Das Hausboot fährt weiter

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Ydalir
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Das Hausboot fährt weiter

Beitragvon Ydalir » Fr 23. Jun 2017, 18:58

Monoton stampft der Diesel. Die See ist spiegelglatt. Von einem wolkenlosen Himmel brennt seit dem Morgen gnadenlos die Sonne herunter. Stunden stehe ich nun schon am Ruder und folge der Küstenlinie. Vom Steuerhaus sind beide Seitentüren offen und eine Hälfte der Frontscheibe hochgeklappt, um mir wenigstens vom Fahrtwind so was wie Kühlung vortäuschen zu lassen.

Vor mir, auf der Dachterrasse, liegt meine Frau splitterfasernackt und lässt sich grillen. Über unserem jüngsten Kind hat sie ein großes Sonnensegel aus weißem Leinen gespannt. Luisa ist mit ihren anderthalb Jahren ein ausgesprochen ruhiges und genügsames Kind. Wenn sie einen von uns sieht oder hört, ist es ihr genug. Läuft der Diesel und plätschert das Wasser, dauert es nur ein paar Minuten und sie pennt. Egal, wo sie gerade liegt.

Nur eben werfe ich einen flüchtigen Blick aufs Außenthermometer und der Schweiß rinnt mir gleich noch mal so schnell. Fast 34 Grad; im Schatten wohlgemerkt. Und das AUF der Nordsee! Wenigstens zwei Meilen vom Land weg. Aus dem leise dudelnden Radio werden stündlich neue Hitzerekorde gemeldet. Hamburg Sankt Pauli meldet von den Landungsbrücken mittlerweile 38 Grad, in der Innenstadt ist die 40-Grad-Marke schon vor zwei Stunden geknackt worden. Irgendwo in der Lüneburger Heide wurde soeben die alte Höchstmarke von 42,6 Grad übertroffen. Das Thermometer soll dort auf über 43 Grad gestiegen sein. Die Waldbrandgefahr ist in gesamt Norddeutschland hoch brisant.

Kaum zu glauben, dass dagegen in Bayern die Menschen bei nicht einmal 10 Grad bibbern und einige Ortschaften durch ein seit Tagen über der Region ortsfestes Regentief mittlerweile entweder vom Hochwasser bedroht oder sogar schon abgesoffen sind.

Mein Blick schweift wieder über die glatte See. Viele Freizeitboote sind es nicht, denen wir begegnen. Auf dem Radar herrscht auch so etwas, wie Flaute. Nur weiter draußen ist normaler Schiffsverkehr zu erkennen.

Sylt liegt südöstlich hinter uns. Die dänische Insel Rømø passieren wir gerade an Steuerbord. Bis zu unserem eigentlichen Ziel, der dänischen Kleinstadt Lemvig, brauchen wir allerdings noch den ganzen Nachmittag und wohl auch frühen Abend. Zenzi ist nun mal eine alte Lady, die es nicht mehr so eilig hat. Sie schafft zwar noch ihre 10,5 Knoten, aber bei sieben soll es genug sein. Fordere ich darüber hinaus von ihr auch nur 20 Umdrehungen zusätzlich auf dem Propeller, gibt sie ein Spiegelbild meiner frühen Erwachsenenjahre ab. Qualmen und saufen. Aber im kommenden Herbst wird sie nicht nur ein neues Herz erhalten.

Unser Liegeplatz ist diesmal auch perfekt organisiert. Direkt am Pier befindet sich das Restaurant Luna, in welchem Venja ihre mittlerweile europaweit bekannten und hochgeschätzten Autorenlesungen abhalten wird. Mehr Werbung in eigener Sache ist kaum möglich.

Da wir unserem Publikum gerecht werden wollen, haben wir zum wiederholten Male Hilke Sommerlund engagiert. Sie ist unsere perfekte Simultandolmetscherin für alle skandinavischen Sprachen. Hilke kennt alle Bücher meiner Frau und ist damit bestens vorbereitet. Mit ihr hatten wir in der Vergangenheit schon sehr gute Erfahrungen in Norwegen und Schweden gemacht. Denn wer möchte, kann sich bei uns ein Headset leihen. Mehr als 100 Zuhörer lassen wir bei solchen Lesungen auch nicht zu. Diese Obergrenze ist von uns im Laufe der Jahre herausgearbeitet worden. So bleibt für jeden anschließend noch Zeit, ein kurzes Gespräch mit uns zu suchen.

Aber zwei Mal im Jahr tritt meine Frau vor ganz großem Publikum auf. Grundsätzlich immer am ersten Mai-Samstag im Congress-Centrum-Hamburg. Nur in diesem Jahr nicht. Nachdem die Elbphilharmonie endlich fertiggestellt worden ist, bereitete Hamburg ihr eine ganz neue Bühne. Mit für uns völlig überraschendem Ergebnis. Aus ursprünglich einer Nachmittagsveranstaltung wurden ungeplant drei, die sich bis in die Nacht hineinzogen. Selbst kurze spontane Unterbrechungen wegen einiger Unpässlichkeiten in den ersten Schwangerschaftswochen honorierte das Publikum mit teilweise stehenden Ovationen. Unser Vorrat an Büchern für den anschließenden Verkauf reichte nicht und konnte nur durch eine Spontanaktion einiger großer Buchhandlungen halbwegs kompensiert werden. Nicht nur Lob für das Buch erhielt meine Frau. Besonders wünschte man ihr für die restliche Schwangerschaft und Geburt unserer Zwillinge alles Gute. Diese Nachricht hatte sich seit Bekanntwerden auf Twitter wie ein Lauffeuer in der Fangemeinde weltweit verbreitet. Ganz besonders freuten wir uns über einen Gruß aus Nord-Korea. Damit hatte auch die restliche Welt nicht gerechnet und schickte Grüße in das Land zurück.

Eine weitere Lesung veranstaltet meine Frau ebenso am 1. Adventssamstag in Graz, der Landeshauptstadt ihrer alten Heimat, zu der sie nach wie vor eine Verbindung hält. Auch wenn ihre Familie sie immer noch wie der Teufel das Weihwasser meidet und ihr sogar gram ob ihrer Berühmtheit ist. Lediglich ihre älteste Schwester hat sich heimlich über Bekannte mit uns in Verbindung gesetzt. Was da eines Tages noch auf uns wartet, will ich mir nicht vorstellen. Sie und die Kinder scheinen jedenfalls in der Hölle angekommen zu sein; glaubt man den uns zugespielten Briefen.

Während Zenzi ihre Seemeilen weiter gemütlich dahinzieht, habe ich wieder einmal Zeit, meine Gedanken in die Vergangenheit schweifen zu lassen.

* * *

Unser heiß ersehnter Tag ist angebrochen. Obwohl es wie aus Kübeln schüttet, kann uns das Wetter unsere Hochstimmung nicht im geringsten vermiesen. Weil wir heute endlich ein Paar werden. Ein Ehepaar.

Der vergangene Monat hatte uns dafür einiges an asketischer Lebensweise abverlangt. Denn seit Wochen träumen wir schon von einer kleinen Familie und Venja hörte auf, die Pille zu nehmen. Einen Monat gar keinen Sex zu haben, war für sie beinahe noch schwieriger durchzustehen, als für mich. Seit fünf Tagen aber ist ihre letzte Regel vorbei und wir vögeln uns morgens und abends regelmäßig ins Nirwana. Was ich seitdem an Fisch, Muscheln und Eiern vertilge, geht auf keine Kuhhaut mehr.

Ich sehe meinen Vater durch den Regen auf das Schiff zu hetzen und beeile mich, ihm schon mal die Tür aufzumachen. Mama stöckelt wackelig hinterher und knallt beinahe auf den glitschigen Planken des Stegs der Länge nach hin. Warum muss sie auch ausgerechnet immer zu den unpassendsten Gegebenheiten die denkbar schlechteste Schuhauswahl treffen? Wofür hat meine Mutter über 150 Paar Schuhe? Wie froh bin ich darüber, dass meine Venja in dieser Beziehung einfach nur pragmatisch denkt und vor allen Dingen auch so handelt.

„Was für ein Sauwetter!“, flucht er und streift den Regenmantel ab. Stella schwänzelt sofort aufgeregt um ihn herum und verlangt nach ihrer Begrüßungseinheit. Als meine Mutter eintritt, wird auch sie freudig aufgefordert, sich erst einmal ihr zu widmen.

„Junge, du hast eindeutig den falschen Tanz aufgeführt“, frotzelt mein Vater, tätschelt kurz unsere Vierbeinerin und geht ins Wohnzimmer. „Wo ist denn deine Braut?“, will er umgehend wissen.

„Unten. In der Bugkabine. Maja hilft ihr beim Ankleiden“, deute ich mit dem Zeigefinger eine Etage tiefer.

Eine Stunde später werde ich bei mittlerweile trockenem Wetter aber immer noch bewölktem Himmel auf die Cap San Diego geleitet. Seit der streng geheimen Ankleideaktion habe ich meine Venja auch nicht mehr zu Gesicht bekommen. Zwar weiß ich, dass meine Braut mich überraschen will, aber dass es so aufwendig wird, habe ich nicht erwartet. Mein Weg in die Kapitänsmesse verläuft trotz der Besucher auf dem Schiff recht unspektakulär. Der Standesbeamte erwartet mich bereits. Er grinst wissend und nickt. Auch sind bereits alle geladenen Gäste anwesend. Jetzt fehlen nur noch meine Braut und ihre Brautjungfer Maja.

Wie aus dem Nichts schwebt mit einem Male ein mir nur allzubekanntes zartblaues Oval herein. Oben herum leuchtet es gelbgolden, in der Mitte sticht glühendes Rot heraus. „Onkel Fritz“, murmle ich leise und werde von meinem Vater etwas irritiert angesehen. „Siehst du ihn gerade?“, will er wissen und packt mich am Oberarm, weil ich leicht ins Schwanken gerate. „Ja, Paps“, wispere ich mit belegter Stimme und spüre, wie sich mir der Hals zuschnürt und die Augen feucht werden.

Und wieder wie aus dem Nichts schreitet nur Sekunden später meine Venja feierlich in den Raum. Mit fast allem hatte ich gerechnet. Aber nicht, sie in einem steirischen Hochzeitsdirndl empfangen zu dürfen. Jetzt schwappt mir das Wasser endgültig über die Ränder. Ich stehe einfach nur da und heule. Ungeachtet der Gäste fallen wir uns in die Arme und versinken für gefühlte Sternenzeiten in einen liebenden Kuss.

„Siehst du ihn auch?“, wispert Venja mit bebender Stimme, als wir uns wieder voneinander gelöst haben und in die Augen sehen. „Ja“, röchle ich heiser.

Papa stupst uns zart an. Sein wissender Blick ruht auf uns.

Kurz darauf beginnt die Zeremonie. Meine Aufnahmefähigkeit aber reicht bei weitem nicht mehr aus, den Worten des Standesbeamten folgen zu können. Ich habe nur noch Augen für meine Venja und Onkel Fritz. Lediglich mein: „Ja, ich will“, bekomme ich an der richtigen Stelle heraus und höre, wie auch Venja unserer Verbindung zustimmt.

Danach erwache ich erst wieder aus meinen Gedanken, als ich mit meiner Braut durch das Kirchenportal schreite und unser Eingangsstück von der Orgel höre. Obwohl Venja katholisch ist, heiraten wir rein evangelisch.

Ihr sei wichtig, unsere Verbindung vor Gott zu schließen und nicht vor einer Konfession. So hatte sie es auch gegenüber dem Pastor der Gemeinde während unseres Traugesprächs sehr klar formuliert. Sie wolle kirchlich heiraten, weil ihr der Segen Gottes etwas bedeute.

Wir beide können während des gesamten Traugottesdienstes Onkel Fritz klar und deutlich in seinen Farben leuchten sehen. Als wir uns niederknien und uns die rechte Hand reichen, ist er glutrot und trägt einen strahlend weißen Kranz. Erst gebe ich Venja mein Treueversprechen, danach sie das ihre an mich. Kaum hat sie geendet und wir den Segen erhalten, verblasst das Oval ganz langsam und löst sich im Licht der einfallenden Sonne gänzlich auf. Unsere Blicke ruhen für ein paar Sekunden ineinander. Wir sehen es beim anderen. Die Flut wird gleich einsetzen. Nicht nur, weil wir jetzt ein Ehepaar sind. Unser Opa und Onkel hat jetzt erst seine letzte Reise angetreten und uns mit unbekanntem Ziel für immer verlassen.

Obwohl dies eigentlich einer der schönsten Tage in unserem Leben sein soll, spüre ich einen leeren Platz in mir, den Onkel Fritz hinterlassen hat. Nun ist er für immer gegangen und er fehlt mir schon jetzt. Als ich Venjas Augen erforsche, sehe ich bei ihr identische Gedanken.

Die Feier selbst haben meine Eltern zusammen mit meinem Freund Kalle sehr liebevoll organisiert und ausgerichtet. Wir brauchten im Vorwege nur unsere Gäste einladen. Eine kleine überschaubare, aber dafür sehr erlesene Gesellschaft. Meine Frau wollte von vornherein kein pompöses Fest und entsprach damit vollkommen auch meinen Vorstellungen. Uns lag am Herzen, mit den Menschen zu feiern, die in unserer beider Leben etwas bedeuten. Wie eben auch Maja aus ihrem Heimatdorf oder Kalle, mit dem ich immer noch in unregelmäßigen Abständen zum Nachtangeln auf die Elbe fahre.

Als in den frühen Morgenstunden sich auch der letzte harte Kern aufgelöst hat, ist es Kalle, der uns stilvoll in seinem restaurierten Renault R4 zu unserer Zenzi kutschiert. Wir schweben beinahe an Bord in unsere Hochzeitssuite, die Onkel Fritz schon vor Jahren für diesen einen wichtigen Tag in meinem Leben mit hingebungsvoller Sorgfalt hergerichtet hatte.

Minuten stehen wir voreinander und betrachten uns im Schein der schummrigen Beleuchtung, welche uns von den kleinen Nachttischlampen gespendet wird. Auf unserem Bett liegen Rosenblätter. Die Vorhänge der Bullaugen sind zugezogen und unter der Glasluke ein Stück braunes Segeltuch gespannt.

„Mein Wikinger“, flüstert meine Frau und tritt nahe vor mich. „Da muss ich Bergziege ausgerechnet kurz vor Hamburg auf meinen Mann treffen.“ – „Tove, nimm mich jetzt bitte fest in deine starken Arme und drück mich. So fest, wie du kannst. Ich glaube nämlich immer noch, dass ich nur träume.“

„Komm her, mein kleines Zicklein“, schmunzle ich und umfasse meine Venja. „Und ich glaube, dass unser Fritz dahintersteckt.“

Wir nehmen uns fest in die Arme. „Nicht nur du“, wispert meine Frau.

Unsere direkt am nächsten Tag beginnende Hochzeitsreise ist auch eine kleine Reise in die Vergangenheit. Wir sind mit Zenzi ihre alte Route von Hamburg nach Helgoland getuckert. Dort liegen wir seit acht Tagen und genießen uns, lange Spaziergänge auf der Insel und das herrliche Spätsommerwetter mit ersten Launen des Herbstes.

Gerade will ich meiner Frau ihren Elf-Uhr-Kaffee auf der Dachterrasse eingießen, als sie plötzlich aufspringt und sich weit über die Reling beugt. Leichenblass nimmt sie nach der unfreiwilligen Magenentleerung wieder Platz und sieht mich irgendwie merkwürdig an.

Mir entfährt nur ein: „Wow!“

Sie kontert röchelnd: „Ja. Wow. Nee. Garantiert schwanger.“

Unweigerlich müssen wir beide schallend lachen. Selbst die sonst unerschrockenen Möwen ringsum starten unter wildem Gekreische und suchen eilig das Weite.

Am Nachmittag haben wir eigentlich Gewissheit. Beide Schwangerschaftstests sind sich einig. Wir werden Eltern! Für Momente sehen wir uns nur staunend an und fallen uns abermals laut lachend in die Arme.

Auf unserer Heimreise machen wir noch für einen Tag Station bei meinen Eltern. Bevor wir allerdings unsere Neuigkeiten in gesprochenen Worten loswerden können, hastet Venja aus der Diele ins Gästeklo. Eindeutig akustisch wahrzunehmende Namen werden in die Schüssel erbrochen. Fest steht für mich: Egal, was es wird, aber einen dieser Namen bekommt unser Kind garantiert nicht. Die Bilder werde ich sonst nie wieder los! Wahrscheinlich wurde ihre Übelkeit einmal mehr nur durch den Essensgeruch ausgelöst, wie schon an Bord, wenn ich in der Kombüse stand und kochte.

Doch kaum ist meine Frau wieder da, fallen Mama und Papa glückstrahlend über sie her. „So schnell?“, fragt meine Mutter neugierig. „Habt ihr es so eilig?“

Papa stupst seine Frau an und meint: „Synthia, hast du vergessen, was unsere Venja sich wünscht? Hat sie doch erzählt, als sie das erste Mal hier war. Einen ganzen Stall voller Kinder möchte sie gern haben. Also müssen sie früh anfangen, damit der Stall auch voll wird.“

Trotz Venjas Mattigkeit erleben wir über den Tag und Abend dennoch schöne gemeinsame Stunden.

Unsere Nacht war dafür durchwachsen. Zwei Mal habe ich mitbekommen, dass Venja zum Spurt ansetzen musste. Meine Eltern schauen ihre Schwiegertochter beim Frühstück mitfühlend an. Großen Appetit hat sie nicht. Trotzdem isst sie ein halbes Brötchen und ist dankbar für einen leichten schwarzen Tee, den meine Mutter ihr zubereitet hat.

Kurz vor unserem Aufbruch werden wir von Papa in sein Arbeitszimmer gebeten. „Nehmt Platz“, weist er auf zwei Stühle vor seinem Schreibtisch. „Ich habe vom Amtsgericht eine Benachrichtigung erhalten“, kommt er auch sofort ohne Umschweife direkt zur Sache. „Es geht um eure Hochzeit und auch noch einmal um Onkel Fritz. Mein Sohn, liebe Venja“, wird er plötzlich sehr würdevoll und wirkt sogar direkt ergriffen. „Onkel Fritz hat in seinem Testament noch eine letzte Sache verfügt. Tove, wenn du einmal verheiratet bist, spätestens aber zu deinem 45. Geburtstag, wird dir ein weiteres Konto überschrieben, welches bis zu diesem Tage von mir verwaltet worden ist. Darauf hatte er im Laufe seines Berufsleben alles eingezahlt, was er von seinen monatlichen Einnahmen nicht verwendet hat. Auch spätere Rentenzahlungen sind dort eingegangen. Euer Leben wird ab heute, was die finanzielle Seite anbelangt, sorgenfrei verlaufen. Auf diesem Konto befinden sich aktuell nicht ganz 14.500.000 Euro. Ein sehr großer Lotteriegewinn hat dafür gesorgt, diese Summe anzuhäufen. Kommende Woche werden wir zur Bank gehen und die Umschreibung auf euch veranlassen.“

Uns klappen die Münder gleichzeitig auf und wir starren erst uns und dann Papa an. Wir bekommen ein paar Momente, das Gehörte im Gehirn ankommen zu lassen. Wirklich verstanden habe ich es jedoch noch lange nicht.

Kurz verlässt er das Zimmer und holt Mama dazu. Dann wendet er sich direkt an meine Frau. „Meine liebe Venja. Um zwei Dinge möchten wir dich noch bitten. Offiziell bist du unsere Schwiegertochter. Doch Synthia und ich würden gern, mit deinem Einverständnis, das Schwieger in dem Wort innerhalb unserer Familie streichen und für dich nicht nur Synthia und Matti, sondern ganz besonders von Herzen auch Mama und Paps sein. Wir haben dich sehr lieb gewonnen, Venja. Eben wie eine Tochter.“ Zart ergreift er ihre Hand und holt sie wortlos zu sich in die Arme. Ich höre, wie meine Frau erst leise schnieft und kurz darauf in Mamas Umarmung befreit losweint.

Als wir nach geraumer Zeit wieder sitzen, spricht Papa sehr bedacht weiter. „Das Zweite betrifft deine Sorge um deinen Beruf, meine liebe Tochter Venja. Ich hoffe, sie wurde dir heute, eben gerade, genommen. Du bist Toves Frau geworden. Wir haben mit dir eine wunderbare Tochter bekommen. Ihr beide erwartet euer gemeinsames erstes Kind. Ihr habt keine finanziellen Sorgen mehr. Warum also möchtest du noch als Kindergärtnerin für andere Kinder da sein, wo du doch dabei bist, deinen eigenen Kindergarten aufzubauen? Venja, lass dich einfach mal in dieses Glück fallen und vertraue auf Gott. Er kennt bereits den Weg, welchen er für dich vorherbestimmt hat. Zerbrich dir daher nicht mehr den Kopf, wie du dich am monatlichen Haushaltsgeld beteiligen kannst. Du bringst dich doch selbst in eure Ehe ein. Das ist viel mehr Wert, als Geld je bezahlen könnte. Meine liebe Venja. Wir haben dich heute noch einmal geschenkt bekommen. Als unsere Tochter. Darum wollen wir auch für dich verlässliche Eltern sein.

Und nun fahrt, bevor es dunkel wird. Heute könnt ihr auch nur noch zwischen 17 und 18 Uhr in die Ilmenau einschleusen.“

Keine Stunde später sind wir an Bord und fahren los. Meine Frau hat immer noch rot verweinte Augen. Aber sie strahlt trotzdem in sattem Rot mit einem zarten gelben Kranz drumherum. Unser Kind wird von tiefem dunkelblau beschützt. Ich stehe am Ruder, sie hinter mir und ihre Arme um meinen Bauch geschlungen. Ihre Wange liegt auf meiner Schulter.

Der Schritt zu Mama und Paps war für sie einerseits leicht und trotzdem unendlich schwer. Ziemlich viele aufgestaute Emotionen waren noch in Papas Büro sprichwörtlich aus ihr herausgebrochen.

„Ich liebe dich, Tove“, wispert sie, dreht ihren Kopf und küsst zärtlich meinen Hals. „Wir haben wundervolle Eltern.“

* * *

„Venja! Liebling!“, rufe ich ihr aus dem Steuerhaus auf die Terrasse zu. „Willst du die Kinder eigentlich ausbrüten? Oder doch eher austragen?“

Sie hebt ihren Kopf und grinst mich nur an. „Wenn brüten schneller geht, dann das!“, feixt sie in ihrer lieblichen Art und robbt zu Luisa unters Sonnensegel.

Von unten höre ich einen meiner Söhne die Stufen aus dem Rumpf hochpoltern und anschließend die zum Steuerhaus. Fritz lugt um die Ecke und fragt mit dem nahezu gleichen Gesichtsausdruck seiner Mutter: „Na? Ist sie schon gar?“, klettert auf sein Podest neben dem Steuerstand und überfliegt die Anzeigen. „Der Öldruck ist etwas zu niedrig“, klopft er mit seinem kleinen Zeigefinger auf das Manometer und wirft mir einen kritischen Blick zu.

Ich schüttle den Kopf. „Nein. Die Temperaturen sind zu hoch. Der Ausgleichsbehälter hat vorhin was abgezogen. Kein Grund zur Sorge.“ – „Was macht denn Till?“

„Was schon!“, mault Fritz sichtlich genervt. „Schon wieder sein Lieblingsbuch lesen. Bestimmt zum über tausendsten Mal. Robbie, Tobbi und das Fliewatüüt. Das kann ich auswendig!“

„Soll ich dich abfragen?“, schaue ich kurz prüfend zu ihm rüber, wohlwissend, den Test gegen ihn nicht bestehen zu können. „Lass ihn doch, wenn er Freude daran hat“, beschwichtige ich. „Wie weit du denn mit deinem Modellschiff? Kommst du gut voran?“

„Ist zu warm. Der Kleber trocknet zu schnell. Hab aus Langeweile angefangen, Mamas neues Buch zu lesen. Ich bin gerade da, wo vor zwei Jahren in der Stadt mit dem komischen Namen das Mittelalterfest war. Weiter hoch liegt doch die andere Stadt, so wie der Filmemacher heißt. Roland Emmerich. Aber die andere fällt mir gerade nicht ein. Von da sind wir dann über Flüsse und Kanäle bis nach Amsterdam.“

„Ja. In Xanten. Richtig. Das Römerfest im archäologischen Park. Ich fand besonders die Aufführungen der Gladiatoren im Forum sehr spannend“, erinnere ich mich auch noch lebhaft an den Aufenthalt. Manchmal finde ich es schon sehr interessant, welche Querverbindungen mein Sohn aufbaut, um sich Dinge zu merken. Ähnlich wie Onkel Fritz. In einigen Dingen ist unser Sohn tatsächlich ein kleiner Onkel Fritz der Version 2.0, nur eben rotgelockt.

„Mama hat ja eigentlich gar nichts davon gehabt. Weil sie schwanger war. Mit Luisa. Sie hat fast die ganze Zeit nur im Schiff gelegen und gekotzt.“ – „Immer wenn was Tolles ist, hat Mama ein Baby im Bauch. Jetzt auch wieder. Dabei ist in Lemvig Stadtfest. Hab ich schon mal im Internet nachgesehen. Mit Wikingersiedlung und richtigen Wikingerschiffen, mit denen man rausfahren kann. Und sogar mit Riesenrad.“ – „Gehen wir dahin?“

Ich muss kurz lachen. Mein Sohn! Das Unschuldsgesicht der Mama und die klaren Worte vom Papa! Doch ich muss leider ein wenig auf die Bremse treten. „Fritz, du weißt, wir sind …“

„Ja, ja!“, blökt er entnervt dazwischen. „Nicht zum Spaß da. Mama liest ihr Buch vor. Aber schließlich nicht den ganzen Tag.“

„Fritz!“, ruft meine Frau. „Komm doch bitte mal zu mir.“

Als hätten wir ihn bei etwas ertappt, zieht er kurz seinen Kopf zwischen die Schultern. „Was denn, Mama?“, höre ich ihn unsicher fragen, als er sich unters Sonnensegel gekniet hat.

„Das Stadtfest ist mit Sicherheit sehr interessant für dich“, beginnt sie in ihrer sanften Art, wenn sie unseren Sohn auf ihre ganz eigene Weise liebevoll und doch konsequent einnordet. „Wir legen heute Abend an. Du kannst mit Papa und Till gerne noch losziehen. Doch morgen und übermorgen haben wir volles Programm. Das Restaurant ist zwar hergerichtet, aber wir haben Soundcheck, Licht und Präsentation vorzubereiten. Maja ist schon da und nimmt uns viele Dinge ab.“ – „Weil ich schon wieder schwanger bin!“, setzt sie nicht ganz so freundlich nach. – „Aber sie wird mit euch beiden Jungs über das Fest gehen. Das habe ich mit ihr schon besprochen. Doch erlebt sie noch einmal so ein Theater, wie damals in Xanten, weil sie euch keine Holzschwerter gekauft hat, macht sie nicht mehr mit. Du kennst Maja. Sie hat viel Geduld. Aber so viel dann doch nicht.“ – „Müssen wir noch was bereden? Oder ist alles klar?“

„Och Mama!“, quengelt unser Sohn, wenn er nicht das bekommt, was er sich erhofft hat. „Ich will doch auch mal mit dir Riesenrad fahren. Nicht nur mit Maja. Und die Wikinger sind meine Vorfahren. Da bist du auch nicht dabei. Das ist doch doof!“

„Die Wikinger sind in erster Linie Papas Vorfahren“, stellt meine Frau klar. „Von mir hast du schließlich auch noch was abbekommen. Nämlich die …“

„Bergziegen!“, lacht Fritz laut auf und Luisa wird wach.

Ich muss ebenfalls schmunzeln. Venjas erstes Buch trägt tatsächlich den Titel: Die wunderbare Ahnungslosigkeit einer Bergziege.

„Mama! Die glüht ja total!“, rauscht Fritz plötzlich entsetzt auf. „Ich hol schnell was zu trinken!“ Wenn es um seine kleine Schwester geht, ist alles andere vergessen. Er saust an mir vorbei und rasant den Niedergang runter. Gefühlte Sekunden später ist er mit einem Früchtetee wieder oben bei seiner ihm heiligen Luisa. Liebevoll hebt er sie halb auf seinen Schoß und gibt ihr das Fläschchen. „Mama! Die säuft ja, wie ein Kamel!“, raunzt er sie entsetzt an.

Ja, unser Fritz. Er kann so stur sein, wie ich. Aber wenn auch nur ein Haar von irgendwem aus der Familie falsch liegt, sorgt er sich darum, bis alles wieder seine Ordnung hat. Wenn es etwas gibt, worauf wir Eltern uns bei ihm hundertprozentig verlassen können, ist es seine aufopferungsvolle Fürsorge.

Erinnerungen an die Tage in Xanten kommen in Bildern zurück. Mit welch Hingabe er damals trotz Römerfest seine Mama an Bord umhegt und umsorgt hatte, und das mit gerade einmal nur sieben Jahren, war schon bemerkenswert. „Ich mach das schon“, sagte er mir, als ich zwischendurch auch mal nach meiner Frau sehen wollte. Selbst die gut drei Kilometer mit dem Rad vom Gelände zum Anleger am Fährhaus zu fahren, machte ihm nichts aus.

Man hatte ihm auch bereits gegen Mittag des ersten Tages kurzerhand ein Pappschild mit den drei Buchstaben V. I. P. und darunter seinem Namen Fritz Thorvaldsen in einer Plastikhülle um den Hals gehängt. Aufgrund eines früheren Besuchs in der Stadt, den meine Frau in ihrem dritten Buch anschaulich bebildert und beschrieben hatte, waren wir eingeladen worden und durften sogar ausnahmsweise Bücher und Merchandising unserer Zenzi feilbieten. Freundliche Römer liehen uns sogar Kostüme, damit wir einigermaßen ins Bild passten. Bis unser Sohn begriffen hatte, mit einer Dauerkarte ausgestattet worden zu sein, vergingen noch ein paar Stunden. Er machte sich einfach nichts daraus, angeblich jemand Besonderes zu sein.

Natürlich kannte man uns noch in Xanten. Schließlich erregte auch unser doch sehr ungewöhnliches Hausboot genug Aufmerksamkeit und zog viele neugierige Blicke auf sich. Doch Stellas bloße Anwesenheit vor der Eingangstür hielt die Leute auf Abstand. Ein Schild mit der Aufschrift: Vorsicht! Wachsamer Bordhund!, verfehlte seine Wirkung nicht. Wagte auch nur jemand, einen Fuß auf die Gangway zu setzen, sprang sie auf und knurrte bedrohlich mit gefletschten Zähnen. Da machte sie sogar selbst bei Kindern keinen Unterschied mehr.

Als ich mit einem verantwortlichen Römer als Gladiatoren verkleidet an Bord ging, machte Stella noch deutlicher auf sich aufmerksam. Doch nur ein kurzer Befehl von mir und sie lag platt auf dem Boden. Das beeindruckte sogar den muskelbepackten Mann. Nicht minder die flanierenden Menschen.

Erneut schweifen meine Gedanken weit zurück in die Vergangenheit.

* * *

Der Frühling ist quasi über Nacht gekommen. Gestern noch sind wir bei norddeutschem Schmuddelwetter ins Bett gegangen und wachen mit Sonnenschein und lautem Vogelgezwitscher auf. Venja liegt mit dem Rücken zu mir und meine Hand auf unserem Kind in ihrem Bauch.

„Was ist das für ein Krach da draußen?“, mault sie mich schläfrig an und dreht sich um. „Mach das aus, Tove. Will schlafen!“

Ich komme nicht umhin, leise zu lachen. „Oh Venja!“, stöhne ich und möchte zu gern wissen, was in der Bergwelt los ist, wenn der Frühling die Natur küsst.

„Holst du Brötchen? Drüben beim Zollenspieker?“, murmelt sie und tastet sich mit ihren Lippen zu meinem Mund heran.

„Wenn du mich aufstehen lässt?“, antworte ich flüsternd.

„Nimm Stella mit“, höre ich noch und dann ist sie wieder eingeschlafen. Meine Frau! Mal ist sie mitten in der Nacht hellwach, steht auf und schreibt. Tags drauf bekomme ich sie vor elf Uhr nicht aus dem Bett. Aber was soll ich mich aufregen? Ich hatte irgendwo mal gelesen, Schwangere hätten einen eigenen Biorhythmus, der einfach gelebt werden sollte.

Venja hat nämlich angefangen, ihren Traum zu verwirklichen. Wo auch immer sie ihre geduldige und recht kostengünstige Lektorin hergeholt haben mag, meine Frau geht in ihrer Arbeit auf und bekommt positive Rückmeldungen von mehreren Seiten. Sogar meine Eltern haben sich als Testleser zur Verfügung gestellt.

Unsere Vierbeinerin hat mich begeistert begleitet, dem Fährmann erfolgreich ein paar Leckereien abgeluchst und ist jetzt irgendwo im Hafen auf Streifzug. Irgendwer ist garantiert schon auf und wird sie beschäftigen. Stella ist für Kinder sowieso die Attraktion schlechthin. Auch wenn der lebhafte Husky in ihr recht deutlich zum Vorschein kommt, hat sie eine Person ungefähr auf Augenhöhe, sticht der Golden Retriever alle anderen Gene aus. Dann können Kleinstkinder sogar auf ihrem Rücken herumkrabbeln und sich tragen lassen, ohne dass sie auch nur mit einem Nackenhaar zuckt.

Als ich wieder an Bord bin, schaue ich nur kurz bei meiner Frau rein. Sie schläft tief und fest. Trotz des Vogelkonzerts. Schon manchen Morgen habe ich ihr einfach nur dabei zugesehen. Meine Venja verströmt alleine nur währenddessen das, was ich mir in meinen früheren Träumen einmal unter meiner Familie vorgestellt habe. Sanfte Friedlichkeit und gelassene Zufriedenheit.

Meine Frau ist schwanger und nimmt alles, was nun einmal an Begleitumständen dazugehört, als selbstverständlich hin. Ist ihr schlecht, kotzt sie. Fühlt sie sich wohl, lacht sie. In letzter Zeit lacht sie zum Glück nur noch. Seit sie den vierten Monat hinter sich hat, ist alles in Butter. Und in nicht ganz drei Monaten wird irgendwann unser erstes Kind auf die Welt kommen.

Sanft streiche ich ihr eine Kringelsträhne aus dem Gesicht und verlasse lautlos unsere Kajüte. Im Wohnzimmer liegt ihr Manuskript. Sie schreibt nicht auf dem Notebook. Erste Ideen verfasst sie immer handschriftlich. Magisch davon angezogen, nehme ich die Seiten und steige auf die Dachterrasse. Ich kenne ihre Gedanken, die sie zu Papier bringt. Wir reden offen darüber. Doch das, was ich nun lese, ist komplettes Neuland für mich. Gebannt lasse ich die Zeilen auf mich einwirken.

Wie gern wollte ich die Zeit anhalten können. Zum Abschied nach diesem unserem ersten wundervollen Wochenende standen wir ziemlich unschlüssig voreinander. „Nimmt er mich jetzt endlich einmal von sich aus in die Arme?“, fragte ich mich still. Oder musste ich ihm noch mehr Hinweise geben, weil ich mich in diesen raubeinigen Kerl mit der sanften und romantischen Seele schon vorgestern Hals über Kopf und hoffnungslos verliebt hatte?

Würde er mich jetzt gehen lassen, käme ich auch nicht mehr zurück. Den Mut könnte ich nicht noch einmal aufbringen. Dafür hatte ich ihn am Wochenende zu tief in mich blicken lassen. Wenn ich mich noch einmal vor ihm entblößen würde, dann nicht mehr nur emotional. Diesem Mann, diesem rothaarigen Wikinger Tove Thorvaldsen mit seinem dichten welligen Haar, dem wuschigen feuerroten Vollbart, war ich auf Gedeih und Verderb verfallen. Innerlich war ich sogar so weit, das zuzulassen, was ich immer nur meinem Ehemann schenken wollte.

Dann endlich nahm er mich in die Arme und meine Knie wurden weich. Sanft, fest, fordernd und liebevoll drückte er mich an seinen muskulösen Brustkorb. Unsere Lippen verharren für eine letzte Sekunde dicht voreinander. Ich atmete ihn. Sein männlicher Duft, gemischt mit See und Schweiß. Mir wurde beinahe schwindelig. Als er mich samtweich mit seinen warmen Lippen küsste, schloss ich die Augen und sah ein Funkenregen aus abermillionen Sternen.

Doch plötzlich unterbrach er den Kuss und presste mich an sich. Mir blieb beinahe die Luft weg. Kehlig raunend vernahm ich seine Stimme an meinem Ohr. „Geh bitte“, sagte er und lockerte seine Umarmung. Ich erschrak. Was hatte ich falsch gemacht? Mochte er mich vielleicht doch nicht? Bildete ich mir vielleicht nur ein, diesen Mann zu lieben? War ihm mein seelischer Müllberg am Ende viel zu groß? Aber dann sagte er noch die Worte, die mich in dem Moment für immer fest mit ihm verbinden sollten. Beinahe schüchtern fügte er hinzu: „Sonst lasse ich dich gar nicht mehr fort und begehe vielleicht sogar eine Unachtsamkeit.“

Mit meiner inneren Explosion presste ich mich mit aller Kraft wieder an ihn und wisperte fahrig: „Dann begehe sie einfach, Tove.“ Ich wollte jetzt nur noch eines. Das erleben, was er mit Unachtsamkeit umschrieben hatte. In meinem Bauch kribbelte es, wie bei meinem ersten heimlichen Kuss hinterm Heuschober, den ich vom Lechner Hans mit elf Jahren bekommen hatte. In meinem Unterleib braute sich dafür gerade mindestens so ein Sturm zusammen, welcher an jenem Tag draußen zu toben begann.

Wie ich mein erstes Mal erleben wollte, hatte ich mir schon oft in romantischen Träumereien vorgestellt. Aber plötzlich von zwei Riesenpranken gepackt und inmitten einer Eingangsdiele teilweise entkleidet zu werden, kam in diesen Träumen nie vor. Doch wie zärtlich und einfühlsam die eben noch beinahe rabiat wühlenden Finger wurden, als sie meine Haut ertasteten, das konnte ich mir nie erträumen. Denn in dem Augenblick begann meine sinnliche und heiß ersehnte Fantasie, tatsächlich Wirklichkeit zu werden.

In meiner Trance hatte ich nicht mitbekommen, wie und wann wir in Toves Schlafzimmer und auf dem Bett gelandet waren. Alles, was ich spürte, war die Hitze in meinem Schoß und das Verlangen, seine Haut auf meiner Haut zu fühlen.

Sollte ich ihm sagen, dass ich noch nie etwas mit einem Mann hatte? Würde er vorsichtig genug sein? Oder würde er mich aus seinem Bett und vom Schiff schmeißen, weil ich noch Jungfrau war? Weil ich bis eben noch nicht den Mann gefunden hatte, mit dem ich diesen Schritt gehen wollte? „Sei bitte vorsichtig“, hörte ich mich in dem Moment bibbern, als er mir den Saum des Slips über die Hüften schob.

Er war behutsam und unendlich zärtlich. Draußen hatte das Unwetter seine ganze Gefahr entfaltet. Mein Unwetter in mir näherte sich ebenfalls dem Höhepunkt. Ich spürte ihn. Der, der sich gefühlvoll den Weg in mich bahnte, auf jede meiner Bewegungen achtete und mich mitnahm auf die Reise zu der Lust, die ich an dem Tag erleben wollte. Ich wusste um das feste Stückchen Haut, welches ich opfern musste, um mit meinem Mann vereinigt zu sein. Es tat mir weh, wenn ich es bei meinen heimlichen Spielen mit mir selbst aus Versehen zu stark dehnte.

Aber wie sollte er das Hindernis überwinden, wenn ich dadurch Schmerzen erleiden würde? Ich fühlte mich dennoch unendlich leicht, als würde ich von tausenden Faltern gleichzeitig getragen werden. Um es mir und ihm einfacher zu machen, schlang ich meine Beine um seinen Po und presste ihn an und auch in mich. Ein kurzer stechender Schmerz aus meiner Mitte, ein Aufeinanderkrachen unserer Becken.

In meinem Kopf drehte es sich für Momente und ich klammerte mich an Tove fest. Obwohl es leicht brannte, genoss ich diesen ersten Moment, das erste Mal kein Plastik in mir zu haben und küsste meinen Eroberer und Liebling. Tove lag versteift auf mir und rührte sich nicht. Sekunden später entspannte ich mich und dann war er es, der mich lustvoll auf unseren ersten gemeinsamen Höhenflug mitgenommen hatte.


Ich lasse die Blätter sinken und schaue über die Reling. Stella liegt am Stegkopf in der Sonne. „Sinnlich“, denke ich und kurz darauf wird mir eine vertraute Hand auf die Schulter gelegt.

„Und?“, fragt Venja, zieht sich den anderen Stuhl dicht heran und nimmt neben mir Platz. Ihren Kopf an meine Schulter gelehnt sagt sie leise: „So habe ich es an dem entscheidenden Wochenende erlebt, Tove.“

Ich kraule ihre Wange und denke noch einmal kurz nach. „Würdest du das genau so in einem Buch veröffentlichen? Den intimen Moment?“

Sie nickt und sagt leise: „Ich hätte am liebsten jedes Gefühl jeder einzelnen Faser meines Körpers aufgeschrieben, als ich mit dir das erste Mal geschlafen habe, mein liebevoller Mann.“ – „Doch das, was du gelesen hast, ist die Version, wie sie von Verlagen noch eben akzeptiert wird.“ – „Dabei würde ich gern beschrieben haben, wie deine Eichelspitze meine Schamlippen berührte und du sehr zart in mich gedrungen bist. Mein Blut war schon mächtig in Wallung. Als ich dich aber vor lauter Geilheit in mich gedrückt habe, weil ich deinen harten Schwanz endlich ganz in mir spüren wollte, begann es, zu kochen. Ich möchte am liebsten auch aufschreiben, dass ich mich selbst mit deinem Prügel entjungfert habe. Denn du bist der Mann gewesen, mit dem ich meine Unschuld verlieren und auch mein Leben teilen wollte.

Als der Schmerz nachgelassen hatte und du angefangen hast, dich in und auf mir zu bewegen, würde ich auch gern in viele Worte fassen. Erste sanfte Stöße. Dein Schamhaar an meinem Kitzler, leichte Schläge auf sein empfindliches Ende, wenn unsere Mitten zusammenstießen. Dass ich dir mein Becken bei jedem heftiger werdenden Stoß in mich entgegengekippt habe, weil dein Riesenschwanz mich so herrlich ausfüllte. Auch das kann ich nicht schreiben.

Dein Keuchen, mein stoßweiser Atem. Verzehrende Küsse. Dein Schweiß, der sich mit meinem auf unseren Bäuchen vermengte. Dein betörender Duft nach Mann. Nach Sex. Die Gier in deinen Augen, eine Jungfrau haben zu wollen. Den Triumph in deinem Gesicht, sie erobert und defloriert zu haben. Sie unter dir zu spüren und in ihr aufgehen zu wollen. Deine Lust zu hören.

Als du mir plötzlich deinen Schwanz noch tiefer reingedrückt hast, weil du gekommen bist. Mit jedem Schub deines Saftes immer wieder Anlauf genommen hast. Dabei dein orgastisches Stöhnen zu hören.

Mein Wimmern zu Anfang, weil es so geil war, von dir ausgefüllt zu sein. Mich im Takt unserer pulsierenden Leiber von dir nageln zu lassen. Mit jedem Stoß von dir schrie ich lauter und lauter.

Unser animalischer Geruch nach dem Sex. Wie ich von deinem Achselschweiß nicht genug bekommen konnte, weil du aus jeder Pore nach erotischem Trieb geduftet hast. Oder du ständig an meiner immer noch pochenden Möse schnuppern, lecken und fingern wolltest, weil ich auch meinen Saft verspritzt hatte und dadurch schön glitschig war. Erst einen und zum Schluss vier Finger in meinem Loch zu haben und von dir noch einmal zum Orgasmus gebracht zu werden.

Meine Neugier, deinen halbschlaffen Penis anzufassen und ihn in den Mund zu nehmen. Dein Sperma, vermischt mit meinem Muschisaft, zu schmecken. Selbst herauszufinden, wie dermaßen geil ich das finde, an deinem Schwanz zu lecken und zu saugen, und dich damit rasant auf Touren zu bekommen.

Und wie du mich nach meiner Vorarbeit von hinten genommen hast, weil du drauf stehst und noch tiefer in mich ficken kannst. Aber du hast auch eine Tür bei mir aufgestoßen. Denn so spüre ich dich noch viel intensiver. Erst recht, wenn du mit einem Finger an meinem Po spielst und mit der anderen Hand meinen Kitzler walkst oder sogar zart rein kneifst.“ – „Doch das würde niemals jemand drucken.“

Ich bin regelrecht geladen, so wild hat sie mich gemacht. Nur zu gern würde ich sie jetzt auf der Stelle vernaschen. Aber ihre Akustik, wenn sie kommt, und der Platz, auf dem wir sitzen, sind nicht kompatibel für Sexspiele im Hafen. Auf der Nordsee hingegen eine schnelle Nummer im Stehen mitten auf der Terrasse zu schieben, ist dafür kein Problem. Zenzi fährt mit arretiertem Ruder stoisch geradeaus.

Ein glasiger Blick aus ihren gletscherblauen Augen sieht mich an. Wortlos stehen wir auf und sind Sekunden später im Schlafzimmer. Sie fingert nervös an meiner Hose, ich habe ihr das Nachthemd hochgeschoben und will es ihr ausziehen. Fordernd bugsiert sie mich zum Bett und drückt mich rücklings darauf. Venja kniet sich mit weit gespreizten Beinen über mein Gesicht und presst mir ihre nasse Spalte auf Mund und Nase. Meine Eichel verschwindet im selben Moment zwischen ihren Lippen. Saugend und züngelnd bearbeitet sie mein Ende, massiert meinen Schaft mit einer Hand und sabbert dabei, wie ein Baby.

Ich labe mich an ihrem süßen Saft, ziehe ihren harten Kirschkern zwischen meine Lippen und presse sie immer wieder kurz aufeinander. Kurz bevor sie kommt, höre ich auf und stecke drei Finger auf einmal bis zum Anschlag in ihren Kanal. Ihren Damm leckend, mit zwei Fingern den Kitzler mal zart kneifend und dann wiederum nur sanft streichelnd gönne ich ihr den Zieleinlauf.

Kurz nach ihr schieße ich meine Ladung in ihren Schlund. Bis zum letzten Tropfen saugt und lutscht sie an mir. Wir sind erledigt. Seit Monaten haben wir mal wieder den schnellen und hemmungslosen Sex in einer unserer Spielvarianten gelebt.

„Wenn du das schreibst, was du mir vorhin erzählt hast, musst du ein Pseudonym haben“, schnaufe ich, noch immer leicht matt, als sie mit ihrem Kopf auf meiner Brust ruht und ich ihre Seite streichle. „Venja, das werden geile Wichsvorlagen für Frauen und Männer“, komme ich nicht umhin, meine Gedanken auszusprechen und habe plötzlich eine spontane Idee. „Dann gründen wir eben unseren eigenen Verlag, mein Schatz“, sage ich fest überzeugt. „Seit wann lässt du dich von anderen Meinungen in ein Korsett quetschen?“, frage ich einfach mal etwas provokant weiter. „Liebling, du hast dein Tal verlassen, weil du auf keinen Fall einen Viehbauern heiraten wolltest. Du hast deinem Opa Paroli geboten. Dein Leben hast du selbstbestimmt in die Hand genommen. Und plötzlich duckst du dich vor einem Verlag?“

Sie lacht mich beinahe aus. „Ja klar. Wir gründen mal eben auf die Schnelle einen eigenen Verlag. Und wie willst du das anstellen? Was kostet das wohl? Wie willst du Werbung machen oder Bücher im Handel platzieren? Dazu der ganze rechtliche Apparat. Wie soll der überhaupt heißen?“

Still schmunzle ich in mich hinein. Meinen Köder scheint sie zumindest schon mal gewittert zu haben. „Zum Beispiel einfach VTV für Venja-Thorvaldsen-Verlag. Oder als Ovation an deinen Opa Fritz-Hansen-Verlag. Außerdem, stell dir mal vor, wir könnten unbekannte Autoren gewinnen, die keinen Erfolg bei den Marktführern haben. Weil sie Nischen bedienen, die sich in den Augen der Großen nicht lohnen. Papa würde uns sicher dabei helfen, was das Rechtliche anbelangt. Du bist doch seine heimliche und heiß geliebte Tochter!“, lache ich breit und drücke ihr einen Kuss in die Haare. „Denk drüber nach, mein Schatz. Ich mache uns jetzt Frühstück. Ein Ei?“

* * *

Venja rappelt sich unter dem Sonnensegel auf und nimmt Luisa auf den Arm. „Meine Kleine, wir sind tatsächlich bald gar“, lacht sie und kommt zu mir ins Steuerhaus. „Bringst du sie bitte eben runter? Es schnuppert auf dem Schiff gerade nicht nur leicht nach Diesel“, wird mir meine Tochter in den Arm gelegt. „Ich übernehme solange“, greift sie nach dem Steuerrad und kickt mich angedeutet mit einem kleinen Hüftschwung beiseite.

„Eine nackte Meerjungfrau am Ruder!“, lache ich keck. „Wenn das andere sehen würden, gäbe es eine Massenkarambolage auf der weiten Nordsee.“

„Vor zehn Jahren vielleicht“, kontert sie feixend. „Als ich noch 24 und knackig war. Dreieinhalb Schwangerschaften hinterlassen ihre Spuren.“

„Stimmt, du Kegelrobbe!“, griene ich frech zurück. „Für deine Länge von 186 Zentimetern und einer Figur, die unschwanger teilweise sogar in Klamottengröße 40 passt, bist du eindeutig zu fett. Ganz meine Meinung! Ich sollte dich tatsächlich gegen eine Jüngere und vor allen Dingen Schlankere austauschen!“ – „Komm Luisa. Mama hat einen Sonnenstich“, wende ich mich mit der Kleinen ab und bin auf dem Weg in ihr Zimmer.

„Heiß“, nuschelt sie und hängt schläfrig matt auf meiner Schulter.

„Ja. Heiß“, bestätige ich und genieße es, nach Stunden mal wieder runter in den kühleren Rumpf zu kommen. Im Vorbeigehen sehe ich Till bäuchlings auf seinem Bett liegen und völlig vertieft lesen. Fritz hat es sich vor seinem Bett auf dem Boden bequem gemacht und liest in Venjas neuem Werk. Meine Tochter fröstelt es im ersten Moment, als ich sie ganz ausziehe. Die Windel ist voll und alles an ihr klebrig und verschwitzt. Ihr Körper glüht immer noch. Ich kann von Glück reden, dass wir in unserer Familie recht unerschrocken gegenüber kühleren Wassertemperaturen sind. Also greife ich zu einem Handtuch und weiche es unter kaltem Wasser ein. Als ich Luisa damit ihren Leib umwickle, zieht sie trotzdem die Luft ein und versteift Beine und Arme. Mit großen Augen und offenem Mund starrt sie mich an. „KALT!“, schreit sie auf und will weinen. Sofort schneide ich meine Grimassen und kitzle sie ein wenig. Umgehend quiekt sie fröhlich und strampelt wieder. Mit einem weiteren kalten nassen Handtuch wasche ich sie gründlich und tupfe die Haut nur eben halbwegs trocken. Kurz darauf hat sie eine frische Windel um und neuen Body an. „Wieder gut?“, frage ich und schmiege sie gegen meine Schulter.

„Gut“, schnurrt sie. „Da. Stella. Eia.“

Unsere mittlerweile leicht betagte Bordhündin hat sich in der Kneipe unterm Tresen auf der Metallplatte zum Bierkeller verkrochen. Nicht der leiseste, aber definitiv kühlste Platz. Sie lässt Luisas patschen auf ihrem Fell teilnahmslos über sich ergehen, hebt, als wir aufstehen, nur halb den Kopf, legt ihn wieder hin und schnauft einmal tief. Ihr scheint die Hitze auch ordentlich zuzusetzen. Sie ist nur für Minuten oben, verrichtet ihr Geschäft auf dem kleinen Rasen, den wir ihr als Hundeklo am Heck eingerichtet haben, säuft Wasser und ward anschließend für weitere Stunden nicht mehr gesehen.

„Na? Soll ich dich auch einmal kalt abbrausen?“, biete ich meiner Frau an, als wir wieder oben sind und Luisa im Wohnzimmer auf dem Boden herumkrabbelt.

„Nee. Aber ich hab dafür gerade eine ganz andere Idee“, ist sie leicht hibbelig. „Das Wasser ist auflaufend und hat herrlich erfrischende 22 Grad. Das zumindest meldet unser Außenfühler einen Meter unter Wasser. Es kann also nichts passieren. Ich würde gern eine Runde ums Schiff schwimmen. Können wir hinter Hennestrand ankern?“

Allein der Gedanke an diese Abkühlung löst bei mir volle Zustimmung aus. „Beste Idee seit Stunden!“, lobe ich Venja und gebe ihr einen Kuss. Dabei streichle ich sanft über die Kugel und lasse meine Finger für Momente in ihrem kleinen Kraushaardelta bis zum Ansatz ihrer wundervollen Schamlippen spielen.

„Lustmolch“, raunt sie in meinen Mund. „Nachher, im Bett, kannst du gern noch den Höhlenforscher spielen.“

„Oder so“, nuschle ich gegen ihre Lippen und ziehe meine Hand zurück. „Dann sammle du gleich mal die Jungs ein. Sie werden bestimmt mitkommen wollen. Ich warte bei Luisa, bis du wieder draußen bist.“

Eine knappe Stunde später sind wir wieder unterwegs. Das Bordleben ist merklich lebhafter. Uns allen hat die nasskühle Erfrischung geholfen. Selbst Stella ist begeistert von der Badeplattform ins Wasser gesprungen und für ein paar Minuten herumgepaddelt. Ich bin zum Schluss mit unserer kleinen Wasserratte rein. Allein nur das Wort schwimmen löst jedes Mal kreischende Begeisterungsstürme bei Luisa aus. Überhaupt liebt sie alles, was mit Wasser zu tun hat. Wenn wir im Hafen liegen und es regnet in Strömen, will sie unbedingt raus und im Modder rummatschen.

Venja hat sich ein leichtes Leinenkleid übergestreift und mich am Ruder abgelöst. Es wird langsam Zeit, ans Abendbrot für die Kinder zu denken. Noch gut zwei Stunden dauert es, bis wir bei Thyborøn in den Limfjorden einbiegen werden. Dann will ich die Rasselbande nicht mehr an Deck haben. Wir kennen weder das Revier noch seine Tücken.

Nachdem wir kurz vor 21 Uhr in Lemvig am Kai direkt beim Restaurant Luna festgemacht haben, herrscht im Keller längst Totenstille. Selbst Fritz, der erst noch unbedingt mit mir aufs Stadtfest wollte, ist sogar freiwillig in die Koje.

Ich bin immer wieder erstaunt, wie gut doch Johannis- und Eisenkraut in der richtigen Dosis für eine gesunde Müdigkeit auch bei Kindern sorgen. Meine Frau raunzt mir „Du bist ein Arschlochpapa!“ zu, als ich wieder oben bin. Sie hat natürlich mitbekommen, was ich unserem kleinen Dreigestirn als Tee zum Abendbrot gegeben habe.

Maja ist an Bord gekommen und wird zwei Nächte vorn im Hochzeitszimmer schlafen. Danach reist sie mit Hilke direkt voraus zur nächsten Station, nach Aalborg. Im dortigen Segelklub sind zwei Lesungen an einem Tag vorgesehen. Die Karten für beide Veranstaltungen waren innerhalb weniger Minuten ausverkauft.

Ab da wird uns Maja für den Rest der Reise auf dem Schiff begleiten. Hilke reist per Bahn voraus. Sie hat als Kind traumatische Erfahrungen auf dem Wasser gemacht. Auf unserem Programm stehen noch Grenå und Helsingborg mit je zwei und Kopenhagen mit insgesamt sieben Terminen an acht Tagen. Doch wir wollen unseren Kindern auch Eltern sein und werden einen Tag mit ihnen im Tivoli verbringen. Aber nicht an irgendeinem Tag, sondern genau an Fritz‘ neuntem Geburtstag. Am sechsten Juni.

* * * Der Abend des nächsten Tages * * *

„Guten Abend, herzlich willkommen und vielen Dank, dass ihr uns so freundlich empfangen habt“, erstrahlt Venjas Stimme auf deutsch aus den Lautsprechern. „Wie im Programm vorab schon zu lesen war, werde ich heute einen kleinen Querschnitt aus allen vier bisher erschienenen Büchern und dem neuesten fünften Band vortragen. Dafür habe ich mir Passagen herausgesucht, die inhaltlich gut ineinandergreifen. Zwischendurch möchte ich kurze Pausen einlegen. Meine Kinder und ich“, und sie legt ihre linke Hand auf ihre kleine Kugel, „wir brauchen ab und zu ein paar Schritte Bewegung.“

Ein leises Lachen huscht verhalten durch den Raum und sofort ist es wieder still.

„Und weil ich gerade von Kindern gesprochen habe, möchte ich an dieser Stelle auch gleich mit dem ersten Erlebnisbericht daran anknüpfen. Die Geschichte entstammt dem zweiten Buch und ist überschrieben mit Der eilige Jonathan.“

Die Beleuchtung im Saal wird gedimmt und Venja von einem Spot ins rechte Licht gesetzt.

Sie lehnt sich in den von uns mitgebrachten Ohrensessel zurück, schlägt das Buch auf und beginnt mit ihrer sanften Stimme, vorzulesen. „Es war wieder einmal typisch. Wir befuhren den Elbe-Lübeck-Kanal und präzise kurz vor Erreichen der Schleuse beim Ort Witzeeze musste mein Mann dringend auf die Toilette. ‚Wieso?‘, blubberte er mich auf meine Nachfrage mit fast schon gelben Augen an. ‚Du hast doch alle Scheine!‘, ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen und mich mit meiner allerersten Schleusenfahrt allein. Was blieb mir daher anderes übrig, als das theoretisch erworbene Wissen auf seine Praxistauglichkeit hin zu überprüfen.

Doch mir war nicht nur das Wetter, sondern auch das Glück an diesem herrlichen Sommertag im Juli hold. Trotz der Sextanerblase meines Mannes. Die Ampeln der Schleuse standen auf Grün und ich konnte einfahren. Alles gelang mir, wie aus dem Lehrbuch.

Selbst unser zweijähriger Sohn Fritz schien die für mich gänzlich neue Situation begriffen zu haben. Er stand stocksteif auf seinem für ihn angefertigten Podest im Steuerhaus, stierte durch die Frontscheibe und sagte kein Wort. Minuten später tuckerte Zenzi gemächlich unserem ersten Etappenziel Mölln entgegen. Als mein mehrfach erleichterter Mann wieder auftauchte, war alles vorbei.

‚Du hast nichts verpasst‘, erklärte ich lapidar, übergab ihm schweigend das Ruder und griff zum allzeit bereitliegenden Fotoapparat.

Doch Tove hielt mich noch für Sekunden davon ab, nach draußen zu gehen. Sein gütiger und liebevoller Blick ruhte auf mir. Wortlos zog er mich vorsichtig in seinen Arm und küsste meine Wange. Als er mich freigab, strich seine Hand zärtlich über meinen dicken Babybauch. Seine Liebe und Fürsorge hatten in dem Moment meinen kleinen Unmut durch die offene Steuerbordtür hinausfliegen lassen.

Glück und Neugier vermischten sich in mir zu einem unbeschreiblichen Gefühl. Ich erlebte meine allererste Kanalfahrt überhaupt. Bisher kannte ich nur unseren Liegeplatz auf der Ilmenau, die Elbe von dort bis zur Mündung und ein wenig vom Blanken Hans, der Nordsee. An dieser Stelle muss ich trotzdem unumwunden zugeben, die Kanäle durch den Hamburger Hafen und seine Industrie haben selbst bei Dunst oder sogar Regen durchaus ihren Reiz.

Aber das, was an diesem Tag auf mich einstürmte, ließ meinen Zeigefinger vom Auslöser überhaupt nicht mehr wegkommen. Direkt an einem Schilfgürtel nahe der Schleuse standen ein paar Graureiher und sahen uns beinahe schon stoisch gelangweilt hinterher. Unser Schiff hatte ihnen aber wohl einige Mahlzeiten vor die Schnäbel gescheucht, weil sie plötzlich alle ihre Köpfe ins Wasser steckten und mit zappelnden Fängen wieder hervorkamen. Keine hundert Meter weiter saß ein junges Pärchen eng umschlungen und sich inniglich küssend auf einer Bank im Schatten einer großen Buche. Die Fahrräder der beiden sahen eilig ins hohe Gras geworfen aus. Wieder nur eine kurze Zeit später kroch das Bächlein Steinau unter uralten Bäumen hervor und ergoss seinen flüssigen Beitrag in den Kanal.

An anderer Stelle tat sich ein bei Radfahrern und Wanderern offensichtlich sehr beliebter und belebter Rastplatz auf. Intensiver Geruch nach glühender Holzkohle, Bratwurst und Grillfleisch wehte auch einen kleinen Hunger zu uns über das Wasser.

Hinter der nächsten Kanalbiegung war auf einer Wiese ein Halbrund aus Zelten aufgebaut. Unübersehbar darüber ein Transparent gespannt. Stefans last night in Freedom. Eine Gruppe junger Männer hatte ganz offensichtlich ihren Spaß. Der Bräutigam war unschwer an einem pinken Hasenkostüm zu erkennen. Mir tat er direkt ein wenig leid. Hämmernde Technomusik und ein ansehnlicher Stapel an Bierkisten ließ erahnen, wie deren Nacht werden würde. Doch ein paar schienen uns bemerkt und wohl auch erkannt zu haben, weil sie aufsprangen und winkend zum Ufer gelaufen kamen. ‚ZENZI! ZENZI! ZENZI! ZENZI!‘, grölten sie im wummernden Takt des Basses und schwenkten hoch erhoben ihre Arme. Mein Mann antwortete über das Schiffshorn und die Gruppe johlte.

Nur zwei Meilen weiter ergab sich wieder ein gänzlich anders Bild. Geduckte Fachwerkhäuser mit vermoosten Reetdächern standen unter knorrigen Kastanien und schauten mit ihren kleinen weißen Sprossenfenstern verschüchtert zu uns. Gegenüber erblühten Blumenmeere in prächtigen Parkanlagen.

Wir passierten Campingplätze, auf denen das pralle Leben tobte; und Golfplätze, auf denen die vermeintlich elitäre Oberschicht unter sich sein wollte. Doch Übermut tut selten gut. Und gestelzte Arroganz noch weniger. An den Wagen, die sauber in Reih und Glied geparkt standen, ließ sich ablesen, wer hier sein Handycap verbessern wollte, oder aber Geschäfte zu tätigen pflegte. Während unserer Vorbeifahrt an einem der Greens plumpsten wenigstens drei dieser teuren weißen Kugeln dicht neben uns ins Wasser. Wahrscheinlich könnte man vom Grund des Kanals an dieser Stelle ziemlich viel Geld heraufholen.

In Höhe Grambek war ich dann mal an der Reihe, das stille Örtchen aufzusuchen. Denn das Kind in meinem Bauch hatte wohl Langeweile und trat und trampelte munter vor sich hin. Leider auch immer wieder sehr zielsicher auf meine Blase. Wahrscheinlich würde es ein weiterer Junge werden, der mir jetzt schon mal klarmachen wollte, wer hier der Herr im Haus ist. Seit Tagen hatte ich daher einen erhöhten Verbrauch an Unterhosen, den ich nur durch regelmäßiges Waschen kompensieren konnte.

Aber ich war nicht allein mit meinem Unterhosenproblem. Denn zum gleichen Zeitpunkt hatte unser zweijähriger Sohn stolz verkündet, er wäre jetzt groß und bräuchte keine Windel mehr. Wie groß aber Groß sein kann, wenn man nicht rechtzeitig losläuft, war sein Lernprozess. Und unserer auch. Denn es bedurfte vieler tröstender Worte, Ermutigungen, Streicheleinheiten und Liebkosungen, wenn mal wieder etwas sprichwörtlich in die Hose gegangen war.“

Ein kurzer Szenenapplaus und viele wissend nickende Gesichter unterbrechen meine Frau. Sie greift eben zum Wasserglas auf dem antiken Beistelltisch und trinkt einen Schluck.

„Vielen Dank. Wie ich sehe und höre, bin ich mit diesen Erfahrungen doch nicht allein“, sagt sie bescheiden, lächelt und liest weiter. „Aber irgendwas fühlte sich gerade irgendwie anders an. Es zog so merkwürdig. Mal in den Seiten, mal über die Bauchdecke. Gut. In drei Wochen würde der errechnete Termin und wir dann in Lübeck sein. Dort wollte ich entbinden.

Doch ich mass dem Ganzen vorerst nicht mehr allzu viel Beachtung bei, weil ich auch mit Fritz schon vier Wochen vor seiner Geburt ab und an dieses Ziehen verspürt hatte. Mein Körper übte wohl nur mal wieder für den großen Tag und seinen Auftritt.

Zurück an Deck ging meine Fotoorgie sofort weiter. Garantiert hatte ich aber die wertvollsten Motive im wahrsten Sinne des Wortes ausgesessen.“

Ein leises Schmunzeln wabert durch den Raum und es ist wieder still.

„Mein Mann holte mich nach ein paar weiteren Bildern mit einer kleinen unscheinbaren Geste zu sich“, liest sie weiter. „Ich kannte seinen Blick nur zu gut. Er sorgte sich wieder einmal um mich. Schon bei Fritz‘ Schwangerschaft hatte er mir sein gegebenes Versprechen vor dem Altar mehr als übererfüllt.

Mein Mann, mein Tove, er erkennt und sieht mich nämlich nicht nur in meiner Gestalt als Menschen. Auch ich sehe ihn. Weil wir die seltene Gabe in uns tragen, Auren oder Seelen tatsächlich in verschiedenen Farben klar wahrnehmen zu können.

An jenem Tag zog er mich ein weiteres Mal sanft in seinen kräftigen Arm und streichelte mir sehr zart über die Seite, welche besonders schmerzte. Wir sahen uns nur an. Mehr brauchte es nicht, um uns zu verständigen. Dann aber sagte er: ‚Du leuchtest gelb und immer wieder pinkorange um deine Hüften. Was ist mit dir?‘

Was sollte ich ihm darauf antworten? Ich wusste es doch selbst nicht. Fritz hatte vorher geübt, also schloss ich daraus, unser zweites Kind würde es ebenso tun. ‚Keine Ahnung, Tove‘, konnte ich nur sagen. ‚Was soll schon sein? Drei Wochen noch.‘

Bis zum Liegeplatz neben dem Ruderclub waren es nur noch ein paar Minuten. Die Einfahrt in den Ziegelsee am Fuße der Möllner Altstadt konnte ich nicht genießen. Ich beschäftigte mich bereits damit, gleich anzulegen, und befestigte Fender, die ich an der Bordwand herunterließ. Obwohl ich hochschwanger war, schmiss ich kurz darauf Taue, fing Seile auf und verzurrte unsere Zenzi.

Der Nachmittag war mildwarm und ich wollte mich nach dieser aufregenden Tour für eine halbe Stunde auf dem Oberdeck hinlegen, bevor ich mich innerlich auf den Abend vorbereiten wollte. Die Lesung war seit Wochen ausverkauft und ich wollte mich noch mental darauf einstellen. Körperlich ging es mir ja wieder gut. Anscheinend hatten die Bewegungen und Kraftanstrengungen mein Kind zur Ruhe gebracht.

Aber das waren offensichtlich zu viele ‚ich wollte‘. Denn von einer Minute auf die andere wollte jemand anderes was von mir. Und zwar, dass ich mich möglichst schnell hinlege, vorher noch die Klamotten vom Leib bekomme und ihm oder ihr den Weg frei mache, damit sie oder er endlich aus der Enge herauskommen konnte. Von Null auf Hundert bekam ich ohne Vorwarnung Presswehen.

Aus dem Augenwinkel sah ich noch Tove aufs Deck stürmen. Sekunden später spürte ich seine Hände in meinem Schritt. Irgendwas zerriss dort. Und es wurde plötzlich nass unter meinem Po.

Die brutalen Schmerzen waren kaum auszuhalten. Ich schrie mir die Seele aus dem Leib. Woher so plötzlich eine ältere Frau und ein junger Mann kamen, war mir ein Rätsel.

‚Ich bin Arzt. Sie ist Krankenschwester‘. Das war alles, was ich aktiv mitbekommen hatte. Danach horchte ich nur noch in mich hinein. Bei Fritz hatte ich über sechs Stunden in den Wehen gelegen. Wer aber auch immer jetzt aus mir heraus wollte, der oder die hatte es verdammt eilig. Diese letzten klaren Gedanken hatte ich noch. Und dann fühlte ich nur noch, was mein Körper veranstaltete und wie ich ihm irgendwie dabei mithelfen konnte.

Ganz nah spürte ich dafür meinen Mann. Und auch meinen Sohn. Fritz hatte meine Hand in seine kleinen Hände genommen und ganz fest gedrückt. Tove unterstützte mich ebenfalls.

Waren es fünf oder sechs dieser brachialen Wehen gewesen? Oder doch zwanzig? Oder nur drei? Hätte man mich danach befragt, ich hätte garantiert gelogen.

Erst als mit einem Male ein quäkiger Schrei irgendwo zwischen meinen Beinen sich Gehör verschaffte, kam meine Umgebung wieder in Bildern zurück. Fritz hielt immer noch meine Hand. Mein Mann hatte mich immer noch im Arm und hockte weiterhin hinter mir. Ich trug immer noch das helle Sommerkleid aus gewirktem Leinen.

Das Gesicht des jungen Mannes beugte sich über mich. ‚Herzlichen Glückwunsch. Ein gesunder Junge.‘

Irgendwer zog und zerrte plötzlich an mir. So zumindest kam es mir vor. Dann war ich nackt. Das kleine schreiende Wesen, blutverschmiert, blau angelaufen und total zerknittert, wurde mir auf den Bauch gelegt. Und doch war es für mich das schönste Baby der Welt. Wir hatten unser zweites Kind bekommen. Gesund, stimmgewaltig und ganz offensichtlich sehr hungrig nach dieser Anstrengung. Denn wie das mit meiner Brust funktionierte, hatte er sofort raus, als ich ihn anlegte.

Tove und ich hatten erst vorgestern über einen möglichen Namen nachgedacht. Es sollte entweder eine Johanna oder ein Jonathan werden.

‚Johanna passt irgendwie nicht‘, sah ich in das Gesicht meines Mannes, der sich von oben über mich beugte.

‚Du hast erst deinen Spaß mit mir, ich kotze wochenlang, hab anschließend die ganze Arbeit damit und jetzt machst du noch Witze‘, konterte ich, über mich selbst verwundert, recht schlagfertig. ‚Dann heißt er eben Gabi‘, sagte ich kindstrotzig.“

Das Publikum lacht schallend und springt applaudierend auf. Momente der absoluten Ausgelassenheit erfüllen den Raum.

Flüsternd liest meine Frau weiter, als alle wieder sitzen und gebannt darauf warten, dass es endlich weitergeht. „Toves Freudentränen tropften auf mein Gesicht und vermischten sich mit meinem Seelenwasser aus Erleichterung, nachlassendem Schmerz und nicht zu beschreibender Freude. ‚Mein Goldschatz, meine Allerliebste. Mein Gottesgeschenk. Ich liebe dich. – Du hast unserem Kind deine ganze Fürsorge und Liebe geschenkt. Fast neun Monate. Meine wunderbare und einzigartige Bergziege, ich hab dich wahnsinnig doll lieb.‘ Er beugte sich ganz tief herunter und küsste mich hauchzart.

‚Ich hätte noch einen Vorschlag‘, sagte ich nach dieser zärtlichen Liebkosung. ‚Sollen wir ihn nicht einfach Till nennen? Wir sind doch in Mölln. Der voreilige Mann wollte ja nicht mehr bis Lübeck warten.‘

‚Ja‘, nickte Tove und gab mir noch einen weichen Kuss. ‚Ein schöner Einfall von dir, Venja. Nennen wir ihn Till. Till Jonathan Thorvaldsen.‘

Ich gab mein stummes Einverständnis und streichelte meinen Sohn unablässig. Beinahe verblasste Erinnerungen kamen in klaren Bildern wieder zurück, als ich an die Geburt unseres ersten Sohnes dachte. Tove hatte die spontane Idee gehabt, unserem Fritz als zweiten Namen Michael zu geben; ihm auf diese Weise einen himmlischen Beschützer auf seinem Lebensweg mitzugeben.

‚Till Jonathan Thorvaldsen‘, raunte Tove und legte seine große Hand mit auf unser Baby. ‚Mein Sohn, du bist von ganzem Herzen willkommen in unserer Familie.‘

Von irgendwo wurde ein großes flauschiges Badetuch über mir und meinem Sohn ausgebreitet. Ganz weit entfernt meinte ich, für einen Moment Applaus und Freudenrufe vernommen zu haben. Aber nur meine Söhne und mein Mann waren wirklich da. Unser Baby hatte in der Tat einen Mordshunger. Kaum war die eine Seite leer, ertönte sein Protestschrei, bis ich ihm auch meine andere Brust angeboten hatte.

Auch mein Fritz war die ganze Zeit bei mir geblieben und hatte mich beobachtet. Mit federleichter Zartheit hob er das Badetuch ein wenig an, beugte sich äußerst vorsichtig über seinen Bruder und gab ihm einen gehauchten Kuss auf die Wange. ‚Till‘, flüsterte er und küsste ihn abermals. ‚Hej. Hej då. Veljeni(1). Ich bin Fritz.’

Obwohl ich immer noch irgendwo zwischen Geburt und der Rückkehr zu meinem eigenen Leben schwebte, hatte ich eines mitbekommen. Fritz schnappte nicht nur deutsche Worte auf. Wenn Tove und ich schwedisch oder auch finnisch miteinander sprachen, schien er immer mit einem Ohr zuzuhören. Mein Mann hatte es sich sowieso zur Angewohnheit gemacht, fast ausschließlich in seinen beiden Muttersprachen bunt gemischt mit ihm zu sprechen. So bekam jeder von uns hier und da neue Wörter mit.

Mein Dialekt hingegen musste nicht weitergegeben werden. Es fiel mir sogar recht leicht, meine Mundart, abzulegen. Ich war aus freien Stücken eine Niedersächsin mit Hamburger Einschlag geworden. Die Verbindungen in meine alte Heimat hatte ich selbst gekappt. Und ich wollte es auch so. Dafür waren schwedisch und finnisch meine nächsten Ziele geworden.

Fließend schwedisch würde ich erreichen können. Auch der Sing-Sang in dieser Sprache fiel mir recht leicht, weil die Österreicher ihre Aussprache ebenfalls über mehrere Tonlagen leiern. Finnisch hingegen war eine wirklich harte Nuss, die ich aber auf jeden Fall knacken wollte. Von einem Partitiv hatte ich noch nie etwas gehört. Geschweige denn, ihn benutzt. Eine Sprache zu sprechen, die keine Geschlechter, aber dafür 15 Fälle kennt, muss man lieben. Oder eben den Mann, der zur Hälfte aus diesem Land hervorgegangen ist.

Und diesen verrückten Mann, den grobschlächtigen rothaarigen Wikinger, den zärtlichsten Verführer und liebevollsten Vater der Welt, den hatte ich auf meiner Irrfahrt durch einen garantiert nicht zufälligen Zufall gefunden.

Uns wurde an jenem siebenten Julitag unser zweiter Sohn anvertraut. Mein Mann hatte sich auch zu einem Teil bei der Vergabe von Äußerlichkeiten durchgesetzt. Till kam mit feuerroten Kringellocken zur Welt. Die Krause hatte ich ihm demnach wohl mitgegeben. Als ich meinem kleinen Sohn zum ersten Mal aufmerksam ins Gesicht schaute, meinte ich sogar für den Hauch einer Sekunde, meinen Opa Fritz in seinen Augenwinkeln erkannt zu haben.

Stören würde es mich nicht. Auch wenn ich meinen wahren Opa nie gekannte habe. Mein Mann hatte ganz bestimmt recht, wenn er behauptete: Ihr hättet euch geliebt. Als Enkelin und Opa. Ich glaube meinem Mann.

Denn mein Opa hatte sich mir immer dann gezeigt, wenn ich nicht mehr wusste, was ich denken, fühlen oder machen soll. Mein Opa hat mich auf eine unerklärliche Weise erst in die Nähe von Hamburg geführt und dann auf sein Boot gelockt.

Dabei sind es doch eigentlich wir Frauen, die die Männer locken.“ – „Vielen Dank bis hier. Ich brauche jetzt eben eine kleine Pause.“

* * * Nach der Vorlesung * * *

Zufrieden liegt meine Frau auf dem Sofa und lächelt mich an.

„Was hast du?“, bin ich ein wenig neugierig geworden, weil sie heute irgendwie anders ist, als nach sonstigen Lesungen.

„Dich“, haucht sie und streckt mir ihre Hand entgegen, die ich ergreife. „Tove, ich habe dich. Meinen Wikinger. Ausgerechnet heute ist mir dieses wunderbare Glück wieder einmal ganz bewusst vor Augen geführt geworden. Bald sind wir auch schon zehn Jahre verheiratet. Du hast mich erobert. Du hast mich genommen. Du hast mich zur Frau gemacht; und auch zu deiner Frau.

Für meinen Traum, als er Wirklichkeit wurde und Ernte einbrachte, hast du deinen Beruf aufgegeben. Aus Liebe zu mir. Aus Liebe zu unseren Kindern. Paps und du, ihr habt große Anstrengungen unternommen, mir bei der Verwirklichung meines Traums zu helfen. Mama war nicht nur anfangs, sondern ist auch heute noch immer für mich da, wenn ich sie brauche.

Wir haben unseren eigenen Verlag mit Druckerei gegründet. Ich bin Kalles Rat gefolgt und habe mich zur professionellen Fotografin weitergebildet. Auf Anregung seiner Frau entstand unser Fotostudio mit Labor. Zu uns kommen Menschen, die mit ihren Wünschen bei anderen abgelehnt werden. Es gibt mittlerweile sechs Bildbände von spärlich oder sogar unbekleideten Menschen in nahezu allen erdenklichen verliebten und leicht erotischen Posen, ohne pornografisch zu sein.

Sie zeigen Pärchen und immer öfter auch Familien. Oder werdende Familien, so wie uns damals. Durch unsere Anstrengungen haben wir sogar schon Literaturpreise erhalten. Einige meiner Fotografien wurden mit Auszeichnungen bedacht.

Ich schreibe meine Texte und du verfeinerst sie, wie ein Gewürz das Essen. Mal kernig derb erotisch und an anderer Stelle sensibel Intimität andeutend. Aber niemals die Schwelle der Hemmungslosigkeit übertretend. Unsere Lektoren schleifen den Rohling anschließend so lange, bis er ein Diamant ist.“ – „Schatz, komm zu mir.“ – „Aber erst durch Onkel Fritz, durch meinen wirklichen Opa, und durch dich, ist mir dieses wunderbare zweite Leben geschenkt worden.“ – „Tove, du bist nicht nur mein Fels in der Brandung, auf den ich mich retten kann. Du bist auch mein Gipfelkreuz, zu dem ich einen steilen und steinigen Weg mühevoll hinaufkraxeln musste.“ – „Mein Schatz, was ich für dich empfinde, für unsere Kinder, für das werdende Leben in meinem Bauch, dafür habe ich einfach keine angemessenen Worte. Ich habe nur ein Bescheidenes: Ich liebe dich.“

Seit einiger Zeit lasse ich es wieder einmal zu, meine Frau, zu sehen. Ihr Kranz ist glutrot. Um Haupt und Schultern leuchtet sie beinahe strahlend weiß. Unsere Kinder werden von kräftigem Blau beschützt. „Du bist einmalig“, stammle ich unbeholfen und verfalle mit ihr in einen zarten sinnlichen Kuss.

* * * Zwanzig Tage später * * *

Unsere offizielle Tour ist vorbei. Venjas fünftes Buch über gefahrene Törns, kleinen Erlebnissen am Rande und dem prallen Leben bei uns an Bord hat alle Erwartungen weit übertroffen. Obwohl es noch nicht übersetzt worden ist, wurden uns in Dänemark die deutschen Exemplare nur so aus den Händen gerissen. Für zwei ungeplante Lesungen in Rostock hatte ich schnell noch eine Nachlieferung kommen lassen. Doch auch sie reichte nur für den ersten Abend.

Nun tuckern wir gemütlich entlang der Küste in Richtung Lübeck. Es ist unsere letzte Fahrt mit Zenzi im Urzustand. Ab Oktober liegt sie in der Werft und wird von Grund auf erneuert. Übermorgen bekommt Venja noch einmal die Chance, den von ihr wortreich beschriebenen und bebilderten Elbe-Lübeck-Kanal in all seinen Facetten des Hochsommers genießen zu können.

Wie sich aber unser Landleben für geschätzte acht Monate in einem gemieteten Haus darstellt, möchte ich noch weit von mir schieben. Nächste Woche wollen wir uns drei Objekte in Ruhe anschauen und schnellstmöglich auch zu einer Entscheidung kommen. Leider konnten wir bisher kein Schiff auftreiben, auf dem wir als Familie, wenn auch beengter, die Zeit überdauern.

Ein Telefonanruf holt mich aus meinen Gedanken. Die Lübecker Nummer sagt mir überhaupt nichts. „Tove Thorvaldsen.“

„Christian Schröter“, meldet sich eine mir unbekannte Tiefbassstimme. „Ich habe Ihre Nummer von Janne Ziegler bekommen. Ihrem Hafenmeister. Er ist mein Schwager. Ich bin mit seiner Schwester Thekla verheiratet. Von ihm habe ich gehört, Sie suchen für einige Zeit einen Unterschlupf auf dem Wasser. Ist das noch aktuell?“

„Eigentlich fast nicht mehr“, denke ich und antworte: „Wenn es sehr kurzfristig umsetzbar ist, schon. Aber wir brauchen was für wenigstens acht Monate. Mit der Option, zu verkürzen oder auch zu verlängern. Es muss zwingend kindgerecht sein, auch für Krabbelkinder und Säuglinge, sehr pflegeleicht und möglichst mindestens vier Zimmer haben. Unsere ältere Bordhündin darf ebenfalls kein Problem darstellen. Ausreichende Motorisierung ist unersetzlich. Meine Frau hat den SHS, ich besitze seit fünf Jahren das Kapitänspatent. Das wären unsere Minimalanforderungen.“

„Sportlich“, höre ich ihn nach ein paar Sekunden sagen. „Okay. Ich könnte einmal 96 Quadratmeter auf zwei Ebenen anbieten. Motorisierung 85 PS Diesel Innenborder. Im Pontonrumpf drei Zimmer plus Bad, Oberdeck mit Schlafzimmer und Minibad sowie kombiniertem Wohn-Esszimmer und offener Küche. Eingang und Gäste-WC am Heck. Steuerstand erhöht im Bug und dahinter über die Aufbauten eine Dachterrasse. Strebenreling mit Drahtzug rundum, den wir von unserer Seite aus entsprechend für Kleinstkinder mit Nylongeflecht …“

„Vergessen Sie Nylongeflecht“, gehe ich sofort dazwischen. „Kinderfinger knibbeln alles kaputt, was sie erreichen können. Entweder Segeltuch oder feste Plane als Umspannung. Optik spielt dabei keine übergeordnete Rolle. Wie lautet denn die andere Alternative?“, lasse ich meinen Gesprächspartner unmissverständlich wissen, ihm genau zugehört zu haben.

Wieder ist es Sekunden still, bis er antwortet: „Das andere Boot hat 21 Quadratmeter mehr und unten ein weiteres Zimmer. Einteilung oben ähnlich dem Ersten. Auf dem ist der Steuerstand achtern ebenfalls leicht erhöht. Aber dafür hat es rundum Kameras, die beim Manövrieren helfen. Der Motor hat 118 PS und reicht für gemächliche Fahrt von knapp 5 Knoten. Beide Schiffe …“

„Wo und wann kann ich die besichtigen? Sind die winterfest?“, unterbreche ich ihn erneut.

„Sofern kein Eisgang ist, schon. Die Isolierung ist ausgelegt bis minus zehn Grad. Besichtigt werden können beide in Lübeck. Alte Trave, an der Lachswehr“, kommt diesmal seine Antwort umgehend. „Segeltuch kann von unserer Seite aus um die Reling gespannt werden. Wollen Sie noch die Preise wissen?“

„Nö“, sage ich und habe mich bereits für das größere Schiff entschieden. „Wenn das passt, passt das. Wir sind aktuell Höhe Boltenhagen und gehen hier auch gleich vor Reede. Morgen, gegen späten Nachmittag, können wir in Lübeck anlegen. Sind Gastlieger frei? Unser Schiff ist ein alter Kümo mit knapp 30 Metern. Wir brauchen also Platz.“

„Hab ich bis dahin organisiert. Ist Landstrom erforderlich? Oder Schwarzwasser zu entsorgen?“, kommen seine Fragen.

„Landstrom ja. Normales Netz reicht. Drehstrom wäre optimal. Ansonsten nichts. Dann bis morgen, Chrischan. Ich bin Tove und meine Frau Venja. Die Kinder stelle ich dir morgen vor.“

„Danke, Tove. Bis morgen. Gute Fahrt dann.“

Kaum ist das Gespräch vorbei, sehe ich das neugierige Gesicht meiner Frau im Niedergang auftauchen. „Mit wem hast du denn eben so aufgekratzt telefoniert?“

„Mit Christian Schröter“, antworte ich korrekt und verlangsame die Fahrt. Ungerührt geht mein Blick zum Echolot. Nur sechs Meter bis zum Grund. „Feierabend für heute“, verkünde ich weiter und starte den Stromdiesel. „Wir gehen für die Nacht vor Anker.“

„Wer ist denn dieser Chrischan Schröter?“, fragt sie so norddeutsch, als wäre sie in Kiel oder Husum geboren worden.

„Janne sien Swager. Van de lütten Thekla ehr Keerl. Sien Süster“, antworte ich auf Platt. „De hebben Hausboote. De kann man hüern. Janne hett em da wat tosnackt.“

„Hausboote?“, wiederholt Venja mit weit aufgerissenen Augen. „Sagst du mir gerade, dass wir vielleicht doch nicht Rasen mähen und Unkraut jäten müssen? Oder Blumen gießen und Beete harken?“

„Jo, mien lütten Deern“, bestätige ich breit grinsend. „Er hat noch eins mit fünf Zimmern und Platz für Stella. Das andere ist zu klein. Wenn das für uns passt, würde ich das auch gleich als Tender mitnehmen wollen. Die Schleusen sind kein Problem. Dann können unsere beiden großen Racker und Stella auch schon mal Tuchfühlung aufnehmen. Was meinst du?“

„OH TOVE!“, stöhnt meine Frau erleichtert und ein wenig flehend. „Lass es auch nur ungefähr passend sein. Ich mach uns das schon gemütlich. Aber ein Haus, das nicht schaukelt und plätschert, ist doch kein Haus. Ich kann mittlerweile auf dem Land gar nicht mehr richtig schlafen. Bei Mama und Papa liege ich fast immer die ganze Nacht wach und warte, dass sich endlich was bewegt.“ – „Nein! Nicht das, was du jetzt denkst!“, motzt sie mich lieblich an und muss schallend lachen.

Zenzi liegt ruhig im Wasser und ich löse den Anker. Rasselnd donnert die Kette aus dem Kasten. Ich gebe ihr noch ein paar Meter und bremse hydraulisch das Nachlaufen. Um unser Schiff fest zu verankern, ziehe ich langsam rückwärts. Es ruckt kurz und der Anker hat gegriffen. Mit einem letzten Ruckeln verstummt die Hauptmaschine.

„Was denke ich denn?“, frage ich provozierend und grinse sie an. „Etwa an deine kleine Möse, die tropfnass ist, sobald du nur ans Ficken denkst? Oder deinen geilen Arsch, wenn ich dich hart von hinten in dein Fotzenloch bumse und einen Megadildo in deine runzlige Rosette schiebe?“, rezitiere ich eine der Passagen, die sie unter dem Pseudonym Liane van der Lusten veröffentlich hatte.

Seit Venja nämlich auch ihre Leidenschaft für hocherotische Literatur, bis hin zur derb pornografischen Auslebung entdeckt hat, probieren wir im Rahmen unserer Möglichkeiten alles aus, was machbar ist und den Lustschmerz befriedigt. Wir kennen unseren schmalen Grat zwischen Verlangen und Tabu.

„Nein! Davon, dass du mir deinen Hammer in den Schlund schiebst, während ich auf dem Rücken liege und gleichzeitig von deiner geballten Faust in meinem schleimigen Kanal zum Orgasmustsunami geboxt werde“, retourniert sie ebenfalls mit einem Zitat. – „Wie groß ist das Hausboot?“

Unweigerlich muss ich lachen. „Frau! Du machst mich fertig!“ – „Soll 117 Quadratmeter haben. Zwar immer noch recht eng, aber besser als Rasen mähen.“

„Eng ist geil“, feixt sie wissend um ihre wirklich enge Möse, die ich ganz besonders liebe. Obwohl sie schon drei Kinder entbunden hat, ist Venjas Scheide nach nur ein paar Tagen wieder so, als wäre sie noch Jungfrau.

„Gut jetzt!“, halte ich lachend dagegen. „Eng ist sicherlich geil. Aber im Bezug aufs Wohnen müssen wir das klar vom Sex trennen. Also, wir haben auf zwei Ebenen weniger Platz, als allein im Bauch der Zenzi. Und das für geplante acht Monate. In ungefähr fünf Wochen wird unsere Familie noch einmal anwachsen. Um gleich zwei kleine Personen. Ich habe nach unserer Rückkehr die OP vor mir, damit unser Liebesleben nicht ständig weitere Kinder hervorbringt. Danach bin ich erst mal für zwei Wochen außer Gefecht. Es bleibt daher alles an dir hängen. Auch wenn Maja noch im Hintergrund ist. – Wie hat sie sich eigentlich entschieden? Nimmt sie die Stelle in Buxtehude denn nun an?“

„Ja“, antwortet meine Frau deutlich leiser und kommt ganz in den Steuerstand hoch. „Sie will auch aus dem Tal der Tränen weg. Ihr Freund betrügt sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Und davon gibt es wohl reichlich. Ich habe übrigens auch längere Zeit nachgedacht. Graz werde ich schon in diesem Jahr aus dem Tourplan streichen. Du hattest recht mit deiner Ahnung. Wie wir nicht nur von Maja wissen, hasst mich meine ehemalige Familie mittlerweile dafür, wenn ich dort in der Öffentlichkeit auftrete. Und ich will mir weder den privaten Stress noch die Strapazen der Reise zumuten. Immerhin haben wir bald fünf Kinder, die auch ihre Anforderungen an uns und speziell an mich haben. Außerdem müssen wir uns Gedanken machen, was mit meiner Schwester wird, wenn sie tatsächlich Haus und Hof verlässt. So völlig allein können wir sie ja mit den Kindern nicht lassen.“

Scheiße! Karin und die Kinder hatte ich erfolgreich verdrängt. Bis eben gerade. „Und wie willst du helfen? In welchem Umfang?“, frage ich erst einmal ganz vorsichtig nach.

„Das weiß ich auch noch nicht“, winkt Venja ab. „Zunächst mal muss sie überhaupt vom Hof lebend runterkommen. Wenn ihr Mann was von den Plänen erfährt, ist sie eigentlich schon tot. Und das ganze Dorf sieht garantiert stillschweigend weg. Sogar Mutter. Auf keinen Fall hole ich sie nach Hamburg oder in die Nähe. Unser Verhältnis war noch nie gut. Als Kinder nicht und später noch weniger. Und nach meinem Weggang ist es im Prinzip abgebrochen. Dass ich mich nun bereit erkläre, ihr zu helfen, hat sie hauptsächlich Maja und dir zu verdanken. Ich hätte ihr auf die Briefe nicht geantwortet. Doch sei es drum.“ – „Weswegen ich aber eigentlich hier bin: Was willst du zum Abendbrot essen? Ich hab noch ein paar Scheiben Rollbraten in der Truhe. Dauert keine 20 Minuten. Ein paar Happen vom geräucherten Dorsch sind auch noch da. Oder das, was alle vorgesetzt bekommen. Tagessuppe mit Brokkoli und gerupftem Spiegelei nach Käpten Toves Art. Anschließend Brot, Aufschnitt und Käse.“

„Der Fisch hält sich nicht ewig. Wenn keiner will, esse ich den“, biete ich mich an und weiß doch um meinen ärgsten Nahrungskonkurrenten Fritz, wenn es um Dorsch geht. – „Trotzdem. Nur noch einen kurzen Satz zu Karin. Menschen können sich auch ändern. Falls ihr Plan gelingt, dürfen wir sie nicht einfach abweisen, sondern sollten sie erst einmal anhören. Und nun schicke mir bitte Fritz hoch. Ich will mit ihm die Route für morgen festlegen. Außerdem will ich schon mal sehen, ob er unsere Position allein bestimmen kann.“

* * * Zwei Wochen später * * *

Meine OP ist gut verlaufen. Aber ich bin nur eingeschränkt belastbar. Schmerzen und leichter Schwindel bei körperlichen Anstrengungen zeigen mir deutlich meine Grenzen auf. Doch das sei normal, so versicherte mir der Arzt. Wir haben mit der Familienplanung durch meine Sterilisation endgültig abgeschlossen.

Venja hat den Stall voller Kinder, den sie sich seit frühester Kindheit schon immer erträumt hat.

Mein geheimer Wunsch, einmal eine große Familie zu haben, wurde ebenso erfüllt. Auch wenn ich als Einzelkind aufgewachsen bin und eigentlich nichts vermisst habe, ein Bruder oder eine Schwester fehlt mir bis heute. Ich habe niemanden in meinem Alter aus meiner Familie, mit dem ich mein persönliches Glück teilen kann; oder im Gegenzug daran teilnehmen darf. Lasse ich den Gedanken aber länger in mir reifen, so habe ich doch alles bekommen, was ich mir seit je her gewünscht habe. Eine Frau, die von meinen Eltern geliebt wird und als ihre heimliche Tochter in unserer Familie ihren Platz gefunden hat.

Drei gesunde Kinder zu haben, ist ein Geschenk. Dass aus unserem letzten Wunschkind gleich Zwei entstehen würden, hat uns schon überrascht. Weil in unseren Familien keine Zwillinge bekannt sind. Aber wer weiß, was uns aus grauer Vorzeit von Zenzi und Fritz oder meinen Großeltern mitgegeben worden ist.

Unser vorübergehendes Zuhause ist dank Majas ausgeprägtem Sinn für familiäre Gemütlichkeit wohnlich hergerichtet. Denn Venja ist seit vorgestern im Krankenhaus. Erste stärkere Wehenaktivitäten haben uns zu diesem Schritt bewogen.

Auch Zenzi liegt schon auf dem Trockenen. Die Werft bei uns im Hafen hat vorhergehende Arbeiten früher abgeschlossen und den Anschlussauftrag verloren, weil der Eigner sein Schiff mit besoffenem Kopf auf der Süderelbe an einem Schubleichter geschrottet hat. Nun ist er nicht nur sein Motorboot und den Lappen los, sondern auch noch seine Frau, die unfreiwillig ein Bad genommen hatte und beinahe sogar ertrunken wäre. So zumindest berichtet die Sensationspresse und schlachtet seitdem den Vorfall aufreißerisch aus. Er selbst soll sogar in U-Haft sitzen.

Bei uns an Bord ist das Leben natürlich beengter und somit auch etwas hitziger. Sich mal eben aus dem Weg gehen klappt hier nicht mehr ganz so gut. Aber in drei Tagen beginnt wieder die Schule. Dann werden unsere beiden Heißsporne zumindest den Vormittag über mit anderen Dingen beschäftigt sein. Nachmittags sind Hausaufgaben dran und danach werde ich sie mit Ideen für die Ausstaffierung ihrer Zimmer auseinanderhalten können.

Fritz habe ich außerdem die Aufgabe gegeben, von allen geplanten Kinderzimmern im Rumpf Modelle im Maßstab 1:25 zu bauen. Ich kenne nicht nur seine Akribie, sondern auch den Spaß an dieser Arbeit, den er entwickelt. Wenn wir wieder umgezogen sind, werden wir beide die Zenzi als Fernsteuermodell bauen. Das habe ich ihm versprochen. Einen geeigneten Rumpf aus Aluminium bekommen wir von der Werft. Den haben sie mir schon zugesichert. Auch dieses Modell wird im selben Maßstab gebaut und nicht ganz 120 Zentimeter Länge haben.

Meine Frau hatte schon vor Monaten die einstige Werft der Zenzi angeschrieben und von dort tatsächlich noch alte Baupläne bekommen, anhand derer sie den Rumpf neu aufgeteilt hat. Ihre Argumentation war kurz, knapp und einleuchtend. „Tove, wir haben bald fünf Kinder. Die bleiben aber nicht ewig klein. Jedes braucht irgendwann das eigene Reich. Größe spielt dabei keine übergeordnete Rolle. Wichtig ist nur, ein eigenes Zimmer zu haben. Glaube mir. Ich musste mir immer ein Zimmer teilen. Darum lass mich jetzt bitte in Ruhe nachdenken und für die Zukunft gleich mit. Später kannst du deine Einwände vortragen.“

Wie sie das sagte: „Einwände vortragen“. Als wenn ich vor Gericht meine eigene Verteidigung vertreten müsste. Aber ich hatte zum Glück aus einer mir unbekannten Vorahnung heraus einfach mal meinen Mund gehalten. Obwohl ich gern ob dieser Bemerkung gestichelt hätte. Das mir präsentierte Ergebnis machte mich nämlich für Minuten sprachlos.

Luisa ist vorhin mit Maja zum Einkauf und die Jungs spielen draußen. Stella liegt zu meinen Füßen und genießt ganz offensichtlich ein wenig die Ruhe. Ich nehme mir die Zeit und gehe ein letztes Mal den Umbauplan durch. Noch besteht die Möglichkeit, einzugreifen, weil Zenzi aktuell noch entkernt wird.

Doch meine Frau hat meiner Meinung nach ganze Arbeit geleistet. Ich sitze über den Zeichnungen und gehe sie ein weiteres Mal durch, um eventuelle letzte Feinheiten herauszukitzeln. Aber sie hat an alles gedacht. Bisher ist mir nämlich nichts aufgefallen.

Vom Schiffsboden bis zur Terrasse soll alles neu entstehen. Aber dafür muss unser Schiff sich einer sehr großen Operation unterziehen. Fast mittig wird Zenzi aufgetrennt und auf genau 40 Meter Gesamtlänge vergrößert. Parallel zu diesen Arbeiten erhält sie vorn direkt hinter dem Kettenkasten ein Bugstrahlruder, um ihre Manövrierfähigkeit deutlich zu erhöhen. Daran anschließen wird eine recht großzügige Sauna mit Ruhebereich und Aufgang zum nächsten Deck, auf dem die Kinderzimmer entstehen. Im ehemaligen Bierkeller werden je eine begehbare Kühl- und Frostzelle installiert. Dazu auch gleich an den Bordwänden fest angeschweißte Regalstützen mit verstellbaren Einlegeböden. Eine weitere Regalreihe kommt außerdem auch noch mittschiffs. Diese Vorgaben stammen von meiner Frau, weil sie auf längeren Touren gern alles an Bord hat und nicht ständig im nächsten Hafen erst einkaufen gehen will. Den an den Bierkeller angrenzenden Tankraum lasse ich lediglich sanieren, eine zweite Schottwand einziehen und auf den aktuellen Stand der Umweltauflagen bringen.

Auf die Idee, das Schiff verlängern zu lassen, sind wir fast zeitgleich gekommen. Venjas Plan sieht schließlich für jedes Kind ein eigenes Zimmer vor. Wir entwickelten daraus den Gedanken, wenn später mal die Kinder von Bord sind, vielleicht zahlende Gäste mitzunehmen. Die ursprünglich angedachten Kinderzimmer wären dafür aber zu klein, wenn zwei Leute darin schlafen und auch ein wenig wohnen sollen. Die vorherige Größe eines Zimmers von 4,5 mal 3,5 Metern quer zum Schiff wird somit auf 4,5 mal 6 Meter erweitert. Für Tageslicht sorgen pro Kajüte vier oder fünf Bullaugen; das müssen wir noch festlegen. Zu erreichen sind die Zimmer wieder über den Gang an Backbord, welcher mit gut 140 Zentimetern Breite etwas großzügiger als vorher ausfällt.

Meine weitsichtige Frau hat auch zu meinem anfänglichen Erstaunen jedem Kind ein eigenes Bad eingerichtet. Ihre Argumentation leuchtet mir immer noch ein. „Lass alle Kinder erst mal schulpflichtig sein. Dann hab ich morgens absolut keine Lust auf Stress, weil das Bad besetzt ist. Denk dabei speziell an Fritz. Der liest deinen Spiegel oder seine Astronomiezeitschrift gern auf dem Klo. – Außerdem, wenn wir tatsächlich Passagiere mitnehmen, wollen die sich nicht mit anderen ein Bad teilen.“

Im Bug entsteht selbstverständlich wieder das Hochzeitszimmer, allerdings in etwas verkleinerter Form. Wobei meine Eltern schon angekündigt haben, im kommenden Jahr einen Törn mit uns mitfahren zu wollen. Auf diese Weise haben wir auch Rangeleien um den begehrten Platz ausgeschlossen. Unsere Kinder kabbeln sich nämlich gern darum, wer denn mal wieder vorn schlafen darf, wenn Zenzi unterwegs ist. Nicht nur meine Frau liebt es, sich vom Wasser und dem Diesel in den Schlaf plätschern und brummen zu lassen.

Zwischen Hochzeits- und erstem Kinderzimmer entsteht quer zum Schiff ein neuer freier Bereich, von welchem es runter zur Sauna und auch weiter nach oben aufs Vordeck führt. Wenn wir ankern, besteht so die Möglichkeit, direkt aus der Hitze ins Wasser springen zu können. Wie wir das mit einer Badeleiter letztendlich gestalten, ist noch in der Entwicklung. Es soll ja auch hübsch aussehen und nicht irgendwie drangebastelt.

Weil der neue Schiffsdiesel in seinen Abmessungen deutlich kleiner ausfällt, können wir die Trennwand zum Maschinenraum um einiges weiter nach achtern verlegen und schaffen auf diese Weise ausreichend Platz für den Zugang zum Keller.

Auf dem Hauptdeck sind ebenso große Veränderungen geplant. Irgendwo auf dem Vordeck möchte meine Frau eine Inspirationsinsel, wie sie es bezeichnet. Was sie sich darunter genau vorstellt, weiß sie selbst noch nicht. Am liebsten würde sie irgendwas mit dem alten Schiffspropeller arrangieren.

Unser Kräuterarrangement wird sich ebenso erweitern können, weil auch der Wintergarten entsprechend vergrößert und mit Sicherheitsglas ausgerüstet wird. Den Kamin versetzen wir von Steuerbord nach mittschiffs. Zukünftig können wir ihn sowohl vom Wintergarten als auch aus dem Wohnzimmer befeuern.

Auch die Stahlwand zwischen diesen beiden Räumen weicht einer Glasfront, weil wir auf diese Weise deutlich mehr Licht in das bisher recht düstere Wohnzimmer bekommen. Meine heiß geliebte Kneipe wird als Bindeglied zwischen Ess- und Wohnzimmer ihren Platz finden und in angepasster Form aus ihren alten Bestandteilen neu errichtet.

Aufgrund des Platzgewinns von über 12 Metern Länge endet auch die Ära der Enge in der Kombüse. Statt neun Quadratmetern haben wir zukünftig 24 davon. Da sie erst ganz am Ende der Umbaumaßnahme dran ist, bleibt uns noch viel Zeit, die Einrichtung bis ins letzte Detail auszufeilen.

In der Diele wollen wir, bis auf den Boden, auch den alten Charme erhalten. Die Gästetoilette muss komplett saniert werden. Klo und Waschbecken stammen noch aus Zenzis Baujahr. Wobei wir überlegen, mit Waschbecken und angerostetem Wandspiegel etwas Nostalgie im Raum beizubehalten. Kalle hatte sich das Waschbecken genauer angesehen. Seiner Meinung nach würde man heute für ein Original in diesem Erhaltungszustand auf entsprechenden Märkten locker bis zu 2.000 Euro hinblättern müssen. Er hat angeboten, es in der Werkstatt seines Kumpels tiefenreinigen und neu versiegeln zu lassen. Wobei er meinte, ein paar Abnutzungsspuren sollten erhalten bleiben, damit es weiterhin alt und gebraucht aussieht. Der Kunststoff aus den Jahren sei nahezu unverwüstlich. Eine nachgebaute Rohrarmatur als Wasserkran würde er aus seiner Hobbywerkstatt als Geschenk beisteuern. Als gelernter Sanitärklempner und heutiger Kapitän sollte er das wohl hinbekommen. Um es wirklich alt aussehen zu lassen, würde er sogar den letzten Meter Messingrohr klassisch über Putz verlegen.

Komplett neu gestaltet wird unser Schlafzimmer mit Bad. Hier lasse ich meine Frau sich austoben, weil sie ganz bestimmte Vorstellungen hat. Da wir aber noch nicht die endgültigen Maße vom neuen Ruderhaus kennen, müssen wir uns noch in Geduld üben. Außerdem, und das verdanke ich meiner lieben Venja, habe ich bald eine feste Handarbeitsecke, in der ich die Nähmaschine stehen lassen kann.

Als grundlegende Neuerung werden alle Bordaußenwände von innen gut isoliert. Außerdem erhalten sämtliche Böden in allen Wohnräumen eine neue Tragschicht mit integrierter Fußbodenheizung. Konventionelle Heizkörper wird es zusätzlich nur noch in den Bädern geben.

Im Maschinenraum arbeitet zukünftig eine eigens hierfür installierte Heizung mit zwei mal 200 Litern Heißwasservorrat und permanenter Zirkulation. Trotzdem bleibt noch genügend Platz für die neue Meerwasseraufbereitungsanlage samt Tanks und den unverzichtbaren Stromdiesel.

Beim Schiffsantrieb habe ich mich von einigen Hafenkapitänen beraten lassen. Zukünftig haben wir keine klassische Schiffsschraube mehr, sondern einen modernen Azipod-Antrieb. Hierbei handelt es sich um eine Art Gondel, in der ein kräftiger Elektromotor verbaut ist und direkt den Propeller ansteuert. Außerdem ist diese Gondel um 360 Grad schwenkbar. Mit Unterstützung vom Bugstrahlruder können wir quasi auf dem Teller drehen. Weil wir somit nur noch Energie für den Elektromotor produzieren müssen, fällt die Maschine nicht nur deutlich kleiner aus, sondern verbraucht auch nur noch 15 bis 20 Prozent des alten Antriebs. Der Verlust des Wirkungsgrades bei Direktantrieb ist für uns verkraftbar. Zenzi wird nach neuen Strömungsberechnungen nicht mehr als 13,7 Knoten schaffen. In der Praxis kommen nach Erfahrungswerten 14 oder 14,3 Knoten raus.

Außerdem bekommen wir auf dem Achterdeck einen kräftigeren Kran, der unseren Familienbus bewältigen kann. Wenn sieben Leute mit Hund zusammen irgendwo hinfahren wollen, ist das weder in Venjas Seat Ibiza noch in meinem alten Audi Avant 100 machbar. Trotz der Anschaffungskosten leisten wir uns einen neuen VW-Bus in der Langversion mit Hochdach.

Mein Auto ist bereits ins Nachbardorf verkauft. Ein Bastler hat ihn erstanden und will sich den Wagen bis zur H-Kennzeichenzulassung aufbauen und herrichten. Venjas rote Kiste behalten wir. Gerade dieser Wagen ist für Einkäufe und im Hamburger Stadtverkehr einfach nur ideal.

* * * Vier Tage später * * *

Mitten in der Nacht klingelt mein Handy. Die Klinik ruft an. Während ich annehme bin ich schon aufgestanden und auf dem Weg nach unten zu Maja ins Zimmer. „Thorvaldsen“, hechle ich ins Telefon.

„Anita hier. Tove, Abflug. Die Wehen haben eingesetzt. Deine Frau ist schon im Kreißsaal. Fruchtwasser ist auch schon abgegangen. Aber kein Grund zur Panik. Bei Zwillingen völlig normal. Bis gleich“, hat mich unsere Hebamme in Kenntnis gesetzt und mir einen zusätzlichen Adrenalinschub verpasst.

„Hallo Maja“, mache ich Licht und sie schreckt hoch. „Ich bin gleich weg. Es geht los. Wenn du nicht klarkommst, meine Mutter steht Gewehr bei Fuß. Danke für deine großzügige Unterstützung“, fällt mir zum Glück noch ein und ich rausche die Stufen wieder hoch. Minuten später sitze ich mit einem eilig von der Senseo zubereiteten Coffee-to-Go im Wagen. Die Landstraßen sind beinahe ausgestorben. Auf der Autobahn reiht sich allerdings Laster an Laster mit Ziel Hamburger Hafen. Ich bin erstaunt. Kein Elefantenrennen? Wissen die, warum ich recht zügig unterwegs bin?

Keine halbe Stunde später rolle ich auf den Parkplatz der Klinik und haste auf den Eingang zu. Der ältere Pförtner lächelt freundlich, als ich ihm den Grund meines nächtlichen Erscheinens genannt habe. Wünsche für eine möglichst schnelle und reibungslose Geburt höre ich nur noch mit einem halben Ohr, hebe aber dennoch dankend meine Hand und eile den mir bekannten Weg.

Als ich endlich auf dem Flur der Geburtsabteilung ankomme, tritt Anita zufällig aus einem der Kreißsäle. „Guten Morgen, Papa. Deine Kinder waren schneller. Geh rein. Eines süßer, als das andere“, lacht sie leise und schiebt die Tür wieder ein Stück auf.

Im Schummerlicht sehe ich meine Frau in einem Bett liegen und zwei kleine Wesen in ihren Armen halten. Schleichend trete ich näher. Venja schaut mich an und lächelt matt. „Die beiden hatten das plötzlich so was von eilig“, flüstert sie.

„Wer sind denn Die Beiden?“, frage ich leise und gebe meiner Frau einen kleinen Begrüßungskuss. Obwohl ich es schon lange weiß, möchte ich es von ihr hören.

„Es sind zwei hübsche Mädchen“, flüstert Venja und deutet an, ruhig eines zu mir in die Arme zu holen.

„Wer war denn zuerst da?“, möchte ich wissen und kuschle die Kleine an mich.

„Die bei dir auf dem Arm.“

„Und wer ist wer?“, frage ich weiter. „Habe ich also Caja?“

Venja nickt und verlangt noch einen Kuss. „Caja Noemi und Emmi Tamar“, wispert sie. „Tove, ich bin wahnsinnig glücklich“, schnauft meine Frau und kleine Tränen kullern ihr aus den Augenwinkeln ins verschwitzte Haar. „Du hast wunderbare Namen für unsere Töchter gefunden. Ich liebe dich. Mein rothaariger Wikinger.“

Sanft gebe ich ihr noch einen Kuss und flüstere: „Und ich liebe dich, meine blond gelockte Bergziege.“

„Bergziege?“, höre ich Anita hinter mir fragen. „Du sagst Bergziege zu deiner Frau?“, klingt sie fast ein wenig entrüstet.

„Das habe nicht ich erfunden“, antworte ich leise. „Venja hat ihr erstes Buch mit diesem Titel versehen. Die wundervolle Ahnungslosigkeit einer Bergziege. Seitdem ist das in unserer Familie ihr liebevoller Spitzname und keinesfalls eine Beleidigung.“

„Das Buch ist von dir?“, fragt Anita lauter und reißt die Augen weit auf. „Du bist die Autorin von diesen fünf sagenhaften Büchern? Ich hab die auch als Hörbücher. Die laufen bei mir im Auto rauf und runter, weil ich immer wieder neue Dinge höre, die ich vorher nicht mitbekommen habe“, ist sie völlig begeistert. „Wenn ich die mitbringe, würdest du mir die signieren?“

Bevor ich antworten kann, übernimmt meine Frau. „Sobald Zenzi wieder im Wasser liegt, wirst du zu einer Fahrt auf der Elbe eingeladen. Dann bekommst du eine Widmung an Bord des Schiffes, auf dem ich meinen Mann kennengelernt habe. Wäre das noch besser?“

„Aber … aber … du schnackst doch … wie … wie eine, die … hier geboren ist“, stammelt Anita etwas ratlos und sieht uns abwechselnd mit noch größer werdenden Augen an.

„Das kann wohl sein“, hamburgert meine Frau lang gezogen. „Und doch bin ich gebürtig aus der Steiermark in Österreich“, bemüht sie sich in ihrem Dialekt. „Eine Bergziege eben, die sich in einen Wikinger verliebt hat. Und die vom Wasser auch nicht mehr wegwill, weil sie nicht nur ihre große Liebe hier gefunden hat, sondern Oma und Opa auch noch. Wenn du alle fünf Bücher kennst, weißt du um den Hintergrund, Anita.“

Unsere Hebamme braucht etwas länger, bis sie sich wieder einigermaßen gefangen hat. „Die Einladung nehme ich gerne an. Vielen Dank. Aber jetzt muss ich wissen, wie eure beiden Deerns heißen sollen.“

„Ich habe Caja Noemi. Emmi Tamar liegt bei meiner Frau“, antworte ich blitzschnell.

„Sehr ausgefallene Namen“, sagt sie beeindruckt. „Wer hat sich die ausgedacht?“

„Ausgedacht gar nicht“, antwortet Venja. „Tove hat sich Gedanken gemacht. Caja bedeutet lieb, Emmi steht für groß oder allumfassend. Das sind ihre weltlichen Namen, die wir auch als Rufnamen benutzen werden. Noemi und Tamar sind zwei Frauen aus der Bibel. Alle unsere Kinder haben weltlich-christliche Doppelnamen. Weil wir unsere Kinder als Gottes Geschenke ansehen. Es ist bei weitem nämlich nicht selbstverständlich, fünf gesunde Kinder zu haben.“

Anita nickt und braucht wohl ein wenig, um diese Antwort verinnerlichen zu können. „Ihr habt mich neugierig gemacht“, sagt sie nachdenklich und sichtlich beeindruckt. „Und welche Jungennamen hattet ihr?“

„Elke und Corinna“, frotzelt meine Frau und muss aufpassen, nicht laut loszulachen. „Nein. Natürlich nicht! Gideon Lucas und Niilo David.“

Anita stutzt. „Niilo?“

„Die finnische Kurzform von Nikolaus“, löse ich das Rätsel. „Ich bin ja halb Finne und halb Schwede. Emmi ist schwedisch, Caja finnisch. Unsere anderen drei sind Fritz Michael, nach Opa und Onkel benannt. Till Jonathan ist zu seinem Namen gekommen, weil er drei Wochen vor der Zeit in Mölln geboren wurde. Den Namen unserer Luisa Debora haben wir von der Lichterkönigin Lucia abgewandelt. Die Kleine hat in der Tat ein sonniges Gemüt und ist strahlendes Licht.“

Für Momente tauschen Venja und ich Blicke aus. Anscheinend haben wir es beide im selben Moment bemerkt. Vorsichtig lege ich Caja zu meiner Frau und erfasse Anitas Hand fast automatisch. „Warum denkst du so?“, frage ich halblaut und packe noch fester zu. „Anita, wir haben es in Gottes Hand gelegt. Uns wurden die Kinder geschenkt. Warum zürnst du innerlich mit uns?“

Erschrocken will sie sich befreien, doch ich kann sie festhalten.

„Wir sehen dich, Anita“, wispert meine Frau und reicht ihr die freie Hand. „Hast du die Bücher wirklich gelesen oder gehört?“ – „Dann wüsstest du um unsere Gabe.“

Neben mir leuchtet es dunkellila. Aber ich sage nichts. Venja und ich erkennen die Antwort.

Nur sehr zaghaft schüttelt sie den Kopf und gibt stumm ihre Lüge zu. Ihre Augen füllen sich mit Wasser und sie sackt vor dem Bett auf die Knie. „Ich komme immer nur bis zu dem Kapitel, wo ihr das erste Mal miteinander geschlafen habt. Danach muss ich was anderes hören.“

„Wir sehen die Aura eines Menschen. Andere sagen auch Seele dazu“, lüfte ich unser offenes Geheimnis. „Anita, meine Frau und ich sehen sie sogar bei unseren Kindern. Venja auch bei meinen Eltern, wo ich sie nicht erkennen kann. Blutsverwandte, die älter sind als wir, können wir nicht sehen. Alle anderen Menschen schon, wenn wir es zulassen oder wollen. Wir können es auch ausschalten, wie eine Lampe.“

Ich lasse Anitas Hand los und meine Frau streicht ihr sanft übers Haar. „Du willst gar keine Hebamme mehr sein“, flüstert sie. „Warum quälst du dich? Wieso schaust du jeden neuen Tag zu, wenn andere Frauen Kinder bekommen? Was hindert dich daran, das zu tun, woran dein Herz hängt?“

Behutsam lasse ich mich ebenfalls auf den Boden nieder und hole das heulende Elend in meine Arme. „Höre auf, dich jeden Tag neu zu quälen“, beginne ich leise. „Meine Frau sollte aus einer Tradition heraus mit einem Viehbauern verheiratet werden. Gegen ihren Willen. Nicht nur, weil der Hof hoffnungslos überschuldet ist, sondern weil ihr Großvater es so bestimmt hatte. Doch Venja ist ausgebrochen. Sie ist keine Bäuerin. Meine Frau ist dabei, ihr Kapitänspatent zu machen. Weil das Wasser ihre Bestimmung ist. Sie war einmal Kindergärtnerin. Nun hat sie ihren Kindergarten Zuhause und ihren Beruf dafür aufgegeben. Ich habe früher einmal Webseiten entwickelt. Vom Kleinbetrieb bis hin zu großen Hotelketten. Doch auch ich habe meinen Beruf an den Nagel gehängt. Eben, weil meine Frau ihren Traum gelebt hat. Bücher zu schreiben, die unser Bordleben mit den Erlebnissen unserer Törns bereichern. Störche auf einer Wiese in wortreichen Bildern entstehen lassen und parallel die vollgeschissene Windel in Einklang zu bringen, das ist die hohe Kunst, Welten miteinander zu verschmelzen.“ – „Anita, wage den Sprung. Und selbst wenn du hart aufschlägst und mit einer blutenden Nase zu dir kommst, steh auf, richte dein Krönchen und mach weiter.“

Wie lange wir noch zusammen auf dem Boden gehockt haben, kann ich nicht mehr zeitlich einordnen. Doch eine Gewissheit haben wir gewonnen. Anita schreibt selbst romantische Liebesgeschichten und träumt davon, eines Tages einmal damit Geld verdienen zu können. Ich habe ihr den Eid abgenommen, mir per Mail ihre persönliche Lieblingsgeschichte aus ihrer Feder zu schicken.

* * * Sechs Tage später * * *

Endlich habe ich meine Söhne vom Boot und erfolgreich auf den Weg zur Schule gebracht. Sehe ich Maja an, so macht sie auch drei Kreuze. Nicht nur innerlich.

„Ganz der Papa“, kann sie sich nicht beherrschen und wendet sich lachend ab. Doch auch sie mag Fritz und Till auf eine gewisse Weise.

Vielleicht schon morgen kommt Venja mit den Frischlingen nach Hause. Bis dahin habe ich noch viel zu tun. Im Schlafzimmer warten zwei Babybetten darauf, ausgepackt und zusammengebaut zu werden. Stella hat bereits zwei getragene Babyjacken ausgiebig beschnuppert und eine Nacht drauf geschlafen. So können wir davon ausgehen, dass sie die Neuankömmlinge als Familienmitglieder ansieht.

Maja schafft Ordnung in der Küche und ich räume hinter meinen Jungs her. Luisa macht das, was sie besonders gut und ausdauernd kann, nämlich schlafen. Um sie herum könnte die Welt untergehen. Die kleine Maus verpennt alles. Ich kann sogar mit dem Staubsauger bei ihr im Zimmer herumwirbeln, ohne sie zu wecken. Das Geheimnis möchte ich gern einmal erfahren.

Gerade beseitige ich letzte Kampfspuren des Frühstücks vom Boden, als ich aus dem Augenwinkel eine hagere Frau und vier Kinder ausmache, die sich suchend umsehen. Mir rutscht das Herz nicht nur in die Hose, sondern durch alle Etagen des Hausboots bis ins Wasser. Ich höre sogar, wie es plumpsend eintaucht. „Scheiße“, fluche ich leider zu laut und alarmiere damit Maja.

„Was?“, kommt sie ins Wohnzimmer gerauscht.

Ich nicke nur in Richtung der kleinen Gruppe. Mehr braucht es nicht.

„Karin!“, bringt sie nach Sekunden der Schockstarre geröchelt heraus. „Wie sieht die denn aus?!“, kann sie sich nicht beherrschen und stürmt den Suchenden entgegen.

Stella hat Witterung bekommen und macht das, wofür sie sich verantwortlich fühlt. Bis zum Ende der Gangway ist es ihr Revier. Trotz ihres Alters weiß sie sehr genau, wie sie ungebetene Gäste auf Abstand hält. Tiefkehlig knurren und Zähne zeigen. Der Golden Retriever hat in solchen Momenten absolute Sendepause.

„Stella! Down!“, höre ich Maja rufen, doch unsere Bordhündin denkt gar nicht daran, dem Befehl zu folgen. Im Gegenteil. In halb geduckter Haltung nähert sie sich schleichend und wird deutlicher.

Erstes aggressives Bellen holt mich auf den Plan. „Stella! Come here! Down and stay!“ Wie vom Blitz getroffen, dreht sie um und liegt platt zu meinen Füßen. Doch ihre Augen sind konzentriert nur auf die Eindringlinge gerichtet.

„Sie ist abgerichtet und verteidigt ihr Territorium“, höre ich Maja erklärend sagen, bevor sie Karin um den Hals fällt.

Etwa 15 Minuten später sitzt eine abgekämpfte Gruppe von Menschen im Wohnzimmer und ist dankbar, einen heißen Kakao bekommen zu haben. Nur Stella macht mir Sorgen. Sie liegt wachsam und leise knurrend im einzigen Durchgang. Ich lasse meine Hundedame ihren Job machen. Auch wenn dadurch unser Besuch noch mehr eingeschüchtert wird. Tiere nehmen ihre Umwelt anders wahr und haben einen untrügerischen Instinkt für Gefahren.

Ein fremdes Motorengeräusch vom Parkplatz erweckt sogar meine Aufmerksamkeit. Stella springt auf und rennt giftig bellend zur Tür. In den Augen meines Besuchs ist blanke Angst zu erkennen. Anscheinend kennen sie das Geräusch ebenfalls sehr genau. „Da die Treppe runter! Am Ende des Flures Tür auf! Rein! Tür zu! Und Schnauze halten!“, grolle ich heiser und folge unserem Hund.

Stella veranstaltet hinter der noch geschlossenen Tür ein Specktakel von mir bisher unbekanntem Ausmaß. Ein mir fremder Mann ist schon auf dem Steg zum Schiff. Sein grimmiger Blick und die geballten Fäuste sehen nach Krawall aus. Wir könnten ebenbürtige Gegner sein, doch ich habe absolut keine Lust auf eine Schlägerei. Mit einem Ruck öffne ich die Tür und Stella stürmt los, wie von einem Katapult beschleunigt. Nur ein paar Sätze und sie springt ihn bellend und geifernd an. Der Typ ist offensichtlich nicht nur überrascht, sondern auch total überfordert, taumelt rückwärts und stolpert. Kurz darauf liegt er auf dem Rücken. Aus meiner Warte kann ich nur erkennen, dass Stella wohl ihre Reißzähne an seiner Kehle haben könnte. Denn er liegt regungslos auf den Planken des Stegs und atmet anscheinend nur sehr flach, um keine weitere Aggression gegen sich aufzubringen.

„Come here! Down!“, befehle ich und sie folgt. „Sie kennt auch finale Kommandos!“, rufe ich einfach mal nur so, um den mir Unbekannten länger liegen zu lassen und mich ihm relativ sicher nähern zu können. Von oben herab sehe ich auf ihn runter und frage: „Wer sind Sie? Was wollen Sie?“

Seine Gestik ist mir zu ungenau und ich rufe: „Stella! Here! Down and stay!“ Sie reagiert prompt und liegt wie elektrisiert geladen neben mir. – „Also?“, wiederhole ich sehr entspannt, weil unsere Bordhündin wohl nichts lieber täte, als diesen Kerl auseinanderzunehmen. „Was willst du hier?“ – „Oder soll ich dich von Stella befragen lassen?“

Er hebt in Zeitlupe die Hände. „Ich will … wollte … nur… meine Familie soll hier sein … will …“

„Vergiss alles, was du noch sagen wolltest!“, presche ich gereizt dazwischen und Stella steht augenblicklich zu Allem bereit wieder neben mir. „Du stehst jetzt nur noch ganz langsam auf und gehst zu deinem Wagen“, befehle ich. „Ganz langsam“, betone ich besonders und lege meine Hand an Stellas Nacken. „Unsere Hündin reagiert sehr empfindlich“, gebe ich ihm ruhig zu verstehen. „Und wie du selbst erkannt hast, fragt sie nicht, wenn meine Befehle kommen. Sie hat alle Zähne und weiß, was sie damit anstellen kann.“

Von einer Sekunde auf die andere springt der Kerl plötzlich auf und will mich packen. Doch ich kann seine Hände in einem ersten Versuch abwehren und einen Schritt rückwärts machen. Stella zögert dafür überhaupt nicht. Mit lang gestrecktem Hals verbeißt sie sich in seinem Oberschenkel und schüttelt ihren Kopf, als ob sie ein Stück heraus reißen wollte, lässt von ihm ab und weicht seiner Hand aus, die zum Schlag ausgeholt hat.

Schreiend vor Schmerz geht er wieder zu Boden und krümmt sich. Die Blutflecken auf der Jeans werden schnell größer. Er greift mit beiden Händen um seinen Schenkel. Stella schießt noch einmal vor und beißt ihm ins Gesicht. Eine tief klaffende Fleischwunde an seiner Wange ist das Ergebnis. Aus dem Reflex heraus will er zuschlagen. Aber unsere agile Hündin fängt den Schlag mit ihrem Maul ab und verbeißt sich für Augenblicke auch noch in seiner Hand. Danach legt sie sich außerhalb seiner Reichweite platt hin. Als würde sie abwarten, bis er verendet ist und sie ihn in Ruhe fressen kann. Gesicht und Hand von dem Typen sehen übel zugerichtet aus.

Dermaßen aggressiv habe ich Stella noch nie erlebt. Aber ganz offensichtlich hat sie nur ihre Aufgabe wahrgenommen. Nämlich die, mich zu beschützen. Ich habe keine Angst vor ihr. Aber mein Respekt ist sprunghaft gestiegen.

Hinter mir vernehme ich Majas aufgeregte Stimme. Mehr nicht. Wie viele Minuten vergehen, bis Polizei und Notarzt eintreffen, kann ich nicht abschätzen. Der Typ jedenfalls ist nur noch mit sich und seinen Verletzungen beschäftigt. Stella muss ich sehr kraftvoll davon überzeugen, nicht das zu tun, wonach mir ist.

Denn selbst Klaus will sie angehen, weil sie die Beute für sich allein beansprucht. Knurrend und bellend will Stella den Polizisten auf Abstand halten. Weil sie gar keine Ruhe gibt, bringe ich sie an Bord und sperre sie kurzerhand im Gästeklo ein.

Was vorgefallen ist, muss niemand erklären. Zumindest nicht jetzt. Mit aufgetrennter Hose, Verbänden um Schenkel, Hand und Kopf wird Karins Mann wenig später im Krankenwagen abtransportiert. Klaus hat seine Personalien aufgenommen und einen weiteren Streifenwagen angefordert, der dem Notarzt folgen soll. Noch hat dieser Gustav Moser nichts über den Hergang sagen können.

„Die hat doch noch nie gebissen“, ist nicht nur Klaus verwundert.

„Der Kerl hat sich ja auch nicht an die Spielregeln gehalten“, antworte ich. „Vorn am Stegkopf sind eine Klingel und der Hinweis auf einen äußerst wachsamen Bordhund. Bis dahin ist das Stellas Verteidigungsbereich. Dieser Gustav sah auch nicht so aus, als ob er mir die Hand zum Gruß reichen wollte. Niemand tritt vor eine Haustür mit zwei geballten Fäusten. Die Kamera müsste das sogar aufgezeichnet haben“, deute ich aufs Schiff über den Eingangsbereich. „Nachdem ich die Haustür aufgemacht habe, ist Stella sofort auf ihn los.“

„Und was wollte dieser Gustav Moser hier? Außer, dir eine aufs Maul hauen?“, fragt Klaus weiter.

„Das ist dieser gewalttätige Ehemann von Venjas Schwester Karin. Die hockt unten im Schiff mit ihren vier Kindern. Sind vor vielleicht einer Stunde hier reingeschneit“ gebe ich als Erklärung ab, die Klaus mitschreibt. „Wenn du die Frau siehst, lass dir nichts anmerken. Die ist nur noch Haut und Knochen und offensichtlich mehrfach übel zugerichtet worden. Im Gesicht hab ich wenigstens acht Narben gezählt. Von den Kindern darfst du gar nichts erwarten. Die haben bis jetzt noch keinen Ton gesagt.“

Am späten Vormittag ist Karin mit ihren Kindern vorläufig in einem einfachen Hotel in Barsbüttel untergekommen. Die günstigste Absteige mit freien Betten im weiteren Umkreis. Für mich weit genug weg, um sie auf Abstand zu halten. Denn ich hab keine Lust, mich in deren Angelegenheiten wiederzufinden. Maja und ich haben auch erst einmal vereinbart, den Jungs nichts zu sagen. Luisa hat zwar Karin und die Kinder gesehen, aber sich nicht weiter für sie interessiert. Mit ihren nicht ganz zwei Jahren ist sie eh zu klein, um irgendwas begriffen zu haben.

Weil ich gleich ins Krankenhaus will, habe ich bei meinen Eltern angerufen und die Situation kurz erklärt. Papa hat, obwohl er eigentlich längst im Ruhestand ist, keine wichtigen Termine und kann für ein paar Stunden herkommen. Auf diese Weise ist Maja nicht alleine und Luisa auch nicht ständig an ihrem Rockzipfel. Eine Stunde später kann ich losfahren.

„Wie siehst du denn aus?“, werde ich von meiner Frau mit weit aufgerissenen Augen erschrocken begrüßt. „Du bist ja fast schwarz!“

Ich bin froh, dass die Kleinen im Säuglingszimmer sind. „Zieh dir was über. Wir gehen eine Runde durch den Park“, antworte ich und lasse nur für Venja sichtbar meine Augen kurz zur jungen Mutter im Bett neben ihr wandern. Kaum sind wir im Freien, bricht es nur so aus mir heraus und ich rede, wie ein Wasserfall.

„Ach du dicke Scheiße!“, sind Venjas erste Worte, nachdem ich meine Erlebnisse losgeworden bin. „Dem Typen scheint ja wohl auch jedes Mittel recht zu sein.“

„Allerdings. Du hast mir ja mal ein Bild von deiner Schwester gezeigt. Mit dem hat sie allerdings nicht mehr viel gemeinsam. Abgemagert und lauter Narben im Gesicht. Die Kinder sehen ganz schlimm aus. In der Stunde, bis Papa endlich da war, hab ich die Bagage abgefüttert. Die haben alle reingehauen, als hätten sie Tage nichts gehabt. Ich weiß auch nicht, wie lange sie unterwegs waren und ob sie das Hotel überhaupt bezahlen können. Fest steht nur, die müssen weit weg von diesem Kerl. Ich kann nur hoffen, Mama und Papa denken von allein mit.“ Ich schnaufe einmal tief und wir setzen uns auf eine Bank im Halbschatten. „Und jetzt sag, mein Schatz. Wann kommst du endlich nach Hause?“

Sie lächelt sanft, nimmt meine Hand und küsst jede einzelne Fingerkuppe. „Wenn ich möchte, schon morgen. Die Kinder sind gesund und gut dabei. Ich fühle mich auch schon wieder ganz gut.“

„Und wenn du noch nicht möchten willst?“, frage ich etwas umständlich.

Sie nickt und weiß, was ich hören will. „Die Ärztin meint, zwei Tage sollte ich ruhig noch ohne Familie sein. Zwillinge beanspruchen mehr. Nicht nur die werdende Mama in der Schwangerschaft, sondern später die ganze Familie. Aber ich weiß nicht, ob Maja nicht mal langsam in Buxtehude ihre Wohnung renovieren und einziehen will. Immerhin ist sie jetzt schon fast drei Monate bei uns. Von kleineren Unterbrechungen mal abgesehen. Am ersten Oktober beginnt sie ihre neue Stelle und wir haben schon Mitte August.“

Nachdenklich zucke ich mit den Schultern und antworte nach kurzem Überlegen: „So recht ist mir das ja auch nicht mehr. Ich weiß auch nicht wirklich, was sie denkt. Sie leuchtet auch niemals intensiv, sondern glimmt eher nur schwach. Als wenn ihr alles abhandengekommen ist.“ – „Entschuldige, wenn ich so über deine beste Freundin denke, aber manchmal glaube ich, die Stelle in Buxtehude existiert gar nicht.“ Endlich habe ich den Satz ausgesprochen, der mich schon seit wenigstens drei Wochen beschäftigt.

Zu meiner Überraschung schnauft Venja nur und nickt erneut verhalten.

„Also hast du auch schon diese Gedanken gehabt?“, frage ich offen.

„Mehr als einmal, Tove. Aber ich trau mich auch irgendwie nicht, sie zu fragen“, klingt sie beinahe verzweifelt.

„Dann hab ich eine Idee“, reagiere ich in spontan, als mir Selbige durch den Kopf schießt. „Was dagegen, wenn ich eben Papa drauf ansetze? Er ist ja eher der neutrale Beobachter.“

Ein Hoffnungsschimmer huscht über ihr Gesicht, als sie leicht zappelig fragt: „Meinst du, er macht das?“

„Warte“, setze ich meinen Gedanken sofort in die Tat um und zücke mein Handy. „Hej Paps. Ist Maja in der Nähe?“ – „Nein. Ich will sie nicht sprechen. Nur wissen, ob du frei sprechen kannst. Gehst du mal der Sache Buxtehude auf den Grund? Venja und ich sind nämlich eher der Meinung, das ist alles nur ein Luftschloss.“ – „Ja. Okay. Danke.“ – „Morgen und übermorgen noch. Dann kann sie wieder nach Hause. Sie dürfte auch schon morgen, will aber dem Rat der Ärzte folgen.“ – „Ja. Warte. – Hier. Papa für dich, mein Schatz.“

„Hej Paps. Wie geht es dir und Mama?“, plaudert sie unbefangen auf schwedisch los. „Danke, dass du so schnell einspringen konntest.“ – „Ja, deine Enkelmädchen sind wahre Musterkinder!“, lacht sie befreit. „Paps, alles im grünen Bereich.“ – „Nein. Ich weiß es nicht. Sie weicht mir immer aus. Tove sagt selbst, sie glimmt nur ganz schwach. Keine deutlichen Farben. Da stimmt was nicht. Meinst du, du bekommst was raus?“

Ich halte mein Ohr mit ans Telefon.

„Venja, sei unbesorgt. Du sprichst mit einem alten Juristen, der seit über 40 Jahren mit einer Psychotherapeutin verheiratet ist. So. Ich muss Schluss machen. Die kleine Prinzessin will gerade ausprobieren, ob man am Regal hochklettern kann. Hej då.”

„Hej då, Paps”, lacht meine Frau, beendet das Gespräch und reicht mir mein Telefon zurück. „Hast ja gehört, was er meinte“, stöhnt sie wieder leicht besorgt. „Ich hab ein ganz doofes Gefühl, Tove.“

„Dann sind wir ja schon zu zweit“, sage ich leise und hole meine Frau in die Arme. „Was meinst du, Schatz? Sollen wir noch einen Kaffee oder Früchtetee in der Cafeteria trinken?“

„Nach Kaffee sind meine Mädchen immer so zappelig und unruhig“, winkt Venja ab. „Besser dann einen Tee oder nur Wasser. Wobei ich beides oben auf dem Zimmer hab und nicht kaufen will. Ich glaub, ich muss auch wieder hoch. Bald ist Stillzeit. Wie geht’s denn deinem Sack?“

„Soweit gut. Die Narben sind verheilt und alle Fäden raus. Nur jeden zweiten Tag nach Strichliste wichsen, ist echt blöd!“, antworte ich leise lachend. „Die Kanalreinigung würde ich viel lieber von dir vornehmen lassen.“

„Das könnte dir so passen!“, grinst sie frech. „Ich darf und will noch gar nicht mit dir bumsen. Und dir nur einen zu blasen, hab ich auch keine Lust zu. Wenn, dann will ich auch auf meine Kosten kommen.“ Kurz zögert sie, bekommt seit längerer Zeit wieder einmal rosa Wangen und fragt wispernd: „Wichst du so? Oder schaust du Pornos?“

„Pornos!?“, reiße ich mich zusammen, das Wort nicht quer durch den Park zu brüllen. „Bei deinen Fantasien auf Papier brauche ich keine Pornos gucken.“

„Welche hast du denn zuletzt gelesen?“, wird sie mutiger.

„Die zwischen dieser Lisa und dem Raphael, wo plötzlich die Freundin Ruth ins Geschehen platz, weil Lisa nicht ans Telefon gegangen ist.“

„Ach so? Die seichte BDSM Geschichte? Ich finde die gar nicht so gelungen. Hat mich nicht wirklich angetörnt, gefesselt zu sein und von dir genommen zu werden. Ist ja bei Testlesern im Forum auch eher durchgefallen.“ – „Wie bist du denn überhaupt auf die gekommen?“

„Lag oben auf dem Stapel“, sage ich nur und schaue in zwei blitzende Augen. „NEIN!“, grolle ich. „Bloß nicht! Ich stehe nicht auf Quader. Es sei denn, man kann ihn anschneiden und er schmeckt nach Kuchen!“ – „Oder an was denkst du gerade?“

„Mhm“, quietscht sie leise. „Och. – Ach nichts.“

„So, so!“, lehne ich mich zurück und schau sie von der Seite an. „Du willst also von einer Gespielin geleckt werden, während ich sie von hinten ficke?“, provoziere ich und hoffe inständig auf Ablehnung.

„Never ever!“, raunzt Venja. „Du nagelst mich und ich schlecke. So wird ein Schuh draus“, sieht sie mich für einen Moment mit großen Augen an. „Vergiss es, Tove. Nie und nimmer würde ich eine zweite Frau oder einen zweiten Mann in unsere Ehe lassen, geschweige denn, ins Bett holen. Nicht mal dafür, um es auszuprobieren. Deinen Schwanz ablecken, meinen Saft dabei schmecken, ist absolut geil und macht mich auch echt an. Aber bei … jemand … Hurr!“, schüttelt sie sich. „Da würde meine Pflaume eintrocknen und der Kitzler sich nach innen verziehen.“ – „So, und jetzt hoch mit uns. Die kleinen Damen sind dran. Komm Tove.“

Ich bin zwar beruhigt, aber noch nicht überzeugt. Nur ist in diesen Tagen keine Zeit dafür, unser Gespräch zu vertiefen. Oder besser noch, Klarheit zu schaffen. Für mich kommt jedenfalls kein Dreier infrage. Aber sei es drum. Meine Herausforderungen sind ganz anderer Natur. Die eine heißt Maja und die andere ist mittlerweile 40 Meter lang und derzeit eine Großbaustelle. Während ich auf dem Weg zurück bin, male ich mir schon die verschiedenen Szenarien aus, welche mich empfangen könnten. Sie reichen von hilfloser Heulerei über ihr beschissenes Leben bis hin zum sofortigen Auszug. Alles dazwischen kann mich mit Maja erwarten. Hoffentlich ist Papa noch an Bord und nicht vor Verzweiflung doch ins Hafenbecken gesprungen.

Nach einer guten Stunde und mehreren Kilometern Stau rolle ich auf den Parkplatz im Hafen. Nur drei Autos stehen dort. Papas, das von Janne und ein weiteres der Schiffseigner vom Motorboot mit dem sinnfreien Namen ‚Läuft‘. Mir ist etwas mulmig, als ich aussteige und schon auf dem Weg zum Schiff von Stella begrüßt werde. Wenn Papa nämlich an Bord ist, hat sie eigentlich nichts anderes zu tun, als ständig neben ihm zu sein, auf seine Hände zu schauen und darauf zu warten, dass rein zufällig irgendwelche Leckereien ihr direkt ins Maul fallen. Dann vertilgt dieses Vieh sogar Gorgonzola und Gurkenscheiben.

Abwartend öffne ich leise die Tür und lausche. Doch alles, was ich höre, ist Papas Stimme, die gerade etwas aus den Abenteuern des Nils Holgersson vorliest. Schleichend gehe ich den Geräuschen nach und finde Opa und Enkelin seelenruhig auf dem Sofa vor. Opa liegt auf dem Rücken, das Buch an ausgestreckten Armen über seinem Gesicht und die Kleine nuckelnd auf seinem Brustkorb. Sie entdeckt mich, grinst und winkt nur mit dem kleinen Finger, ohne den Daumen aus dem Mund zu nehmen. Papa wird aufmerksam und stockt. „Ach. Da bist du ja schon“, ist er sichtlich überrascht.

„Opa! Weiter“, fordert Luisa.

„Gleich, mein Schätzchen.“ – „Tove, Kartoffeln hab ich schon geschält. Sind im Topf auf dem Herd. Salz ist schon dran. Das Fleisch liegt im Kühlschrank. Hab ich vorhin drüben beim Schlachter geholt. Nur den Blumenkohl musst du noch waschen und putzen.“ – „So, dann mal weiter, Luisa“, vertieft sich mein Vater zurück in die Geschichte und ich bleibe recht ratlos zurück. Jedoch nicht sehr lange, denn ich schaue die Treppe runter und sehe Majas Zimmertür offenstehen. Im Flur liegt ein Wäschehaufen. Wahrscheinlich das abgezogene Bettzeug. Nach und nach erkenne ich, dass auch ihr Strickzeug weg ist und der Stapel unwichtiger Frauenzeitschriften, über die sich Venja mehr aufgeregt hat, als ich. Aber noch kann ich keine Fragen stellen, geschweige denn, Antworten bekommen.

Als ich in die Küche trete, liegt dort ein Briefumschlag auf dem an Venja und Tove steht. Mit gemischten Gefühlen ziehe ich die eingesteckte Lasche und danach den Bogen Papier heraus. Die Handschrift ist eigentlich hübsch, lässt aber erahnen, wie fahrig die Verfasserin gewesen sein muss.

Liebe Venja, lieber Tove.

Ich weiß, es gehört sich nicht, auf diese Weise klammheimlich zu verschwinden. Doch ich will euch nicht weiter etwas vormachen. Aber mir fehlt auch gleichzeitig der Mut, euch dabei in die Augen sehen zu müssen.

Denn die ganze Zeit über habe ich euch belogen. Aus Buxtehude hatte ich eine Absage erhalten. Aber ich habe mich an die Vorstellung geklammert, wie es gewesen sein könnte, dort gearbeitet zu haben.

Tove, dein Vater hat mit mir gesprochen. Mir war natürlich klar, dass ihr ihn darum gebeten habt, weil ihr euch mit Sicherheit auch gefragt habt, warum ich immer noch bei euch bin, anstatt meine Wohnung zu renovieren, die es ja nie gegeben hat. Matti gab mir den Rat, meine Sachen zu packen und einfach loszufahren. Ohne Ziel. Sondern einfach nur weg. Er meinte, es würde mir helfen, mein Leben neu zu ordnen. Alte Brücken gnadenlos abbrechen und die Vergangenheit hinter mir lassen. Diesen Rat hat er mir gegeben.

Also habe ich meine paar Habseligkeiten im Wagen verstaut und schreibe jetzt ganz zum Schluss diesen Brief.

Matti gab mir den Rat, mit keinem konkreten Ziel loszufahren. Mein Geld reicht noch für ungefähr zwei Monate. Also eine gute Zeit, um mit mir allein zu sein. Als alleinigen Tipp gab er mir mit auf meine Reise, mich stur nach Norden zu orientieren. Die großen Wälder Finnlands wären ideal, um zum eigenen Mittelpunkt zurückzufinden. Sollte ich die Berge vermissen, so würde er mir die weiten Fjorde in Nordnorwegen ans Herz legen. Möchte ich ein wenig Tundra Sibiriens gepaart mit Wäldern und Bergen haben, so solle ich mich ganz hoch in Schwedens Norden wagen.

Venja, ich bin unendlich enttäuscht von mir selbst. Du bist meine beste Freundin und ich habe dich über Wochen hinweg belogen. Vielleicht verzeihst du mir eines Tages. Doch ich bin irgendwie eine Gefangene meiner selbst. Ich komme derzeit nicht aus mir heraus. Für euch da zu sein, euch helfen zu können und Lasten abzunehmen, das hat mich abgelenkt. Aber es hat mir nicht geholfen, mich zu finden.

Darum tue ich das, was Matti mir empfohlen hat. Egoistin sein. Ich bin wichtig. Mein Leben ist wichtig. Scheiß auf meinen Freund und die Sachen, die noch in Österreich sind. Soll er sie doch wegschmeißen.

Nur eines möchte ich nicht wegschmeißen. Die Freundschaft zu euch, so sie von eurer Seite aus noch gewünscht wird. Eine Brücke möchte ich gern erhalten, wenn ihr auch dafür seid. Die Brücke zu euch.

Noch weiß ich nicht, wo ich lande. Von Hamburg nach Dänemark ist es nicht weit. Dort öffnet sich mir die Welt in den Norden. Wenn ich weiß, was ich will, werde ich es euch wissen lassen.

Danke für eure stets offenen Herzen und die mir entgegengebrachte Liebe von Freunden. Ich wünsche euch viel Glück und immer eine Handbreit Wasser unterm Kiel eurer Zenzi.

In guten Gedanken an euch schleiche ich davon.

Maja


„Wow!“, hauche ich krächzend und lasse mich auf einem Stuhl im Esszimmer nieder. Vom Sofa her höre ich Papas wohlig brummige Stimme, die nicht nur meine Kleine, sondern in ganz besonderer Weise auch mich beruhigt. Als Kind habe ich es schon gemocht, wenn mein Papa mir die Gutenachtgeschichte vorgelesen hat. Er strahlte so viel Ruhe und Entspannung dabei aus. Wie eben auch jetzt gerade.

Mir wird vom Smartphone eine SMS in die Hosentasche gebrummt. ‚Was ist los? Ich spüre, dass was los ist. Melde dich. Deine Bergziege‘

Kurz überlege ich und schreibe zurück. ‚Maja ist gefahren. Sie hat einen netten Brief hinterlassen. Bis später. Dein Wikinger‘

‚Nett ist die kleine Schwester von Scheiße!‘

‚Nein. In diesem Fall nicht. Ich ruf nachher an, wenn die Kinder im Bett sind. Paps liest gerade Nils Holgersson vor. Lass mich noch ein wenig Kind sein. Bitte.‘

‚Du bist ein Kind! Ein großes Kind. Hab dich lieb, Tove. Die Damen sind satt und schlafen neben mir. Opa Fritz ist in Emmis Augenwinkeln. Ich bin glücklich. Danke für die zwei Tage. Du bist ein wunderbarer Mann. Tove, ich liebe dich. Würdest du mich noch einmal heiraten?‘

‚Sogar mit 40 Kindern!‘ – ‚Solange sie von mir sind!‘ – ‚Venja, ich würde dich auf der Stelle sofort und vom Fleck weg wieder heiraten. Weil du meine große Liebe bist. Soll ich dir was verraten?‘

‚Ekelpaket!‘

‚Schnepfe. Dann eben nicht.‘

‚Bitte, bitte, bitte, bitte! Bin auch wieder ganz lieb! Ganz ehrlich. Versprochen! Großes Wikinger-Ehrenwort!!!‘

‚Na gut. Zenzis Bauch ist leer.‘

‚W A S ? ? ?‘

‚Du hast entbunden. Sie wurde leer geräumt!‘

‚Sehr witzig! Ich will dich mal nach fünf Kindern sehen …‘

‚Besser nicht. Und jetzt Ruhe. Jetzt wird es spannend. Dein großes Wikingerkind. Ich ruf an.‘

* * *

Im Schiff ist nach dem Abendbrot Ruhe eingekehrt und ich nehme noch einmal den Brief zur Hand. Würde es nach mir gehen, möchte ich, dass Venja ihn selbst liest. Doch momentan bleibt mir nur, ihn gleich vorzulesen. Auch wenn Maja mit Sicherheit in einem seelischen Ausnahmezustand ist, enttäuscht bin ich trotzdem, so hinters Licht geführt worden zu sein.

„Hallo Liebling“, begrüße ich meine Frau, die nach nur einem Klingelzeichen abgenommen hat. „Passt es bei dir?“

„Ja. Aber nun spann mich nicht länger auf die Folter. Was ist los?“, will sie hibbelnd wissen.

„Ich lese dir einfach den Brief vor. So ganz werde ich zwar nicht schlau daraus, aber vielleicht ändert sich das noch. Also. Liebe Venja, lieber Tove“, beginne ich umgehend. – Sekunden lang ist es still am anderen Ende der Leitung, nachdem ich geendet habe.

„Arme Maja“, flüstert Venja und ich höre tiefe Enttäuschung aus ihren Worten heraus. „Dabei dachte ich immer, unsere Freundschaft wäre belastbar. Offensichtlich nicht. Was machen wir denn jetzt?“, möchte sie leise von mir wissen.

„Die Antwort auf diese Frage hatte ich mir von dir erhofft“, gebe ich ehrlich zu. „Venja, ich hab nicht den blassesten Schimmer. Irgendwas muss sie gezwungen haben, sich uns gegenüber so zu verhalten. Mit Paps habe ich noch nicht ungestört reden können. Vielleicht weiß er, was Sache ist.“

Venja überlegt für ein paar Momente und meint: „Dann ruf an und frag ihn. Ich hab dafür gerade keinen Kopf, Tove. Auf keinen Fall aber dürfen wir ihr die Tür vor der Nase zuschlagen, sollte sie noch einmal den Kontakt zu uns aufnehmen. Liebling, lass uns Schluss machen für heute. Ich muss jetzt nachdenken. Vielleicht komme ich ja selbst zu einem Ergebnis, warum sie so gehandelt hat. Gute Nacht, mein Schatz. Ich liebe dich.“

Nach dem Telefonat mit meiner Frau rufe ich umgehend bei Paps an. Er kann mir aber nur das sagen, was er ihr an Ratschlägen mit auf den Weg gegeben hat. Warum und wieso Maja über Wochen und Monate nichts gesagt hatte, ist ihm ebensolch ein Rätsel. Ich kann Venja nur noch eine kurze SMS schreiben und beschließe, einfach ins Bett zu gehen. Morgen um sechs Uhr ist die Nacht vorbei.

* * * Vier Tage später * * *

Manchmal möchte ich einfach nur laut schreiend lachen! Fritz und Till sind zwei komplett neue Menschen. Seit Caja und Emmi an Bord sind, herrscht einträchtiger Frieden zwischen unseren Söhnen. Fritz ist ganz auf Emmi fixiert, Caja gehört Till. Meine Frau braucht nur noch stillen. Sind unsere Jungs da, ist der Rest ihr Job. Wickeln, baden, sie in den Schlaf singen oder lesen, einen lauwarmen Tee geben.

Vorbei sind Fehden, Hackordnung und Ritterspiele. Angesagt sind jetzt Tipps, wie man Babys beruhigt, besänftigt und richtig hält. Aber auch dabei will niemand recht haben, sondern hört aufmerksam zu und gibt eigene Erfahrungen weiter.

Venja und ich kommen aus dem Staunen nicht mehr heraus. Denn wir hatten – unausgesprochen – ganz andere Wahnvorstellungen. Selbst unsere Luisa ist voll im Kreis derer integriert, die mit Hingabe und brüderlicher Liebe vergöttert wird.

Stella hatte zur Begrüßung schwänzelnd beide Jungdamen eingehend beschnuppert. Anschließend wühlte sie in ihrem Hundekorb die Babyjäckchen hervor und legte ihren Kopf darauf. Seitdem gehören sie nun auch für unsere aufmerksame Hundedame zur Familie.

„Machen wir was falsch?“, frage ich meine Frau, als wir abends im Bett liegen.

Sie lacht in die mondhelle Nacht und schnauft. „Nein, Tove. Wikinger wissen um den festen Zusammenhalt des Clans. Bergziegen nehmen jedes Lamm an, das auf der Alm steht und nach seiner Zicke blökt.“ – „Mach dir keine Sorgen, Tove. Unsere Söhne reagieren aus ihrem Instinkt heraus, den uns unsere Urahnen mitgegeben haben. Du und ich, wir haben auf eine wundervolle Art zusammengefunden und uns vermischt. Opa Fritz und Oma Zenzi. Synthias und Mattis Eltern. Meine liebevollen Schwiegereltern selbst. Ob sie alle wussten, was sie uns beiden einmal vererben würden, steht in den Sternen.“ – „Aber in einer Sache bin ich mir ganz sicher, mein Wikinger.“ – „Nur von dir wollte ich Kinder haben. Denn du bist der Mann, den ich mir früher immer erträumt habe.“ – „Tove, dass ich dich aber ausgerechnet hier finden würde, haben mir meine Träume zum Glück nicht verraten.“ – „Verführe mich“, wispert sie kaum vernehmbar und schmiegt sich ganz eng zu mir. „Ich möchte dich jetzt in mir spüren.“

* * * Drei Tage später * * *

Die beiden ehemaligen Haudegen sind in der Schule und Luisa bei der Tagesmutter schräg gegenüber vom Hafen. Mehr durch einen dummen Zufall sind wir an den Platz gekommen. Als ich nämlich beim Kaufmann am Tag nach der Geburt mit Bildern von meinen beides süßen Mädels geprahlt habe, trat Johanna auf mich zu und meinte, sie hätte einen freien Platz bei sich in der Gruppe. Ob wir Interesse hätten, Luisa bei ihr unterzubringen. Der Jüngste wäre gerade mal 17 Monate. Die Älteste vier Jahre. Insgesamt betreue sie fünf Kinder, wenn Luisa kommen würde. Ohne Rücksprache hatte ich bei dem Angebot sofort zugegriffen.

Unsere süßen Zwerginnen sind noch recht pflegeleicht. Essen, ein wenig schmusen, und schlafen. Nachts melden sie sich sehr gut abgestimmt nacheinander. Obwohl Venja voll stillt, reicht ihre Milch nicht und ich füttere anschließend mit dem Fläschchen weiter.

Gleich werden meine Eltern kommen und sich ums Mittagessen kümmern, weil ich meine Frau dazu gedrängt habe, endlich mit Karin Kontakt aufzunehmen. Aber nicht per Telefon, sondern von Angesicht zu Angesicht. Meine Aufgabe bestand darin, lediglich ihre Schwester davon in Kenntnis zu setzen, dass wir heute am späten Vormittag bei ihr sein würden. Was ich mir von diesem Treffen erwarte, weiß ich auch noch nicht. Aber so kann es auch nicht bleiben. Wenn Karin abgehauen ist und dermaßen übel zugerichtet wurde, muss es eine Aussprache geben. Egal, wie sie ausgeht.

Ein Stau auf der Autobahn wirft uns zeitlich etwas zurück. Doch wir kommen noch halbwegs passabel in der von mir angegebenen Zeitspanne an. Freie Parkplätze vor der Pension sind reichlich vorhanden. Kein Wunder, so wie die Bude von außen aussieht. Als wir in die Gaststube kommen, wird es nicht besser. Ungewollt muss ich schmunzeln und flüstere meiner Frau zu: „Sieht aus wie eine geklaute Filmkulisse aus einem Heinz-Rühmann-Streifen.“

Venja aber findet das gar nicht komisch und hat Karin in der letzten hintersten Ecke ausfindig gemacht. Mit großen Schritten eilt sie auf ihre Schwester zu und bleibt plötzlich in der Bewegung stocksteif stehen. „Karin!“, ruft sie entsetzt. „Um Himmels willen! Wie siehst du denn aus!?“

Dabei hatte ich versucht, meiner Frau recht bildhaft darzustellen, dass die Karin von heute mit keiner Fotografie von einst etwas gemeinsam hat.

Ich halte mich mit unseren Zwillingen in den Babyschalen ein paar Schritte zurück, um den beiden nach dieser langen Zeit ihren persönlichen Raum zu geben. Mit Erschrecken muss ich aber feststellen, dass Karin in dieser kurzen Zeit noch mehr abgemagert ist. Ihr Gesicht ist aschgrau, die Augen in tiefen Höhlen eingefallen, drumherum dunkle Ringe. Umgeben wird sie von einer fast schwarzen Aura mit deutlich erkennbaren Lücken. Ich kann nur hoffen, meine Frau sieht sie nicht. Dann weiß sie nämlich, was bald passiert.

Gefühlt eine Minute mustern sich die beiden nur.

„Nun hast du mich ja gesehen. Ist sonst noch was?“, giftet Karin ohne erkennbaren Grund los.

„Du siehst schrecklich aus!“, reagiert meine Frau für sie eigentlich untypisch, wenn sie ungerechtfertigt angegriffen wird. „Wo sind denn die Kinder?“

„Oben“, nickt sie in Richtung Zimmerdecke, ohne Venja aus den Augen zu lassen. „Wieso fragst du? Du hast dich doch gegen uns alle gestellt. Was gehen dich da meine Kinder an?“

Ich trete neben meine Frau und stelle die schlafenden Mäuse auf den Tisch zu meiner Rechten.

„Ach!“, blickt Karin abfällig rüber. „Gleich Zwei?“

„Insgesamt fünf“, bleibt Venja zu meiner Verwunderung weiterhin sehr ruhig. „Luisa hast du ja schon gesehen. So jedenfalls hat mir mein Mann berichtet. Aber nun erzähl mir bitte, was vorgefallen ist. Können wir irgendwie helfen?“

„Das geht dich doch gar nichts mehr an“, grollt Karin weiter und ich schiebe mich zwischen sie und die Kinder. „Du hast dich der Verantwortung entzogen und nicht auf unseren geschätzten Großvater gehört. Immerhin ist er das Familienoberhaupt, nachdem unser Vater nicht mehr heimgekommen ist. Du hattest kein Recht, dich gegen ihn zu stellen. Du hast zu gehorchen!“

„Ich habe ein eigenes Leben, über das kein anderer Mensch bestimmt“, entgegnet meine Frau mit fester Stimme. „Außerdem ist der alte Mann nach wie vor im Gefängnis. Weil er mich wohl mit Waffengewalt entführen wollte und sich an seinen Enkelinnen vergangen haben soll. Aber auf Gerüchte gebe ich nichts. Ich bin seit zehn Jahren glücklich mit dem Mann verheiratet, den ich liebe. Und nicht in einer Zwangsehe, wie im Mittelalter. Ich hätte diesen Viehbauern sowieso nie geheiratet, nur um den Hof zu retten. Mein eigenes Leben nur für eine Tradition wegschmeißen? Nicht mit mir, Karin. Und wenn ich dich so anschaue – blühendes Leben sieht anders aus.“

Unseren Hof gibt es seit über fünf Jahren nicht mehr!“, keift sie schrill. „Das hat sich alles eine Hotelkette unter den Nagel gerissen. Opa hat sein Geld mit Spiel und Dirnen durchgebracht. Unsere Mutter konnte nur eben die Zinsen aufbringen. Weil sie putzen gegangen ist. Nichts hat der Alte ihr gegeben, wenn er sich jeden Tag den Bauch bei ihr vollgeschlagen hat. Meinen Geschwistern war das auch alles egal. Ich habe von meinem spärlichen Haushaltsgeld immer was abgezweigt, damit unsere Mutter wenigstens was einkaufen konnte. Die Bank hat dann irgendwann nicht mehr mitgemacht. Alles ist zwangsversteigert worden. Aber so billig, dass Mutter nicht lange genug leben wird, um den Rest abzubezahlen. Dann fällt alles auf mich zurück, weil ich als Alleinerbin eingetragen worden bin. In unserem Dorf steht jetzt eine Betonburg vor den Bergen. Aber das interessiert dich ja nicht mehr. Du hast dich ja aus der Verantwortung gestohlen und alle im Stich gelassen! Dein Egoismus war als Kind schon nicht zu ertragen!“

Meine Frau wirft mir einen eindeutigen Blick zu und sagt noch einmal sehr energisch: „Karin, ich habe mein Leben. Weder du noch sonst wer wird mir vorschreiben, was ich zu tun und zu lassen habe. Alleinig mein Mann hat das Recht, mir etwas zu sagen. Denn ich habe das gleiche Recht ihm gegenüber. Darüber hinaus hat nur noch Gott zu entscheiden, wie mein Leben zu verlaufen hat. – Ich habe dir nichts mehr zu sagen. – Tove, ich möchte fahren. Das führt hier zu rein gar nichts.“ Sie wendet sich grußlos ab und poltert lauten Schrittes in Richtung Ausgang. Auf halbem Weg bleibt sie unvermittelt stehen und dreht sich noch einmal energisch um. „Ach ja, Schwesterlein. Du solltest sehr bald zusehen, deine Kinder irgendwo unterzubringen. Lange hast du nicht mehr. Leb wohl.“

Dermaßen eiskalt habe ich meine Frau noch nie erlebt. Mich friert direkt ein wenig. „Tschüss, Karin. Das hätte auch anders laufen können. Möchtest du mir noch irgendwas sagen?“, versuche ich, die Situation unbeholfen abzufedern.

„Ich weiß, wie es um mich steht“, antwortet sie beinahe friedlich. „Die Kinder sind versorgt. Ich habe eine Familie in Norwegen gefunden. Deutsche Auswanderer. Mir ist nicht mehr zu helfen. Wenn ich nicht mehr bin, sollen meine Kinder nicht weiter auf dem Hof schuften. Das muss reichen.“

Erneut rauscht mir eine Gänsehaut über den Körper. Noch nie habe ich einen Menschen getroffen, der sein Ende bewusst herannahen sieht.

„Mein Mann weiß nichts von meinem Plan“, höre ich sie weiter sprechen und traue mich kaum, sie dabei anzusehen. „Er hat schon eine Neue. Darum bin ich weg. Aber er liegt ja noch im Krankenhaus. Euer Hund hat wohl sehr gründliche Arbeit geleistet“, muss sie dann doch plötzlich schmunzeln.

Aus meiner lethargischen Stimmung kann sie mich damit aber nicht holen.

„Sein Hof ist eh am Ende. Und jetzt folge deiner Frau. Kümmert euch nicht weiter um mich. Wir sind aus verschiedenen Welten. Gehabt euch wohl“, schlängelt sich an mir vorbei und geht zur Treppe, die wohl hoch zu den Zimmern führt. Am Absatz bleibt sie plötzlich stehen, dreht sich noch einmal zu mir um und sagt leise, fast schon liebevoll milde: „Süße Zwillinge. Wie heißen sie?“

Kurz stockt mir der Atem. „Emmi und Caja.“

Ein Lächeln tanzt für wenige Augenblicke auf ihren blassen Lippen. „Caja. Die Liebe.“ – „Und Emmi. Die Mondiale.“ – „Schwedisch und Finnisch? Richtig?“

Irgendwie fehlen mir gerade die Worte und nicke stumm.

„Ich beglückwünsche euch.“ – „Euch. Den Wikinger und die Bergziege.“ – „Ich hab sie alle heimlich gelesen. Pass gut auf meine kleine Schwester auf. Ich hatte damals nicht die Kraft.“ Dann entschwindet sie und ich bleibe allein mit meinen Töchtern zurück.

Als ich zum Wagen komme steht Venja einfach nur da und lächelt. Ich hatte schon befürchtet, sie würde heulend drinsitzen und total verzweifelt sein. „Was ist mit dir?“, frage ich leise und gebe ihr einen Kuss auf die Wange.

„Ich bin glücklich, Tove“, raunt sie und beantwortet meinen Kuss mit ihren weichen Lippen auf meinen Mund. „Du bist mein Wikinger. Ich bin rechtzeitig fort, um dich zu finden. Karin tut mir leid. Doch ich kann sie nicht mehr retten. Hast du es auch gesehen?“

Mir bleibt nur, stumm zu nicken.

„Sie weiß hoffentlich, was sie tut. Hat sie noch was gesagt?“, möchte Venja leise wissen.

„Wir sollen uns nicht um sie kümmern. Sie wüsste, wie es um sie steht. Die Kinder kommen in eine deutsche Familie nach Norwegen. Ihr Mann weiß nichts von diesem Plan und er hat schon eine Neue Freundin oder Verlobte. Genau hat sie das nicht gesagt. Außerdem soll ich auf dich aufpassen, weil sie es damals nicht konnte“, fasse ich die wichtigsten Sätze zusammen.

Meine Frau umarmt mich und flüstert: „Seit wir uns das erste Mal getroffen haben, Tove, passt du auf mich auf. Du beschützt mich und bist immer für mich da. Dein Treueversprechen vor dem Altar hat mich tief bewegt.

Du hast gesagt, Liebe wächst erst dann besonders gut, wenn man sie großzügig verschwendet. Jeden Tag möchtest du mich neu kennenlernen. Süchtig bist du nach mir, aber nicht eifersüchtig. Und du bist stolz auf uns, aber nicht überheblich. Du vertraust mir, achtest mich, bist mir treu und willst mich umsorgen.

Einige Pfade werden dunkel und unwegsam sein. Doch du wirst immer an meiner Seite sein und wir werden sie gemeinsam überwinden. Meine Eigenständigkeit willst du achten und mich unterstützen mit all deiner Kraft. Du willst meine Freiheit nicht einengen, sondern mir Flügel geben. Aber du wirst auch darauf achten, dass ich nicht zu hoch fliege. Von dir habe ich Gottes Segen bekommen. Du hast mir die Hand aufgelegt und mich gesegnet.

Tove, ich denke seit zehn Jahren wenigstens einmal am Tag an dein Eheversprechen. Du hältst es. Alles, was du mir versprochen hast. Manchen Tag brauche ich mich einfach nur in deine Arme fallen lassen, weil du längst weißt, was mir fehlt, bevor ich es aussprechen kann. Das sind für mich meine Glücksmomente und der Beweis, dass wir beide zusammengehören. – Diese wenigen Minuten dadrin können all mein Glück mit dir und unseren Kindern nicht im geringsten trüben. Karin tut mir nur leid. Doch wenn sie keine Hilfe möchte, kann ich sie nicht dazu zwingen. Ich hatte still gehofft, die Zeit hilft uns. Aber das Gegenteil ist eingetreten. Sie hat uns noch weiter voneinander entfernt. – Tove, meine Heimat ist auf der Zenzi. Dort bin ich glücklich. Mit meiner Familie. Ich darf auf einem Hausboot leben und meine Heimat immer dabeihaben.

Lass uns jetzt nach Hause fahren, mein Wikinger. Karin wird in meinem Herzen bleiben. Wie auch meine Geschwister. Und sie wird auch weiterhin in meine Gebete eingeschlossen. Doch mehr kann ich nicht für sie tun.“

Aus dem Augenwinkel erkenne ich, wie im ersten Stock eine Gardine bewegt wird. „Möchtest du ihr das sagen? Dann geh rauf. Sie ist in ihrem Zimmer.“

Venja lächelt mich an und sagt weich: „Sie weiß es. Heute ist aber kein Tag dafür, noch weiter miteinander zu sprechen. Lass uns fahren.“

Unser Rückweg ist schweigsam. Eine Frau zu erleben, die Mitte 40 ist, verbittert und dem Tod geweiht, hat mich schon mitgenommen. Trotzdem haben mich Venjas Worte in gewisser Weise beruhigt. „Warum?“, frage ich ganz in Gedanken versunken und werfe ihr einen kurzen Blick zu.

Wieder lächelt sie nur friedvoll und sagt leise: „Tove, nichts im Leben geschieht aus einem Zufall heraus. Karin geht ihren Weg. Ich den meinen. Sie entfernen sich und doch führen sie auch zusammen. Du hast mich gedrängt, sie zu sehen. Es war richtig. Meine Schwester habe ich heute wahrscheinlich das letzte Mal lebend gesehen. Aber es belastet mich nicht. Weil ich erkannt habe, wie wertvoll mein Leben ist. Unsere Kinder wurden uns geschenkt. Ihre mussten geboren werden, weil sie Arbeitskräfte sind. Ich durfte meinen Weg zu dir finden. Karin wurde auf einen steinigen Weg gezwungen. Sie musste ihn gehen, ob sie wollte, oder auch nicht. Sie hat es bis hierher geschafft. Sie wird wahrscheinlich auch in ihrer letzten Stunde allein sein. Ich kenne nicht einmal die Namen meiner Nichten und Neffen. Trotzdem würde ich sie bei mir aufnehmen, wenn es keinen Weg gäbe, sie vor dem Lebenschaos zu retten. Und ich weiß mich in der Gewissheit, mit dieser Entscheidung nicht allein gelassen zu werden. Weil du, Tove, alles in Bewegung setzen würdest, um vier Kindern ein Heim zu geben. Selbst wenn dafür Zenzi durch ein Haus oder einen Containerfrachter ersetzt werden müsste. Doch ich weiß auch, dass meine Schwester auf ihre Weise dafür gesorgt hat, die Kinder in kein ungewisses Schicksal laufen zu lassen. Ich kenne die Zukunft nicht. Aber ich fühle, dass sie gut aufgehoben sein werden.“

Irgendwie bin ich erleichtert. Aber ich spüre auch eine gewisse Anspannung in mir. Ahnt oder weiß Venja Dinge, die mir noch unbekannt sind? Bekommen wir vielleicht doch bald noch vier weitere Kinder, die in naher Zukunft allein sein werden? Weil es in Norwegen nicht hinhaut?

„Höre auf, zu denken“, werde ich sanft angesprochen. „Du leuchtest. Karin hat mich nicht gefragt. Ich kenne die Familie nicht. Aber ich weiß trotzdem, dass sie gut aufgehoben sein werden.“

Mein kurzer Blick reicht aus. Venja glüht knallrot. Um ihre Hüften aber ist es seltsam dunkelblau. Als würde sie etwas beschützen müssen. „Wird es ein Junge?“, platze ich heraus, ohne wirklich nachgedacht zu haben.

„Bitte was?“, reagiert sie irritiert.

„Ich sehe dich“, antworte ich nur.

„Bin ich etwa schwanger?“, fragt sie mich völlig entgeistert.

„Um deine Hüften ist es … dunkel … dunkelblau. Der Rest leuchtet knallrot.“

„Halt mal eben an. Mir ist schlecht“, raunt meine Frau schlagartig verändert und schafft es gerade so, bis ich auf dem Seitenstreifen der Autobahn zum Stehen komme. Ein erster Schwall landet klatschend auf dem Asphalt.

„Wow!“, entfährt es mir, wie damals im Hafen von Helgoland.

„Nix wow!“, röchelt sie. „Garantiert noch mal schwanger.“

„Wie soll das denn gehen?“, bin ich leicht amüsiert. „Du hast vor 14 Tagen entbunden. Ich bin sterilisiert.“

Auf ihre Antwort muss ich allerdings noch etwas warten. Venja hängt über der Leitplanke und lässt sich alles vom Frühstück noch einmal durch den Kopf gehen.

„Schon vergessen?“, röchelt sie mit belegter Stimme, als sie matt und blass wieder neben mir sitzt. „Wir hatten gestern sehr guten Sex.“

„Ich kann keine Kinder mehr zeugen!“, wiederhole ich mit etwas mehr Nachdruck. „Warum wohl habe ich mich operieren lassen?“ – „Außerdem, kannst du überhaupt schon wieder schwanger werden? Nach so kurzer Zeit? Du hast bei Fritz und Till erst nach einem halben Jahr deine Regel bekommen. Nach Luisa hat es sogar fast ein Jahr gedauert.“

„Fahr mich zum Schiff“, bittet sie schlapp und sinkt im Sitz zusammen. „Ist doch jetzt erst mal egal. Wir haben beide in den nächsten Tagen einen Arzttermin“, lächelt sie trotzdem sanft und fügt an: „Tove, und wenn ich tatsächlich noch einmal schwanger bin, dann ist das eben so.“

Mein Handy brummt. Noch stehe ich auf dem Seitenstreifen und schaue schnell nach. „Sieh an!“, sage ich erfreut und gebe das Telefon an meine Frau weiter. „Schau mal.“

„Och!“, ist sie ebenfalls überrascht. „Na, da bin ich ja mal neugierig auf Anitas erste Geschichte. Komm fahr los!“, scheucht sie mich in ihrer lieblichen Art.

* * * eine Woche später * * *

Unsere Arzttermine konnten wir uns sparen. Venjas Körper hat durch den Stress mit Karin schlicht ein Ventil gesucht. Nach zwei negativen Tests aus der Apotheke, ein paar Tagen Ruhe, vielen Spaziergängen auf dem Elbdeich und langen Gesprächen mit Paps war alles überstanden. Ihr Dunkelblau um die Hüften war auch nach nur einem Tag wieder verschwunden.

Ich habe Anitas Geschichte gelesen und war recht angetan davon. Als Grundlage und Inspiration dient eine wahre Begebenheit, welche sie mit viel Fantasie ausgeschmückt hat. Nur spielt ihre Story nicht auf der Hallig Hooge, sondern der Ostseeinsel Fehmarn. Sie selbst kommt aus Inselstadt Burg und kennt daher die Örtlichkeiten, wie ihre Westentasche. Mit ihrer Erlaubnis haben wir lektoriert und ihr zur Überarbeitung zurückgesandt. Uns waren einige zeitliche Abläufe nicht schlüssig genug. Daneben gab es diverse Handlungsstränge, die nicht sauber ineinandergriffen, weil die Protagonisten nicht an zwei Orten gleichzeitig sein konnten.

Gleich aber werde ich mit meiner Frau rüber zur Werft gehen. Mama und Papa wollen solange die Zwerginnen hüten und schon Mittag vorbereiten. Wobei ich ganz genau weiß, wie das aussieht, das Kinderhüten. Beide liegen auf den Sofas und haben sich je eines der Mädchen auf die Brust gelegt. Meine Eltern sind nicht nur in dieser Beziehung glückliche Großeltern. Sie genießen es ausgiebig, ein fester Teil meiner Familie sein zu dürfen.

Mama plant auch langsam ihren beruflichen Ausstieg. In Papas Kanzlei ist schon seit Jahren ein würdiger Nachfolger. Synthia wird ihre Praxis mit Kusshand loswerden. Doch wie sie sich verändern wollen, steht noch nicht endgültig fest. Meine Mutter könnte sich tatsächlich auch so ein Nomadenleben auf einem Hausboot vorstellen. Papa hingegen braucht seinen Garten, ohne den er eingehen würde, wie eine Primel. Aber das müssen die beiden unter sich ausmachen.

Dröhnende Hammerschläge hallen übers Wasser, als wir von Bord gehen. Der Umbau gleicht fast einem Neubau. Nur noch Rumpf und leere Aufbauten sind von Zenzi übrig. Aber es geht bisher alles ohne große Komplikationen gut voran. Aus Sicherheitsgründen dürfen wir nur von einer erhöhten Plattform den Fortschritt begutachten. Erst wenn am Wochenende die Arbeit ruht, werden wir auch ins Innere klettern können. Doch auf uns gezeigten Fotos sind die Trennwände der neuen Zimmer bereits eingeschweißt. Der alte Motor ist ebenfalls schon draußen und wird seinen Dienst als Notstromaggregat bei einer Firma in Hamburg versehen.

Aber es gibt auch noch ein Detail, von dem ich schon weiß. Nur meine Frau noch nicht. Wie sie darauf reagieren wird, muss ich einfach mal abwarten. Auf jeden Fall wird es keine Begeisterungsstürme hervorrufen. Das weiß ich.

„Moin!“, ruft uns der leitenden Ingenieur Sippo Kronenberg zu und lotst uns etwas Abseits des Lärms. „Venja, du hast mir ja gesagt, was du mit der alten Schiffsschraube vorhast. Sie auf dem Vordeck platzieren und einen Tisch draus machen. Der Gedanke ist sicherlich prima, aber nicht umsetzbar“, kommt er mir eindeutig zu schnell zur Sache.

Mein Blick geht zu meiner Frau, die sichtlich zusammensackt und ihr Lächeln ins Wasser plumpsen lässt. „Warum?“, fragt sie im Tonfall eines eingeschnappten Mädchens.

„Egal wie wir sie drehen, sie blockiert die Glasflächen überm Bett im Bug. Dann ist der sensationelle Blick futsch. Obendrein ist die Verletzungsgefahr extrem hoch, wenn jemand aus der neuen Luke auf’m Vordeck zu schnell raus schießt und die Kurve nicht rechtzeitig kriegt. Dann knallt er volle Kanne dagegen. Das kann ganz schnell mit einem Knochenbruch enden. Auf Kopfhöhe der Kinder noch übler. Tut mir leid, aber da mach ich nicht mit.

Außerdem, wenn ihr das Schiff tatsächlich mal vermarkten wollt, steht Ärger mit der Abnahme ins Haus. Die lassen das Ding auf jeden Fall wieder entfernen, weil es die Fluchtrichtung versperrt.

Alternativ biete ich dir an, sie wetterfest aufzubereiten und als eine Art Skulptur oder Denkmal im Hafen zu installieren. Vielleicht auch auf’m Elbdeich. Der Alte Fritz war ja hier so was wie ‘ne Institution. Ich spendiere auch gern eine Gedenkplatte oder Infotafel. Mehr geht aber nicht. Tut mir leid, Venja, aber deine Idee setze ich nicht um. Ich bastel das Ding da drauf und nach vier Wochen wieder runter.“

„Jotkut paskaa!“, flucht meine Frau auf finnisch und ich stutze. Sippos Augen fallen ihm auch bald raus. „Sinä Suomi?“, fragt er neugierig.

„Ich spreche nicht nur finnisch“, blökt sie gallig. „Mein Mann ist ja auch noch ein halber Schwede. Das muss ich auch noch können.“

„Jetzt maul hier mal nicht rum“, wird Sippo mürrisch. „Sei froh, dass du deinen Wikinger hast.“ – „Ja, guck nicht so. Ich hab deine Bücher auch alle gelesen. Und nicht nur einmal. Nur wegen so einer blöden Schiffsschraube machst du hier jetzt keine schlechte Laune. Oder wir setzen die Unterhaltung auf finnisch fort. Denn dein Ausdruck, so eine Scheiße, formulierst du besser mit: Niin paska! Ich bin nämlich Finne. Den Nachnamen hab ich von meiner Frau. Meinen kann hier niemand aussprechen. Das wollten wir unseren Kindern nicht antun. Alles klar jetzt?“

Venja tastet nach meiner Hand und hält sich fest. „Schade“, sagt sie bedrückt. „Aber wenn du das so sagst, wird das wohl so sein.“

„Nun spiel hier mal nicht die kleine Beleidigte“, lacht Sippo bereits wieder. „Du kennst mich noch nicht so lange. Ich hab mir natürlich schon was überlegt. Wir trennen von der alten Welle was ab und bauen dir deinen Tisch genau da vorne“, deutet er in Richtung Bug. „Da kommt eine vernünftige runde Platte drauf und als Kantenschutz geflochtenes Sisal, damit sich niemand verletzen kann.“ – „Venja, du bekommst von mir deine ganz spezielle Inspirationsecke. Lass mich mal machen. Und den Propeller, den bring ich dir auf den Elbdeich. Den soll jeder sehen können. Unser Alter Fritz bekommt schon noch sein Denkmal. Wenn er nicht gewesen wär, wäre ich nämlich nicht hier.“ – „So! Und nun lachst du wieder. Dein Gesicht ist viel zu hübsch für so einen misepetrigen Ausdruck!“

* * * vier Monate später * * *

„Verehrte Damen und Herren“, verschafft sich Venjas sanfte Stimme Gehör im Raum und es wird ruhig. „Mir wurde angetragen, eine Art Prolog zu sprechen. Eine Einführung zu einem Buch von einer noch unbekannten Autorin. Ich habe mir eine Buchhandlung dafür ausgesucht. Kein Ort passt besser für eine Neuvorstellung. Und ich lüge nicht, wenn ich Ihnen nun gestehe, das Buch genommen und in einer Nacht komplett gelesen zu haben. Auch wenn der anschließende Tag nicht nur eine Herausforderung für mich parat hatte. Doch ich bereue keine Minute dieser Nacht. Nicht mal eine Sekunde. Ich wurde in die Geschichte entführt, von ihr gefesselt und am Ende mit einem Lächeln auf den Lippen wieder in die reale Welt entlassen. Das Buch ist spannend, wühlt auf und lässt einen mit den Protagonisten leiden, lieben und lachen. Bereits nach wenigen Seiten hat man das Gefühl, selbst Teil der Handlung zu sein. Unerheblich, ob man Frau oder Mann ist.

Anita Schulze hat in ihrem Erstlingswerk auf sensibelste Weise beschrieben, was es für Paare bedeutet, erstmals Eltern zu werden. Die Schmerzen der Gebärenden, die Hilflosigkeit der werdenden Väter. Im krassen Gegensatz dazu die Sturzgeburt und auch Totgeburt. Nichts hat sie ausgeblendet, verschönt oder verfremdet. Anita war meine Hebamme unserer Zwillinge. Wie schon bei meinem Sohn Till, platze die Fruchtblase und es ging von jetzt auf gleich los. Ich bekam keine Möglichkeit, mich auf die Geburt vorzubereiten. Meine Mädchen wollten jetzt raus. Nicht erst in einer Stunde. Allein Anitas Gegenwart hat meine gewaltige Situation in Ruhe verwandelt. Und genau das beschreibt sie auch in ihrem Buch.

Doch es ist keine Gebrauchsanleitung. Es spiegelt das wahre Leben einer Hebamme wider. Ohne Verzerrung oder Verniedlichung der Geburt. Freud und Leid hat Anita in eben genau jene Worte gekleidet, welche zu genau der einen Situation passen. Sie war einmal mit Leib und Seele Hebamme. Aber sie konnte es einfach nicht mehr ertragen. Ihr Leben hatte sich mit dem Beruf verändert. Anita spürte in sich das tiefe Bedürfnis, selbst Mutter werden zu wollen und nicht nur Mütter und Väter zu machen, wie sie es mit einem Augenzwinkern schreibt.

Bitte begrüßen Sie daher nun mit einem verhaltenen Applaus die Frau, welche im dritten Monat ist und sich wahnsinnig darüber freut, endlich selbst eine Mama zu werden. Sie wird Ihnen ausgewählte Passagen aus ihrem Erstlingswerk vorlesen. Ich mache nun die Bühne frei für Anita Schulze und ihr Buch Es wird immer euer Kind bleiben.“

* * *

„Und?“, frage ich Anita, kurz bevor wir gehen. „Wie fühlst du dich?“

„Gigantisch“, schnauft sie und setzt sich auf einen der umherstehenden Stühle. „Mit so viel Zuspruch hatte ich ehrlich nicht gerechnet.“ – „Venja, Tove! Ich danke euch, mich zu diesem waghalsigen Schritt ermutigt zu haben. Dank eurer Unterstützung bin ich nun da, wo ich seit wenigstens fünf Jahren sein will.“ – „Ich bin jetzt Schriftstellerin!“

„Und werdende Mama“, antwortet Venja leise und streicht ihr kurz zart über die Wange. „Wir haben dir nur den Weg gezeigt. Den Mut aufgebracht hast du selbst, ihn auch zu beschreiten. Nun liegt es an dir, welche Geschichten du deinen Fans in Zukunft erzählen willst. Setze dich aber nicht unter Druck. Den Fehler habe ich anfangs auch gemacht. Aber wir müssen jetzt leider los. Meine Mädels warten bestimmt schon auf mich.“

„Verratet ihr mir noch was?“, hält sie uns zurück, umgehend aufzubrechen.

„Was denn?“, frage ich zurück.

„Seht ihr mich gerade?“, möchte sie verhalten, beinahe schüchtern wissen.

Meine Frau und ich tauschen einen flüchtigen Blick aus und schmunzeln. „Ja“, antwortet Venja. „Du leuchtest sattrot und um dein Kind herum Dunkelblau mit einem hauchzarten gelben Innenkreis. In Worten ausgesprochen bedeutet es, du bist von ganzem Herzen glücklich, liebst das werdende Kind in dir und beschützt es mit deiner Liebe und Fürsorge. Die Farbe Gelb ist schon von deinem Kind. Es fühlt sich wohl bei dir.“

„Stimmt es eigentlich, dass Mädchen im Mutterleib Gelb oder Orange ausstrahlen? Jungen hingegen Türkis bis Grün?“, fragt sie etwas mutiger weiter.

„Im Prinzip schon“, erwidere ich. „Man kann sich eigentlich auch darauf verlassen. Nicht nur bei unseren Kindern hat es immer zu 100 Prozent gepasst. Wobei ich nichts verraten durfte. Meine Frau wollte sich überraschen lassen. Darum haben wir auch immer Namen für Jungen und Mädchen gehabt.“ – „Aber wenn ich dich genau betrachte, liebe Anita, dann solltest du jetzt nicht nur über einen Mädchennamen nachdenken. Denn rechts glimmst du eher Türkis als Gelb.“

„Wirklich?!“, wispert sie und reißt die Augen auf.

Meine Frau blinzelt leicht durch die Wimpern und bestätigt meine Aussage mit Kopfnicken. „Doch. Mein Mann hat recht. Gelb und Türkis.“

Sie lehnt sich zurück und ein breites Grinsen schleicht sich in ihr Gesicht, als sie leise sagt: „Dann weiß ich sogar schon zwei wundervolle Namen für unsere Kinder. Eurem Beispiel folgend werden sie als Zweitnamen Venja und Tove bekommen. Die biblischen Rufnamen der beiden suche ich mir mit meinem Mann in aller Ruhe heraus.“

* * * drei Monate später * * *

Ich habe das Gefühl, beinahe ganz Norddeutschland ist im Hafen versammelt. Wir stehen als Familie direkt am Ort des Geschehens. Gleich wird der entscheidende letzte Block gelöst werden, damit unsere alte, neue Zenzi ins Wasser gleiten kann. Ihr blauer Rumpf, die strahlend weißen Aufbauten, Namen und Heimathafen in rapsgelb. Wir haben sie ganz bewusst in den drei Farben streichen lassen. Blau und Weiß sollen einerseits den Himmel mit Wolken darstellen. Aber auch die See mit weißen Schaumkronen. Gelb steht nicht nur für die Sonne, sondern vervollständigt das Farbentrio beider Landesflaggen, aus denen meine Wurzeln entstammen. Ich war tief bewegt, als meine zauberhafte Venja mir diesen Vorschlag machte, unsere Zenzi äußerlich genau so zu gestalten.

Es ist so weit. Sippo gibt das Startsignal und zwei Werftarbeiter ziehen mit einem Ruck am Tau den letzten Block beiseite. Gemächlich beginnt Zenzi, seitwärts zurück in ihr Element zu gleiten.

Applaus, Pfiffe und bestimmt alles was irgendwie tuten oder sonst wie Krach machen kann, ist zu hören. Venja und mir wird das abgemachte Zeichen gegeben und wir gehen an Bord. Der Zündschlüssel steckt schon und ich drücke den schwarzen Knopf. Kaum hörbar bringt der Anlasser Zenzis neues Herz zum Schlagen. Sie wird kurz geschüttelt und dann höre ich endlich wieder das vertraute Stampfen von acht Zylindern. Zwar deutlich leiser, aber immer noch ausreichend vernehmbar. Nun werden nicht nur die Kinder wieder besser einschlafen können.

Nach und nach entern unsere geladenen Gäste das Schiff. Vom bereitstehenden Catering werden allerlei Platten und Getränke an Bord geschafft. Die engagierte Tresenmannschaft ist schon dabei, Bierfässer anzuschließen, damit die Party beginnen kann. Auch in der Werfthalle haben wir alles auffahren lassen, was das Herz begehrt. Niemand soll heute zu kurz kommen. Die Jungs und Mädchen der Werft haben absolut perfekte Arbeit geleistet.

Stella ist das alles irgendwie zu viel Theater und sie zieht sich dankbar ins Bad der Bugkabine zurück. Nur ab und zu sehe ich sie mal durch die Menge nach draußen auf ihren Rasenplatz gehen. Ansonsten möchte sie ihre Ruhe haben. Darum habe ich einfach eine Absperrkordel vor der offenen Tür zum Hochzeitszimmer gespannt und einen Zettel angebracht. Hineinschauen ja, hineingehen nein. Aus Rücksicht auf unsere ältere Hundedame. Danke. Bis auf ein paar neugierige Kinder wird unser Wunsch auch respektiert.

An Land zerstreut sich die Menge langsam, nachdem das Spektakel vorbei ist.

* * *

Recht spät am Abend ist das Fest vorüber. Wir sind nur noch ein kleiner Kreis an Bord. Meine Eltern, Anita mit ihrem Mann sowie Janne und Familie. Mama und Paps werden hier schlafen und die neue alte Bugkabine einweihen.

Unsere Kinder sind längst in den Betten und seit Stunden ist Ruhe im Keller. Selbst unsere ganz Kleinen sind problemlos bei uns in der Kabine eingeschlafen. Für Luisa ließ ich ein paar Minuten den Diesel im Leerlauf stampfen und sie war ratzfatz weg. Nur Fritz war noch mal oben und hat sich für eine kleine Weile bei seinem Opa angekuschelt. Danach ist er dann von allein wieder runter, wobei Anita ihn ins Bett bringen sollte.

Ganz besonders hat es mich gefreut, dass Venjas Inspirationsinsel auf dem Vordeck als echtes Highlight von allen bestaunt wurde. Sippo hat sein Versprechen gehalten, ihr einen einmaligen Platz zu schaffen. Nicht nur der Tischfuß ist aus einem Stück der alten Welle entstanden, sondern auch noch drei Hocker, die sich auf einer rund um den Tisch laufenden Schiene bewegen lassen. In der Lehrlingswerkstatt wurden passgenaue Sitzkissen aus braunem Segeltuch gefertigt. Eingearbeitete Magneten halten sie an Ort und Stelle fest. In der Tischmitte ist auch noch eine Bohrung, in welche meine Frau einen Sonnenschirm stecken kann. Diesen knallroten Eyecatcher haben meine Eltern beigesteuert.

Die ehemalige Schiffsschraube wird ihren Platz am Zusammenfluss von Ilmenau und Elbe bekommen. Wie Sippo meiner Frau zugesichert hatte, spendiert er die Gedenktafel. Den Text sollen wir uns ausdenken.

„Was für ein aufregender und wunderschöner Tag“, sinniert Venja und sackt gegen meine Schulter. „Pünktlich zum Frühlingsanfang sind wir endlich wieder Zuhause.“

„Und schon bald wieder auf Tour“, grinst Paps sie an. „Mit Beginn der Osterferien geht’s bei euch direkt los. In drei Wochen schon. Dienstag überführe ich mit Tove euere temporäre Wohnstatt nach Lübeck zurück und Synthia holt uns Donnerstag dort ab.“ – „Aber das Beste ist, wir sind auf eurer Ostertour in die Lutherstadt Wittenberg dabei. Und das auch noch im Lutherjahr!“

Ein Anruf mit unbekannter Nummer wird mir auf dem Handy angezeigt. „Thorvaldsen“, melde ich mich.

„Hier spricht Erika Deutschmann. Guten Abend. Spreche ich mit Tove Thorvaldsen?“

„Ja“, antworte ich und bekomme eine Gänsehaut. Der norwegische Akzent in den deutschen Worten lässt mich kurz frieren.

„Ich bin die Pflegemutter von Max, Johanna, Günther und Franziska Gruber. Karin Gruber ist ja deine Schwägerin. Ist Venja zufällig in der Nähe?“

Ich schaue flüchtig zu meiner Frau. Ihr Blick sagt mir, dass sie mich einmal mehr gerade sieht. Und ich muss irgendwie seltsam leuchten. „Ja, meine Frau sitzt neben mir, Erika. Warum?“

„Du kannst dir sicherlich denken, weshalb ich anrufe, oder?“ Für Sekunden herrscht beklommenes Schweigen zwischen uns. „Karin muss nicht mehr länger leiden. Sie ist heute nachmittag friedlich bei uns eingeschlafen. Ohne Kampf. Als wir sie auf ihrem Bett gefunden haben, lag sogar ein kleines Lächeln auf ihren Lippen.“

Wieder schweigen wir für Sekunden, bis ich antworte: „Danke, Erika. Können wir was für euch tun?“

„Nein. Vorerst nicht. Karins letztem Wunsch entsprechend habe ich einen Brief an euch abgesandt. Daraus könnt ihr alles entnehmen. Sie war schon zu schwach, um ihn selbst zu schreiben. Sie hat ihn mir diktiert und gebeten, nichts daraus vorab zu sagen.“ – „Vielleicht nur eine Sache“, fügt sie zögernd hinzu. „Maja ist seit einer Woche ebenfalls hier. Die Kinder haben auf diese Weise jemanden, den sie recht gut kennen. – Wenn ihr den Brief gelesen habt, meldet euch wieder. Gute Nacht“, beendet sie das Gespräch und legt auf, bevor ich noch etwas sagen kann.

Der Blick meiner Frau ruht auf mir. Sie ahnt nicht, sie weiß, was passiert ist und fragt leise: „Wann?“

„Heue Nachmittag. Karin ist friedlich und mit einem Lächeln auf den Lippen gegangen“, wiederhole ich Erikas Worte und ziehe Venja fest in meine Arme.

„Sind unsere Gebete also doch erhört worden“, wispert meine Frau und schnieft leise. „Lass mich bitte mal los“, befreit sie sich zärtlich aus meiner Umarmung. „Ich möchte jetzt ein wenig mit mir allein sein.“

Erst nachdem Venja nicht nur aus dem Zimmer, sondern auch von Bord gegangen ist, kläre ich meine Besucher in allen Einzelheiten über das Treffen der Schwestern sowie auch das eben geführte Telefonat auf. „Karins Mann hat sich ja einen Dreck um seine Frau geschert“, lasse ich sie an unseren Erlebnissen teilhaben. „Nachdem er aus dem Krankenhaus raus war, wollte er per Anwalt herausfinden, wo seine Kinder sind. Paps, du kennst den Verlauf ja. Aber wir haben den Mund gehalten. Karins Kinder sind bei einer deutschen Auswandererfamilie in Norwegen untergebracht. Sie wollte verhindern, dass ihren Kindern die Kindheit als billige Arbeitskräfte auf einem maroden Hof geraubt wird. Außerdem ist Maja auch dort eingetroffen.“ Ich schnaufe einmal tief und sage: „Von Erika ist mir dann auch noch ein Brief angekündigt worden. Über den Inhalt hat sie mir nichts gesagt. Nur so viel, Karin hat ihn diktiert, weil sie selbst zu schwach war, ihn zu verfassen. Wir sollen uns melden, wenn wir ihn gelesen haben.“

Paps räuspert sich nach kurzer Zeit und sagt: „Wenn Venja möchte, kann sie erst mal mit den Zwillingen für ein paar Tage zu uns kommen. Mama kümmert sich in der Zwischenzeit um deinen Haushalt. Was meinst du?“

„Keine gute Idee“, wendet Synthia leise ein. „Ich denke, Venja und Tove müssen das gemeinsam aufarbeiten. Sie braucht jetzt vor allen Dingen ihren Mann. – Du meinst es sicherlich von Herzen gut, Matti, aber …“

„Können wir bitte ins Bett gehen, Tove?“, steht plötzlich Venja unvermittelt wieder im Raum.

Ich schaue flüchtig in die Runde des Besuchs und verabschiede mich wortlos. Nicht nur Mama und Paps haben verstanden.

Keine fünf Minuten später liegen wir im Bett. Meine Frau hat sich in meine Arme geflüchtet und weint leise. „Ich hätte doch noch an dem verhängnisvollen Tag zu ihr hoch gehen sollen“, schnieft sie und dreht sich unbeholfen zu mir um. „Nun sind wir im Streit auseinandergegangen.“

„Streit würde ich das nicht nennen“, flüstere ich und kraule meiner Frau den Rücken. „Karin hat es ja selbst erkannt und ausgesprochen. Ihr beide kommt aus verschiedenen Welten. Ich war es schließlich, der euch beide zu diesem Treffen gedrängt hat. Meine stille Hoffnung war, ihr würdet auf einer sachlichen Ebene miteinander sprechen können. Eure emotionalen Belastungen eurer Beziehung hatte ich total unterschätzt.“ – „Venja, mein Schatz, in den nächsten Tagen erhalten wir Post. Karin hat Erika einen Brief diktiert. Deine Schwester war schon zu schwach, selbst zu schreiben. Was drin steht, durfte mir Erika nicht sagen. Nur eine Sache. Maja ist auch bei ihnen und damit auch bei den Kindern. Du erkennst also, dass auch das in liebvoller Weise gelenkt worden ist. Lass uns beten, mein Liebling.“

* * * sechs Tage später * * *

Unsere großen Kinder sind in der Schule und im Kindgarten. Eben hat der Postbote den angekündigten Brief gebracht. Caja und Emmi schlafen im Laufstall. Meine Frau und ich sitzen nebeneinander auf dem Sofa.

„Liebe Venja, lieber Tove“, beginne ich, vorzulesen. „Meine Zeit ist gekommen. Ich spüre, dass mein Ende nicht mehr weit weg ist und ich endlich von meinen Leiden erlöst werde. Doch bevor ich diese irdische Welt verlasse, möchte ich meinen Frieden mit dir schließen, meine liebe Schwester Venja. Vielleicht ist es die Sentimentalität des nahen Todes, mit mir und dem Rest im Reinen sein zu wollen.

Venja, es war richtig, dass dein Mann darauf gedrängt hat, uns noch einmal lebend gesehen zu haben. Ich kann nun nämlich mit der beruhigenden Gewissheit gehen, dich in guten Händen zu wissen. Auch wenn es für dich unglaublich klingen mag, aber du warst mir immer das liebste Geschwister von allen. Doch ich will nicht weiter in alten Geschichten graben. Du sollst nur wissen, dass ich dich all die Jahre sehr vermisst habe. Aber ich hatte keine Kraft, den Kontakt zu dir zu finden. Mann, Kinder und Hof haben mich 24 Stunden am Tag gefordert.

Sei gewiss, Venja, ich bin dir nicht gram. Im Gegenteil. Ich habe damals deinen Mut bewundert, und tue es heute immer noch, dich gegen Opa gestellt zu haben und im wahrsten Sinne des Wortes bei Nacht und Nebel gegangen zu sein. Du warst einfach am nächsten Morgen zum Stallausmisten nicht mehr da.

Heute ist es für mich unerheblich, wie du das gemacht hast. Wichtig ist nur, du hast es geschafft, dich von diesem alten herrschsüchtigen Familienregenten nicht weiter unterdrücken zu lassen. Ich hatte nie die Kraft, mich gegen ihn oder Mama zu stellen. Im Gegensatz zu dir war ich in der Schule nicht besonders gut und bekam deswegen keine Lehre, sondern einen gewalttätigen Mann, dem ich möglichst schnell viele Kinder gebären musste. Doch nach Nummer Vier, unserer Franziska, war Schluss. Ich bekam erst Brustkrebs, dann Gebärmutterkrebs. Danach ging es mit meiner Gesundheit nur noch in eine Richtung. Weitere Organe wurden befallen. Aber meinen Mann interessierte es nicht. Ich war nicht mehr gut für Sex und Arbeit. Also nahm er sich einfach eine neue Frau. Obwohl ich noch im Haus lebte.

Dann musste er eines Tages zur Landwirtschaftskammer nach Graz. Mein Tag war gekommen und ich schnappte mir die wichtigsten Sachen, die ich schon vor Monaten begonnen hatte, heimlich zusammenzusuchen. Nur der Pfarrer war mein Verbündeter. Die Kinder holte er unter einem Vorwand aus dem Unterricht und fuhr uns zum ausgemachten Ziel, Berchtesgaden. Zuhause hatte ich noch von der Bank eine übergroße Summe Geld vom Konto geholt, damit ich für eine Zeit unabhängig sein konnte. Mein Mann wollte einen neuen Schlepper kaufen. Also log ich, das Geld für die Anzahlung zu benötigen. So war es vertraglich ausgemacht und mit der Bank abgesprochen.

Ganz zum Schluss, bevor ich dem Hof für immer den Rücken kehrte, stellte ich im rein aus Holz gebauten Heuschober nicht nur eine brennende Kerze zwischen die Ballen. Im Haus verschüttete ich mehrere Flaschen Lampenöl. Auf den Gasherd stellte ich einen kleinen Topf, randvoll mit Benzin, und entzündete die Flamme darunter. Den Rest würden Gasgemisch, Öl und Benzin für mich erledigen. So hatte ich es mir im Internet herausgesucht.

Wir waren vielleicht eine Stunde fort, als im Radio die Meldung kam, ein Hof im Kanton Graz würde lichterloh brennen. Das Wohnhaus sei aus bisher unbekannter Ursache regelrecht explodiert. Nur das Vieh auf der Weide wäre übrig geblieben. Vom Bauern und seiner Familie fehle jede Spur. Doch noch könne niemand in die lodernden Ruinen, um nachzuschauen.

Erst als wir in Sicherheit waren, rief der Pastor unter falschem Namen aus einer Telefonzelle in Deutschland bei der Kantonspolizei an und teilte ihnen mit, wo der Bauer sich aufhalten würde. Frau und Kinder befänden sich ebenfalls an einem sicheren Ort. So viel hatte ich noch mitbekommen. Dann setzten wir uns in einen Zug und fuhren nach Hamburg. Dass mein Mann uns so schnell ausfindig machen konnte, lag wohl am Alkohol, den unser Pastor gern trinkt und dann sehr redselig wird.

Doch es war nicht dein Mann, Venja, sondern eure treue Hündin Stella, die ihm sehr schmerzhaft beigebracht hat, was es bedeutet, wehrlos zu sein.

Ich hatte auch schon sehr bald nach dem niederschmetternden Ergebnis meiner Untersuchungen beschlossen, meine Kinder in die Obhut einer Familie zu geben, in der sie gut aufgehoben sein würden. So kam ich über Umwege an die Familie in Norwegen. Die genauen Umstände spielen heute keine Rolle mehr. Ihr sollt nur wissen, es ist ein junger Arzt mit seiner Frau und ihrer dreijährigen Tochter auf den Lofoten. Meine Kinder dürfen dort aufwachsen und in ihr Leben zurückfinden. Nur noch Maja weiß davon. Alle Unterlagen und Hinweise auf den Verbleib der Kinder sind in der Scheune gewesen und verbrannt. Ich weiß, dass ich Brandstiftung begangen habe. Aber wenn ihr diesen Brief in Händen haltet, habe ich meine Augen für immer geschlossen und kann nicht mehr belangt werden.

Mir ist auch bewusst, meine Kinder entführt zu haben. Doch du, Tove, hast sie selbst gesehen. Ich denke, du weißt, dass glückliche Kinder anders aussehen. Wenn ihr nichts sagt, wird Gustav nie erfahren, wo seine Kinder abgeblieben sind. Ich werde eingeäschert und der See übergeben. Die norwegischen Behörden wissen um die Probleme und haben in meine lange Krankenakte Einsicht genommen. Sie wissen um die Gewalt in der Ehe, die Vergewaltigungen an mir, die Prügel, welche die Kinder eingesteckt haben. Maja hatte mir geholfen, das alles in die Wege zu leiten. Sie ist ebenfalls in der Familie untergekommen und wird in der ersten Zeit im Haushalt helfen. Danach will sie schauen, ob sie arbeiten darf und eine Stelle findet.

Liebe Venja, ich wünsche dir für dein Leben und deine Vorhaben alles erdenklich Gute. Ja, auch ich habe alle deine Bücher nicht nur gelesen, sondern verschlungen. Es ist aus deinen Worten zu erkennen, wie sehr du deinen Mann und deine Familie liebst; und wie glücklich du als Bergziege im hohen Norden geworden bist.

Tove, dich zu bitten, meine kleine Schwester gut zu behandeln, brauche ich nicht. Nur einen letzten Wunsch habe ich an dich. Wenn du eines Tages einmal die Kraft haben solltest, nimm Kontakt zu meinen Kindern auf. Die Adresse findest du am Ende des Briefes. Und wenn du keine Kraft dafür hast, so ist es auch gut. Fühle dich nicht unter Druck gesetzt.

Nun lebt wohl und behaltet euch eure Liebe zueinander und zu euren Kindern. Ich liebe dich, Venja. Auch wenn ich es nie wirklich zeigen konnte. Mit guten Gedanken an euch erbitte ich von Gott eine baldige schmerzlose Erlösung.

Karin


Lange Minuten starren wir beide auf den Brief, der vor uns auf dem Tisch liegt. Beinahe liebevoll greift Venja danach und streicht zart über den Bogen. „Ich hab dich auch lieb, Karin“, wispert sie mit zitternder Stimme und lehnt sich bei mir an. Ihr reicht es im Moment, wenn ich ihr eine Stütze bin. Das spüre ich.

Keine Stunde später stehen meine Eltern in der Tür. Haben sie geahnt, dass wir sie gerade jetzt sehr gut gebrauchen können? Paps holt seine Tochter in die Arme und schmiegt sie väterlich liebend an sich. Mama hält meine Hand und knetet sie sanft.

Als auch sie beide den Brief gelesen haben, legt sich auf Mamas Gesicht ein friedvolles Lächeln. „Venja, mein Schätzchen“, wispert sie und nimmt sie in die Arme, „nun weißt du, dass ihr euch nicht im Zorn getrennt habt. Seinerzeit wart ihr verletzt und Karin von den Ereignissen immer noch gebeutelt. Sie ist in Norwegen zur Ruhe gekommen. Sie hat die Zeit genutzt, ihr Leben noch einmal zu überdenken. Nun ist sie gestorben. Aber mit dem Wissen, keine Fragen für sich offengelassen zu haben.“ – „Freue dich, Venja. Sie hat dich geliebt und ist von ihren Leiden erlöst. Karin hat sogar deinem Mann angeboten, mit ihren Kindern Kontakt aufzunehmen. Mag sein, dass ich jetzt weit über das Ziel hinausschieße, aber wäre es nicht eine aufregende Reise zu den Lofoten mit eurer Zenzi?“

* * * Zwei Monate später * * *

Die Tour nach Wittenberg hatte sich in mehrfacher Hinsicht gelohnt. Meine Frau fand durch viele intensive Gespräche mit meinen Eltern zurück zu ihrem Ruhepol. Karins Tod belastet sie nicht mehr. Venja hat tatsächlich auch ihren Frieden mit sich und ihrer Schwester geschlossen.

Nicht selten hatte sie sich dafür auf ihre Inspirationsinsel zurückgezogen und ließ sich am Bug nicht nur den Wind um die Nase und durch die Haare wehen. Wie dankbar ich Sippo bin, ihr diesen wundervollen Platz gebaut zu haben, kann ich kaum in Worte fassen. Denn meine Frau hat sogar die Kraft gefunden, ihre Gedanken zum Verlust der Schwester und unserer Reise in ersten Worten festzuhalten. Das, was ich bisher lesen durfte, wird sich von ihren anderen Büchern abheben. Begonnen hat sie es mit der Zeit ohne unsere Zenzi und deren Verjüngungskur. Mir ist auch aufgefallen, dass sie nicht wie sonst kontinuierlich schreibt, sondern einzelne Begebenheiten zu Pfeilern formt, die sie anschließend mit feinen Gedankenfäden verbindet. Besonders aber hat mich überrascht, dass unser Fritz ebenfalls lesen darf und seine Wahrnehmungen der Ereignisse zu Papier bringt. Zwischen ihm und seiner Mutter sind schon manchen Abend konstruktive Gespräche geführt worden.

Seiner Beharrlichkeit haben wir es ebenfalls zu verdanken, dass wir in ein paar Wochen jenen langen Weg mit Zenzi antreten werden, den meine Mutter mehr aus einer Laune heraus vorgeschlagen hatte. Wir reisen in den Sommerferien mit Zenzi nach Norwegen.

Was uns erwartet?

Das kann niemand von uns vorhersagen. Aber in einer Sache sind Venja und ich uns ganz sicher. Unser Fritz hat in dieser Beziehung sehr feine Antennen. Er weiß aus dem Instinkt heraus, warum er bestimmte Dinge will und diese auch durchsetzt. Wir haben uns nicht gegen ihn gestellt. Überzeugt haben uns wenige Sätze.

„Ich habe Cousinen und Cousins. Die will ich kennenlernen. Denn sie sind auch meine Familie. Ich bin ein Wikinger. Aber die Bergziegen gehören auch zu mir. Mama, du bist auch eine. Du hast selbst einmal gesagt, Wikinger halten den Clan zusammen und Bergziegen kümmern sich auch um fremde Lämmer. Darum will ich da hin. Weil wir auch für sie ein wenig Verantwortung haben.“

Fritz hat recht. Die Zeit ist reif. Wir haben der Familie nach Norwegen geschrieben und eine freudige Einladung erhalten. Lösen wir also auch Karins letzten Wunsch ein, mit ihren Kindern Kontakt aufzunehmen. Auf diese Weise schließen wir nun doch Frieden mit einem Teil der Familie.

(1) Finnisch: Mein Bruder

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