venja spuckt ihm daraufhin ins Gesicht. Eine schallende Ohrfeige trifft ihn keine Sekunde später. Ohne noch jemanden eines Blickes zu würdigen, geht sie aufs Schiff und knallt die Tür hinter sich zu.

Stella liegt immer noch am Boden und schaut recht verwirrt umher.

„Ganz großes Kino!“, sage ich herablassend und verspüre den Wunsch, diesem Greis meine geballte Faust in seine dümmlich grinsende Visage zu drücken. Aber in Anbetracht der Tatsache, dabei von der Polizei direkt erwischt zu werden, lasse ich es bleiben.

„Soll ich einfach mal wegsehen?“, richtet sich Klaus anscheinend sehr wissend auf Plattdeutsch an mich. „Ich möchte das jetzt nämlich auch, was du gerade denkst“, und sein Blick geht eindeutig zu meiner Faust, die ich immer noch gemacht habe.

„Nee. An dem mach ich mir die Finger nicht schmutzig“, antworte ich ebenfalls auf Platt. „Nehmt den mit. Aber lasst mir seine Autoschlüssel da. Für den Fall, dass wir den Wagen umsetzen müssen.“

„Wenn das alles stimmt, was der angestellt haben soll, braucht er für die nächsten 10 Jahre keinen Wagen mehr“, nickt Klaus nachdenklich und macht sich daran, den Alten abzutasten. Was kurze Zeit später alles vor uns auf dem Boden liegt, ist kaum zu glauben.

Klappmesser mit einrastbarer Klinge, ein Revolver mit sieben Schuss scharfer Munition und diverse Kordeln, ausreichend, eine Person zu fixieren.

„Illegaler Waffenbesitz kommt noch obendrauf“, meint Klaus und deutet seinem jungen Kollegen Peter an, alles in einzelne Plastikbeutel zu stecken. „In Deutschland gäbe es dafür noch einmal zwischen drei bis fünf Jahren.“

„Aber nur, wenn damit noch nicht geschossen wurde“, fügt Peter hinzu. „Sollte damit schon geschossen worden sein, wird das Ganze noch wesentlich interessanter.

* * *

Trotz Venjas Verfassung sind wir mit dem Schiff losgefahren. Ich hab sie vorerst auch nicht befragt oder bedrängt. Das, was sie heute erlebt hat, muss erst einmal nur sie verstehen und verarbeiten. Ich kann mich nur im Hintergrund halten und für sie da sein, wenn sie mich braucht. Meine Eltern wissen noch von nichts. Außer, dass ich verliebt bin und mein Goldschatz Venja heißt.

Was mit ihrem Opa passiert, wage ich mir kaum, vorzustellen. Auch wenn man bei ihm doch noch einen Waffenschein gefunden hatte, weiß ich nicht, wie das für ihn ausgeht. Seine Gründe, Venja ausfindig gemacht zu haben, die ganzen Utensilien, die man bei ihm gefunden hatte, deuten darauf hin, nichts dem Zufall überlassen zu wollen. Wieso er aber bei mir und nicht bei ihr vor der Tür aufgeschlagen ist, bleibt mir immer noch ein Rätsel. Das mit der angeblichen Adresse in Kiel scheint ganz offensichtlich nicht funktioniert zu haben.

Gerade fahre ich unter der Köhlbrandbrücke durch, als ich Venja die Stufen zum Steuerhaus erklimmen höre. Kurz darauf steht sie neben mir und lehnt sich bei mir an. „Was für ein beschissener Tag“, murmelt sie ins monotone Motorstampfen. „Erst fällt eines der Kinder vom Gerüst und muss mit dem Krankenwagen in die Klinik, dann bricht sich meine Kollegin den Fuß und wird auch abgeholt. Und als meine Gruppe weg ist, bekomme ich die Kündigung, weil ich angeblich in der Steiermark einen neuen Job habe. Ist das noch toppen?“

„Schwerlich“, kann ich nur sagen und lege ihr einen Arm um die Hüften. „Soll ich laut denken?“, frage ich vorsichtig und drossle etwas die Geschwindigkeit, weil ich in ein paar Minuten in die Elbe einbiegen muss.

„Du brauchst nichts sagen, Tove“, schnauft sie in einer Mischung aus Wut, Enttäuschung und Wohlbefinden. „Ich sehe es doch. Du zweifelst, ob du was sagen sollst. Du leuchtest intensiv Rot und zart Grün. Für mich Antwort genug.“ Liebevoll gibt sie mir einen Kuss auf die Schläfe und fragt: „Kannst du mir die Grundzüge beibringen, wenn ich irgendwann mal dieses Schiff sicher fahren will?“

Für einen Moment bin ich leicht verwirrt. Ihr Tag war bis vor zwei Stunden ein totales Desaster und aus dem Nichts haut sie so eine Frage raus? „Wie kommst du ausgerechnet jetzt darauf?“, will ich unbedingt wissen.

Sie wechselt von meiner Seite mit dem Rücken in Fahrtrichtung und lehnt sich gegen den Ruderblock. „Das will ich dir erklären, Tove“, antwortet sie mit fester Entschiedenheit in der Stimme. „Wir beide haben uns gefunden. Wir wollen ein Ehepaar werden. Wir beide haben Kinderlachen auf dem Schiff gehört. Wenn wir also eines Tages eine Familie sind, wird einer von uns beiden aufhören müssen, zu arbeiten. Und aus meiner Sicht ist dein Beruf deutlich einträglicher, als meine Arbeit im Kindergarten.

Aber wenn mein Traum einmal Wirklichkeit werden soll, ein Buch über Zenzi und eine ihrer Touren zu schreiben, muss ich sie auch fahren können. Denn im Zweifel bist du irgendwo an Land bei einem Kunden. Halte mir bitte auch nicht wieder einen Vortrag, was ich investieren muss und was ein Tag auf dem Wasser kostet. Die Zahlen habe ich mir gemerkt. Und selbst wenn sich mein Traum niemals erfüllt, will ich Zenzi trotzdem sicher steuern können. Ich will nicht nur deine Frau werden, sondern auch eine vollwertige Kapitänin, die dich im Notfall ersetzen kann. Tove, ich liebe dich. Ich möchte Luftsprünge machen, trotz des beschissenen Tages. Denn ich sehe darin eine große Chance für mich. Für uns. Gib mir noch ein paar Tage, bis ich mich an alles gewöhnt habe. Ich werde auch noch mal mit der Leitung des Kindergartens sprechen und denen die Situation erklären. Immerhin ist das eine kirchliche Einrichtung. Und…“

„Und sie haben die Tragweite, zu was dein Opa fähig ist, nicht im Geringesten erkannt“, grätsche ich in ihre Ausführungen, die mich einmal mehr erstaunen lassen. „Venja, sieh einfach den Tatsachen ins Auge. Kirche hat nicht das mit Gott zu tun, zu was die einfachen Menschen sie machen. Sie ist die Institution, uns den Glauben näher zu bringen. Was wir aus dem Glauben an Gott machen, das ist unsere Sache. Da kann Kirche predigen und machen, was sie will. Wenn ich mich sperre, werden sie mich nicht erreichen. Öffne ich mich, kann mich Kirche leiten, meinen Weg zu finden. Aber mich überzeugen, kann nur Gott. Mich hat er überzeugt. Übrigens weit vor der Zeit, bevor ich in die Schule gekommen bin. Für mich gibt es keinen Zweifel an seiner Existenz. Aber Kirche brauche ich dafür nicht zwingend. Ich gehe in den Gottesdienst, wenn ich neue Impulse brauche. Das Abendmahl feiern, beten und in der Bibel lesen, kann ich ebenso hier an Bord. Ein Stück Brot, ein Schluck Wein und die Worte Christi in der Bibel lesen, um mein Abendmahl mit Jesus zu begehen, dafür muss ich nicht in der Kirche sitzen. Nach meinem Verständnis ist es Gott nämlich egal, wo und wann ich an ihn denke und zu ihm bete. Ich besuche sogar die katholische Messe, wenn ich Lust dazu habe.“ – „Doch nun lass mich dir auslegen, was ich aus dem heutigen Tag für mich als Erkenntnis gewonnen habe. Geh jetzt mal bitte aus dem Sichtfeld. Wir biegen auf die Elbe ein. Stell dich hinter mich.“

Auf dem Strom ist für einen Freitagnachmittag noch ordentlich was los. Uns kommt ein Containerfrachter von CMA entgegen. Als wir mit den Brücken fast auf einer Höhe sind, dröhnt für einen Moment das Horn des Riesen. Ich tute ebenfalls.

„Sie war sein letztes Schiff, auf dem er offiziell als Kapitän gefahren ist“, erkläre ich andächtig und schreite innerlich die über 300 Meter Länge ehrfürchtig ab. „Sie haben ihn nicht vergessen.“

„Siehst du ihn? Auf dem Vordeck?“, flüstert Venja.

„Tiefblau leuchtend“, antworte ich leise, um ihn nicht zu verscheuchen.

„Weiß er, dass wir ihn sehen?“, fragt sie leise.

„Mit Sicherheit“, antworte ich und steuere etwas gegen den Schwell an. „Fritz ist immer noch an Bord. Er schaut uns zu. Und im rechten Moment auch weg. Komm wieder zu mir, Venja“, strecke ich meinen Arm nach hinten. „Komm her und sei bei mir. Was auch immer werden wird, wir beide werden es bestehen“, sage ich leise und ziehe meine Verlobte dicht zu mir heran. „Wir sollten auf eine geheimnisvolle Weise zueinander finden, mein Schatz“, sinniere ich und gleiche die letzten Wellen aus. „Was auch immer dich nach Hamburg gelockt hat und irgendwann auf dieses Boot, eines Tages werden wir es wissen.“ – „Doch nun lass mich deinen Tag aus meiner Sicht erklären.

Vorab musst du noch eine Sache wissen. Ich glaube nicht an Zufälle. Mein bisheriges Leben ist mal mehr und mal weniger geführt worden. So interpretiere ich das auch für mich bei dir. Noch hast du mich nicht in die letzten Winkel deines Lebens in Österreich blicken lassen. Vielleicht, weil du selbst erst einmal Licht in die dunkelsten Ecken bringen willst, um Staub und Dreck zu entfernen. Doch du hast eines Tages beschlossen, dein altes Leben hinter dir zu lassen und es selbstbestimmt in die Hand zu nehmen. Du warst es satt, ständig nur Befehle erteilt zu bekommen und widerstandslos gehorchen zu sollen.

Auf eine geheimnisvolle Weise sind wir uns dann begegnet und ein Paar geworden. Du hast angefangen, dein Leben neu und nach deinen Vorstellungen zu ordnen. Nun hat dir abermals dein Großvater einen schweren Knüppel zwischen die Beine geworfen. Vielleicht interpretiere ich das anders, als du, aber ich glaube, darin eine Chance für dich entdeckt zu haben. Wie willst du denn deinen Traum verwirklichen, wenn du den Tag über arbeitest? Du würdest gar keine Zeit finden, die ganzen Scheine zu machen, um mit Zenzi fahren zu dürfen. Ergreife doch einfach die Gelegenheit beim Schopf und beschreite deinem neuen Lebensweg. Was meinst du?“, will ich wissen und schaue ihr ins Gesicht.

Sie nickt und wirkt wenig begeistert. „Es wird nur ein Traum bleiben können, Tove“, antwortet sie betrübt. „Wie soll ich das finanzieren? Ohne Job. Ohne eigenes Einkommen. Ich weiß ja noch nicht mal, wie es aktuell weitergehen soll. Mit der Wohnung zum Beispiel. Die werde ich so schnell wie möglich aufgeben und mir eine kleine Bleibe suchen müssen. Denn…“

„Wenn du möchtest, hast du ein zu Hause“, unterbreche ich sie leise. „Es ist ganz allein deine Entscheidung, Venja.“

„Noch so ein schöner Traum“, wispert sie und gibt mir einen Kuss auf die Stirn. „Mit dir zusammen auf diesem Schiff leben, würde ich lieber heute, als morgen. Aber was mache ich mit den ganzen Möbeln, die ich mir angeschafft habe? Waschmaschine, Küchengeräte, Kochutensilien. Tausend Sachen, die ich nicht überblicken kann“, möchte sie beinahe verzweifelt wissen.

„Müssen wir das heute schon lösen?“, frage ich leicht besorgt, weil sie sich selbst nur noch in Problemen wälzt, anstatt mal den Blick nach vorn zu richten. Schaue ich wieder in ihr Gesicht, will sie zumindest eine Idee bekommen. „Okay“, sage ich und werde etwas lauter. „Die Waschmaschine hier an Bord ist wenigstens 30 Jahre alt und sehr reparaturanfällig. Alle Töpfe und Pfannen haben auch schon lange ihr Gebrauchsalter überschritten. Du hast sie selbst gesehen. Geschirr und Besteck kann man nie genug haben. Was sonst noch so in deinem Haushalt ist und unseren Gemeinsamen hier an Bord erweitern könnte, sollten wir mal bei Gelegenheit in Ruhe begutachten. Deine Möbel könntest du locker bei meinen Eltern unterstellen. Mein ehemaliges Jugendzimmer ist für Gäste eine Zumutung. Ich kenne ja deine Einrichtung. Dein großzügiges Bett wäre eine Bereicherung. Oder wir schauen, ob wir es hier an Bord unterkriegen und dafür ein wenig modernisieren, ohne den alten Charme zu zerstören. Was meinst du? Helfen dir meine Gedanken, dich ein wenig in die Zukunft zu orientieren?“

Sie schnauft und lehnt sich noch etwas mehr bei mir an. „Ach Tove. Du tust mir gerade sehr gut. Weißt du das? Deine Unerschrockenheit finde ich beeindruckend. Mein Leben zerbröselt gerade langsam vor meinen Augen und du baust es einfach wieder neu zusammen.“

„Weil ich dich liebe, Venja“, sage ich und fordere einen Kuss. „Nur weil wir erst noch heiraten wollen, ist es doch gerade jetzt wichtig, sich nicht vor den Problemen des anderen zu drücken. Wenn wir nicht jetzt schon zueinander halten und uns gegenseitig stützen, wie soll dann unsere Ehe aussehen? Wir müssten immer Sorge haben, im entscheidenden Moment alleingelassen zu werden. Das ist in meinen Augen die denkbar schlechteste Ausgangssituation für eine Ehe.“ – „Doch nun solltest du dir deine Jacke überziehen und schon mal draußen die Taue zurechtlegen. Wir biegen gleich in den Hafen ein. Erst am Bug festmachen. Dann kann ich das Schiff achtern an den Kai drücken. Ich rufe jetzt meinen Vater an, damit er uns abholt.“

* * *

Mama und Papa schauen recht ungläubig, als ich ihnen Venja vorstelle. Nichts anderes habe ich erwartet. Schließlich sieht sie Onkel Fritz und der Zenzi auf dem Foto recht ähnlich. „Und das sind meine Eltern Synthia und Matti.“

„Du bist einem Verwandten wie aus dem Gesicht geschnitten“, sagt mein Vater und starrt sie weiterhin an.

„Sie IST ihm aus dem Gesicht geschnitten, Papa“, melde ich mich umgehend zu Wort, um das Geheimnis möglichst schnell aufzulösen, bevor falsche Eindrücke entstehen. „Venjas Mutter ist die Tochter von Onkel Fritz. Zenzi und er hatten also doch was miteinander. Sie ist somit seine Enkelin und wenn ihr so wollt, eine sehr entfernte Cousine von mir. Aber jetzt lasst uns bitte nach Hause fahren. Wir kommen um vor Hunger.“

„Stimmt!“, bestätigt meine Mutter sofort. „Zenzi und du, ihr habt eindeutig Ähnlichkeiten. Aber jetzt spannt uns doch nicht länger auf die Folter. Wie habt ihr euch getroffen?“, ist ihre Neugier erwacht.

Auf dem kurzen Weg zum Hof überlasse ich es Venja, die Begebenheiten in aller Kürze zusammenzufassen. Schließlich hat sie alles ins Rollen gebracht. „Darum bin ich von daheim fort und hierher, um meine Ruhe zu haben. Aber man lässt mich einfach nicht in Frieden leben“, sagt sie bitter enttäuscht über die Ereignisse dieses Tages, die auch noch darauf warten, erzählt werden zu wollen.

„So. Da sind wir“, unterbricht mein Vater und bringt den Wagen vor dem Haus zum Stehen. „Kommt mit rein. Synthia hat ihren legendären Kartoffelauflauf im Rohr.“

Während des Essens habe ich die Gesprächsführung übernommen. Venja ist anzusehen, wie sehr sie das alles mitgenommen hat und nach wie vor intensiv beschäftigt. Als ich zum Schluss auch den heutigen Tag erzählt habe, sind meine Eltern für Momente wie versteinert.

„Nicht zu fassen“, sagt mein Vater, nachdem er sich wieder berappelt hat. „Das ist ja Steinzeit und noch drei Steine weiter“, ist er schier fassungslos. „Und diese Dummdreistigkeit von deinem Großvater schlägt dem Fass ja vollends den Boden aus!“, entrüstet er sich. „Du solltest dich auf jeden Fall anwaltlich beraten lassen, ob du Schadenersatz einklagen kannst“, erwacht in ihm der Jurist.

„Vergessen Sie es“, winkt Venja ab. „Die sind alle…“

„Lass bitte das Sie weg, Venja“, unterbricht meine Mutter. „Wir sind Skandinavier und kennen eher das Du.“

Meine Verlobte zuckt leicht zusammen und schaut uns nacheinander an. „Danke“, sagt sie leise.

„Aber du wurdest eben unterbrochen“, schiebt mein Vater die Situation beiseite. „Was sind die alle?“, nimmt er ihren Faden wieder auf.

„Karge Bauern. Sie leben von der Hand in den Mund. Der Hof ist restlos überschuldet“, setzt Venja nach einem kurzen Moment fort. „Seit mein Vater verschwunden ist, hat Mutter versucht, irgendwie über die Runden zu kommen. Opa kann mit Geld nicht umgehen. Es fließt ihm zwischen den Fingern hindurch. Mutter schafft es gerade so mit ihrem kleinen Beruf, die Zinsen zu zahlen, aber nichts vom Kredit. Ich sollte ja mit diesem Viehbauern verheiratet werden, damit er den Hof und das Land bekommt. So wären alle schuldenfrei geworden. Aber ich bin keine Bäuerin und würde noch nicht einmal aus Geldnot eine werden wollen. Ich mag die meisten Tiere. Aber nur, wenn sie in lecker zubereiteten Portionen auf dem Teller liegen“, lacht sie nun schelmisch und bekommt wieder ihre rosa Wangen. „Ich bin gelernte Kindergärtnerin. Das ist der Beruf, in dem ich aufgehe. Wenn es möglich und machbar ist, möchte ich selbst auch einen ganzen Stall voller Kinder haben“, legt sie geschickt eine erste heiße Fährte.

„Hast du denn einen Freund, der das auch so sieht?“ Meine Mutter! Was Kinder und Familie anderer Leute betrifft, befindet sie sich seit je her in einer diskretionsfreien Zone. Aber sie hat auf den ausgelegten Köder angebissen.

Venjas Wangen bekommen noch ein wenig mehr Farbe, als sie antwortet: „So direkt habe ich mit meinem Verlobten noch nicht darüber gesprochen“, und schaut mich kurz aber intensiv an. „Aber er scheint nichts gegen Kinder zu haben. So viel weiß ich.“

„Verlobt?“, horcht nun auch mein Vater interessiert auf. „Wie kann man nach so kurzer Zeit schon verlobt sein? Du bist doch noch kein halbes Jahr hier oben.“

„Das habe ich mich auch gefragt“, sagt sie leise und ergreift meine Hand, die ich auf dem Tisch liegen habe. „Aber wenn man sich vollkommen sicher ist, den Richtigen gefunden zu haben, mit dem man den Rest des Lebens verbringen will, darf man sich verloben.“

So langsam scheinen meine Eltern zu begreifen, wer gemeint sein könnte. Zumindest haben beide nicht nur kurz auf unsere gefassten Hände gesehen, sondern sehr genau hingeschaut.

„Mama, Papa, so ist es. Venja und ich sind ein Paar“, löse ich schnell das kleine Rätsel auf, bevor das Bombardement der Fragen losgeht. „Haltet uns auch bitte keine Vorträge, sondern denkt einfach an eure Zeit, als ihr euch kennengelernt habt. Mama, ich bin 29 und du nur 21 Jahre älter als ich. Venja ist 25 und noch nicht im Stadium schwanger. Glaube ich zumindest“, und tausche einen kurzen Blick mit ihr aus. „Und noch etwas sehr Wichtiges müsst ihr wissen. Auch Venja kann Auren sehen. Wir erkennen uns gegenseitig.“

Sekunden ist es absolut still. Nicht einmal Stella wagt es, sich zu bewegen, als wenn sie alles verstanden hätte.

„Was soll ich sagen?“, hat diesmal Mama zuerst wieder Worte. Papa starrt dafür Löcher in die Luft und uns gleichzeitig an. „Ziemlich viele verschiedene Gefühlsbäder, in denen wir heute eher unfreiwillig gebadet wurden. Aber wenn ihr das so seht und euch nach so kurzer Zeit auch sicher seid, will ich nicht die Letzte sein, die euch gratuliert. Venja? Darf ich dich bitten, aufzustehen? Ich möchte dich gern in unserer Familie willkommen heißen.“

Für Momente ist es unruhig und Stella ein wenig überfordert. Um sie zu beruhigen, kraule ich ihren Hals und rede leise auf sie ein.

„Meinen Glückwunsch, liebe Venja“, ist nun endlich auch mein Vater aufgestanden und nimmt sie in die Arme. „Dem Wunsch meines Sohnes entsprechend, werde ich nichts sagen. Außer, dass ich mich freue, bald eine Schwiegertochter zu bekommen. Dazu auch noch eine, die mit unserem Sohn auf Augenhöhe ist“, lacht er schelmisch und gibt ihr einen gehauchten Kuss auf die Stirn. „Ich wünsche euch Gottes Segen, mein Kind“, sagt er würdevoll und drückt Venja an sich. „Möge er euch auf euren Wegen stets vorausgehen und Hindernisse beiseiteräumen. Tove, mein Sohn, komm her“, werde ich gebeten. Papa fügt unsere Hände ineinander und sagt andächtig: „Gott wird seine guten Gründe haben, warum er euch beide zusammengeführt hat. Schatz, komm auch her. Lasst uns gemeinsam für das Verlobungspaar beten.“

* * *

„Deine Eltern sind ja wirklich unschlagbar“, wispert Venja in die Dunkelheit, als wir wieder an Bord sind und nach einem Glas Wein im Bett liegen. „Hattest du keine Sorge, sie könnten irgendwie verstimmt reagieren?“

„Nein. Nicht eine Sekunde“, antworte ich umgehend. „Meine Mutter war schwanger, bevor Papa ihr einen Antrag gemacht hat. Sie waren sich auch nach nur einem halben Jahr sicher, den richtigen Partner gewählt zu haben. Von daher hatte ich keine Bedenken, sie würden uns Vorhaltungen machen. Vielleicht ein wenig verdutzt sein, weil es bei uns nur ein paar Tage gedauert hat, aber mehr nicht.“

„Dann lass uns jetzt schlafen, Tove“, schmust sich Venja mit dem Rücken bei mir an und zieht meine Hand auf ihren Bauch. „Ich kann dir auch Gewissheit geben, dass ich nicht schwanger bin. Vorhin habe ich meine Tage bekommen. Gute Nacht mein Liebling“, wispert sie im Wegdämmern und ist kurz darauf eingeschlafen.

Morgen wollen meine Eltern zum Frühstück zu uns an Bord kommen und Brötchen mitbringen. Ich bin froh darüber, diese vielen Hürden an diesem Tag einigermaßen genommen zu haben. Meine zukünftige Frau hat auch bewiesen, wie sie mit nicht ganz so einfachen Situationen umzugehen weiß. Nach diesem Wochenende werden wir aber mal konkret anfangen, ihren Scherbenhaufen zusammenzukehren und fortzuschaffen. Ob nach dem Opa noch andere aus der Familie aufschlagen und weiteren Stress machen, bleibt abzuwarten. Wir haben zum Glück die Möglichkeit, mit Zenzi mal hier und mal dort zu liegen. Verstecken lässt sich dieses Schiff natürlich nicht. Wiederum muss man es aber suchen, wenn es nicht am angestammten Platz liegt. Und ich kann nahezu an jedem Ort der Welt arbeiten. Hauptsache ich liefere meine Aufträge nicht nur pünktlich, sondern auch zur vollsten Kundenzufriedenheit ab.

* * *

Sechs Wochen später

* * *

Aus Österreich haben wir bisher nichts mehr gehört. Außer von der ermittelnden Kriminalpolizei. Wir haben die Fragebögen ordnungsgemäß ausgefüllt und, wie gefordert, per Einschreiben mit Rückschein an das Kommissariat nach Graz gesandt. Der Rückschein lag letzte Woche wieder bei uns im Briefkasten. Mit Dienstsiegel und schnörkeliger Unterschrift. Als wäre er frisch aus einem Sissi-Film herausgeflattert.

Venjas Wohnung haben wir ebenfalls in einem Gewaltakt aufgelöst. Zwar muss sie noch einen Monat Miete bezahlen, aber dann ist auch das Geschichte. Mit einem Teil ihrer Möbel haben wir tatsächlich meinen Eltern eine Freude machen können. Mein altes Jugendzimmer wird dafür demnächst Stück für Stück im Kamin verfeuert. Den Rest aus der Wohnung haben wir warm und trocken in einem Zimmer auf dem Hof untergebracht. Was daraus wird, entscheidet Venja irgendwann einmal. Auf dem Schiff jedenfalls können wir nichts davon gebrauchen. Jedes einzelne Teil müsste in mühevoller Kleinarbeit irgendwie eingepasst werden.

Außerdem ist ein Großteil des Hausrats an Bord ausgetauscht worden. Neben einer nur wenigen Monate alten Waschmaschine werkelt nun auch ein fast neuer Wäschetrockner. Alle Töpfe und ein Großteil der Pfannen haben wir einem vorbeiziehenden Lumpensammler auf die Ladefläche geworfen. Jetzt müssen wir nur noch die elektrischen Küchengeräte einmal austauschen, dann hält es wieder 30 oder mehr Jahre. Die Kombüse selbst werde ich mit einem Kumpel gründlich überholen. Er ist Möbeltischler und muss, bis auf verbautes Material, nicht bezahlt werden, weil seine Homepage ihn seinerzeit auch nichts gekostet hat.

Onkel Fritz‘ Aura leuchtet mal für Sekunden hier und da rot und gelb auf und verschwindet wieder. Ganz offensichtlich gefällt ihm, was wir machen. Wir haben uns an seine Gegenwart, oder wie man das bezeichnen soll, auch längst schon gewöhnt. Wenn er einen Tag gar nicht zu sehen war, fehlt uns irgendwie tatsächlich etwas.

Seit gut vier Wochen ist nun endlich auch der Hochsommer da. Mit ihm leider seit ein paar Tagen auch die Algenblüte, welche ein Schwimmen in der Ilmenau unmöglich macht. Obwohl die Schleuse regelmäßig geöffnet wird, staut sich die muffig riechende Brühe immer wieder davor und vermiest einem die gemütlichen Abende auf der Dachterrasse. Aber nur wegen der paar Wochen im Jahr diesen geschützten Liegeplatz aufgeben kommt für uns gar nicht infrage.

Meine Liebste hat sich nach einer kleinen Erholungspause außerdem dazu entschlossen, Nägel mit Köpfen zu machen. Innerhalb von nur zwei Wochen hat sie in ganztägigen Kursen die Führerscheine Binnen und See absolviert und die Prüfungen auf Anhieb bestanden. Erst gestern kam sie freudestrahlend auch noch mit dem Seefunkzeugnis zurück an Bord. Ihr Ziel, mit Zenzi nun ebenfalls allein fahren zu dürfen, ist erreicht. Zumindest was Ilmenau, Elbe und Nordsee betreffen. Die größeren Kanäle darf sie auch befahren.

Nachdem ich dem Architekturbüro endlich die fertige Version ihrer Homepage auf deren Server installiert hatte, dauerte es keine vier Tage und weitere Anfragen flatterten mir aufs Schiff. Aber noch bin ich mit dem Hotel in Kiel beschäftigt. Wobei Venja mir sehr oft über die Schulter sieht und wertvolle Tipps gibt, wie sie eine Homepage als Kundin bedienen würde. Der Blick scheint mir etwas verloren gegangen zu sein. Sobald es anschließend um die Texte geht, blüht meine Verlobte regelrecht auf.

Für kommende Nacht sind schwere Gewitter mit starken Unwettern angekündigt. Bereits jetzt am frühen Vormittag macht sich die Schwüle langsam schon bemerkbar.

„Ich werde nachher vorsorglich alle Landverbindungen trennen“, unterrichte ich Venja bei unserem fast schon rituellen Elf-Uhr-Kaffee. „Onkel Fritz hat das auch immer gemacht und zwei Male war es sogar gut. Weil der Schwimmsteg aus der Verankerung gerissen wurde. Wenn du also jetzt noch Dinge an Bord erledigen musst, für die du Strom und Wasser brauchst, solltest du sie sehr bald angehen.“

Zu meinem Erstaunen bleibt sie recht entspannt und meint: „Gut. Dann setze ich jetzt Kartoffeln und Nudeln für Salate auf. Drüben beim Kaufmann hole ich Gehacktes und brate Klopse. Das wird unser Abendbrot. Sag mir eine halbe Stunde vorher noch einmal Bescheid, damit ich noch zwei Thermoskannen Früchtetee kochen kann. Lampenöl und Kerzen sind ausreichend gebunkert. Die Pflanzkübel schaffe ich nicht allein. Da brauche ich deine Hilfe. Dachterrasse hingegen geht schnell. Das kommt alles ins Steuerhaus. Wie beim letzten Mal. Was macht die Hotelseite? Kommst du voran? Brauchst du noch Ideen?“

Unweigerlich muss ich lachen.

„Was ist?“, fragt sie erstaunt.

„Na hör mal!“, bin ich beinahe fassungslos. „Im Internet überschlagen sich die Prognosen und du redest daher, als würdest du mir erzählen, welche Schuhe du gleich noch putzen willst. Wir fallen von 1085 auf unter 940 Millibar. Ich spiele sogar mit dem Gedanken, die Elbe bis nach Artlenburg in den Elbeseitenkanal raufzufahren. Sollten nämlich die auflaufende Flut und der Nordweststurm tatsächlich wie vorhergesagt zusammen eintreffen, reicht die Flutwelle nicht bis da hin. Vorher werden die Elbauen überflutet. Aber hier kann es kritisch werden.“

„Dann gehe ich jetzt sofort einkaufen und du bereitest bitte alles vor, Tove“, sagt sie bestimmend und auch etwas seltsam. „Wenn der Diesel läuft, hab ich Strom und wir können selbst Wasser produzieren. Soll ich Janne informieren? Liegt auf dem Weg. In einer Stunde müssen wir schleusen.“

Ihre Art verwirrt mich leicht, doch ich antworte: „Mach das. Die Arbeit muss jetzt warten. Ich brauche etwa 30 Minuten, dann können wir ablegen. Wenn du zurück bist, starte ich den Diesel.“

Wie ein seit Jahren eingespieltes Team beginnen wir umgehend mit den Vorbereitungen. Als ich die Kübelpflanzen ins Wohnzimmer wuchte, sehe ich Venja den Weg entlang gehen. Um Kopf und Oberkörper leuchtet sie rotorange. Um ihre Hüften ist es beinahe goldgelb und zu ihren Füßen ein äußerer grüner und rötlicher innerer Kranz. So bunt habe ich sie bisher noch nie wahrgenommen. Onkel Fritz kann ich nicht sehen.

* * *

Hohe Schleierwolken aus Westen kündigen den Wetterwechsel um die Mittagszeit an. Die drückende Schwüle nimmt immer weiter zu. Viele Freizeitskipper haben offensichtlich die gleiche Idee entwickelt und ziehen sich ebenfalls mit ihren Booten ins Hinterland zurück. Venja kommt die Stufen zum Steuerhaus hoch und zieht eine Duftfahne nach frisch gebratenen Frikadellen hinter sich her. Nach einem flüchtigen Rundumblick meint sie: „Ordentlich was los.“

„Wer die Lage ernst nimmt, tut gut daran, alles in Sicherheit zu bringen. Vor Jahren hatte ein Sturmtief hier oben zig Schiffe versenkt, die im März schon gewassert worden waren. An Land hats den Rest zerlegt“, erinnere ich mich mit Grausen an die Stunden an Bord. „Uns sind halbe Bäume übers Deck geflogen. Aus umliegenden Gärten Campingstühle und sogar Tische. Das sah im Hafen aus, wie ein Trümmerfeld.“

Meine Verlobte gibt mir einen zarten Kuss und sagt leise: „Ich bin glücklich mit dir, Tove. Du bist sehr umsichtig und fürsorglich.“

Irgendwie werde ich das seltsame Gefühl einfach nicht mehr los, als ich sie vorhin an Land gesehen habe. Aber ich will mich auch nicht zum Deppen machen, wenn ich sie jetzt platt fragen würde. Angestrengt überlege ich, doch es kommt nur ein: „Muss ich eigentlich irgendwas wissen?“, dabei heraus.

„Ja“, flüstert sie und stellt sich hinter mich. Zart legt sie mir ihre Arme um und ihre flachen Hände auf meine Brust. „Warum fragst du?“, möchte sie leise wissen. „Du hast mich doch bestimmt schon gesehen.“

„Solange es kein Aprilscherz wird“, flachse ich, nachdem ich schnell die Monate überschlagen habe.

„Mhm, weniger“, säuselt sie lieblich. „Dafür müsste ich erst einmal die Pille absetzen.“

Nun habe ich mich doch zum Trottel gemacht. Klasse. Eine totale Fehlinterpretation. „Aber“, starte ich einen hilflosen Rettungsversuch, „warum dann so Gelbgold um deine Hüften, Liebling?“

„Ich würde gern, Tove“, raunzt sie mir ins Ohr. „Ich möchte die Pille einfach nicht mehr nehmen und es der Natur überlassen, ob wir Eltern werden dürfen. Wir heiraten im September. Auf der Cap San Diego und anschließend in der kleinen Dorfkirche bei deinen Eltern.“ – „Bis dahin kann ich sie ja noch nehmen. Aber dann möchte ich nicht mehr.“

In mir gibt es bei diesen Worten augenblicklich eine kleine Explosion, die auch meine zukünftige Frau deutlich spürt.

„Mein Liebling“, wispert sie und schnieft leise, „ich möchte das Kinderlachen von unseren Kindern gern auf dem Schiff hören.“

„Dann warte noch bis zur Hochzeit, meine liebe Venja“, antworte ich und lege meine linke Hand mit auf die ihren, mit denen sie zart meinen Brustkorb streichelt. „So kannst du noch ausgelassen feiern. Sollte uns das Glück beschert werden, wünsche ich mir, dass unser Kind wohl behütet in dir heranwachsen darf.“

Sie tupft mir einen Kuss auf den Kopf und flüstert: „Aber nachher dafür üben möchte ich schon mit dir.“

* * *

Sechs Monate später

* * *

Von der Wintersonne sanft wachgeküsst blinzle ich gegen das einfallende Licht an. Venja liegt in meinem Arm und schläft noch tief. Genüsslich wühle ich meine Nase durch ihr lockiges Haargold und küsse ihren Nacken. Zart streiche ich über ihren leicht gewölbten Bauch und krabble hinauf zu ihren Brüsten. „Guten Morgen, meine liebe Ehefrau“, flüstere ich und gönne mir ihre voller werdenden Wonnehügel.

„Morgen“, nuschelt sie und legt ihre Hand auf meine. „Kannst du nicht mal länger schlafen? Wenigstens am Wochenende?“, murrt sie und genießt trotzdem meine Liebkosungen.

„Wach sein und dich anfühlen finde ich viel spannender“, schnurre ich frivol und rolle ihre harten Brustwarzen mit meiner Handinnenfläche.

„Lustmolch“, raunzt sie und leitet meine Hand sanft aber energisch tiefer. „Da macht es mir noch viel mehr Spaß“, gurrt sie und öffnet uns den Weg zwischen ihre Schenkel. Ihr neugieriges Knöpfchen wartet schon auf meinen Finger. Wenig später rollt sie sich halb auf den Bauch und kniet kurz darauf im Bett, weil sie von mir in ihrer Lieblingsstellung sanft und gefühlvoll von hinten genommen werden will. „Noch mehr schwanger kann ich ja nicht werden“, schnurrt sie brummend, als meine Länge langsam in sie eintaucht.

Ich liebe unser langsames Spiel mittlerweile mehr, als den rasanten Sex, den wir vor der Schwangerschaft nicht selten stürmisch ausgelebt hatten. Da war es uns nur wichtig, befriedigt zu werden. Wobei Venja meist weit vor mir ihren Orgasmus hatte. Sie kam und kommt immer noch schnell in Fahrt. Aber wir haben uns aneinander ausprobiert und unseren Weg gefunden, gemeinsam am Ziel anzukommen und nicht nur einer von uns den Etappensieg einfährt.

Es ist zu geil, meine Frau so zu spüren. Ich halte still und sie bestimmt das Tempo. Dabei lasse ich meine Hände über ihren sagenhaften Hintern streicheln, spiele ab und zu an der Rosette und arbeite mich über ihre Taille zu ihrem Kitzler vor, der sie zusätzlich befeuert.

Erst wenn ich kurz vor meinem Abgang bin, packe ich mit meinen Pranken fest um ihre Hüften und übernehme die Führung. Venja lässt sich dann ganz auf meinen Takt ein und grunzt oft mit meinem ersten Schuss ihre Landung vom Höhenflug ins Kissen.

Nicht anders ist es heute. Ihre strammen Backen klatschen immer heftiger gegen mein Becken. Wir kommen gemeinsam. Ich spritze in sie und sie ihre Ladung aufs hastig untergelegte Handtuch. Wenn meine Frau kommt, dann gewaltig. Nicht nur akustisch.

Eng umschlungen liegen wir uns in den Armen und halbwegs auch im eigenen Saft. Unsere Herzen pochen im Einklang.

„Früh aufwachen hat doch was“, murmelt sie und ist dabei, wieder leicht einzunicken. „Tove, mein Schatz, ich liebe dich.“

Ich muss nichts sagen. Meiner Venja reicht es, sie zu streicheln und zart ihre Brüste zu massieren.

„Denk nicht so viel nach“, nuschelt sie. „Alles ist gut, so wie es ist, mein lieber Mann. Hör auf, zu grübeln.“

Wahrscheinlich leuchte ich gerade wieder einmal tiefblau. Immer dann, wenn ich über unsere Hochzeit, die Wochen davor und danach nachdenke, umhüllt mich diese Farbe. Dabei hätte ich es ihr wirklich von Herzen gewünscht, wenigstens einen aus der Familie bei ihrer Vermählung unter der Hochzeitsgesellschaft zu wissen.

„Tove“, raunt sie und dreht sich zu mir um, „jetzt hör auf, darüber nachzudenken. Mein Opa war doch dabei. Wir haben ihn doch deutlich neben dem Pfarrer wahrgenommen. Strahlend rot und mit einer weißen Krone. Er, der die ganze Zeit um mich wusste, er war dabei. Und als ich dir mein Ja-Wort gegeben hatte, verblasste es. Unser Fritz hat in dem Moment sein Lebensziel erreicht. Mein Opa und dein Onkel, er hatte das miterlebt, was er sich zu Lebzeiten erwünscht hatte. Nun hat er seinen Frieden mit sich. Unser Fritz weiß dich und mich als Einheit, zu der er uns auf seine ihm eigene Art zusammengeführt hat.“ – „Du bist meine große Liebe, Tove. Und mein Opa hat es gewusst. Was meinst du? Wenn es ein Junge wird, wollen wir ihn dann Fritz nennen?“

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